Kosyrew / Düring | Leningrad. | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

Kosyrew / Düring Leningrad.

Ein satirischer Kurzroman. Herausgegeben von Michael Düring.
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-529-08709-7
Verlag: Wachholtz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein satirischer Kurzroman. Herausgegeben von Michael Düring.

E-Book, Deutsch, 264 Seiten

ISBN: 978-3-529-08709-7
Verlag: Wachholtz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In diesem neu zu entdeckenden Roman gerät der namenlose Ich-Erzähler vom Anfang des 20. Jahrhunderts durch eine Zeitreise in das ihm fremde Leningrad der 1950er-Jahre. Allerdings hat er den Weltkrieg ebenso »verschlafen« wie die Russische Revolution. Dadurch fällt sein Vergleich der »alten« Zeit mit der fiktiven Gegenwart der 50er-Jahre besonders deutlich aus. Er bewegt sich wie ein Fremder im eigenen Land, in dem der Bestohlene aufgrund ihres »Reichtums« verurteilt werden und Diebe aufgrund ihres proletarischen Hintergrundes straffrei bleiben. Vor dem Auge des Lesers entsteht das Zerrbild einer zukünftigen Gesellschaft, das damals im Entstehen war und bis heute in eine beängstigende Gegenwart Russlands hinein wirkt: Die Presse existiert lediglich zu Propagandazwecken, die Kultur ist zensiert und uniformiert, die Gesellschaft ist auf Lüge und Doppelmoral aufgebaut, und die Menschen versuchen, in dieser »verkehrten Welt« jeder auf seine Weise und nach seinem Verstand zurechtzukommen. Mit Leningrad hat Michail Kosyrew vor genau100 Jahren einen bemerkenswerten negativen Staatsroman und zugleich einen prophetischen Text verfasst. Er geriet ab Mitte der 1920er-Jahre ins Visier der Kulturpolitik, in den 1930er-Jahren wurde er seiner Publikationsmöglichkeit beraubt, und 1942 starb er in Haft in Saratow an der Wolga, vermutlich in einem Gefängnishospital.

Der russische Schriftsteller MICHAIL KOSYREW (1892-1942) zählt mit seinem satirischen Roman 'Leningrad' (1925) zu den fortschrittlichen und systemkritischen Schriftstellern der frühen Sowjetunion, neben Jewgenij Samjatin oder Andrej Platonow. Kosyrew Leningrads-Roman reiht sich ein in den großen Strom der russischen St. Petersburg-Petrograd-Leningrad-Literatur von Fjodor Dostojewski über Alexander Blok bis zu Olga Martynowa.
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EINFÜHRUNG.
MEINE BIOGRAPHIE


In zwei Wochen werde ich schon nicht mehr unter den Lebenden weilen. Die Wände meines Gefängnisses sind hart, die Gesetze des Staates sind streng, die Exekutoren handeln mit der Gründlichkeit und Mitleidslosigkeit einer Maschine. Ich habe keine Hoffnung auf Flucht oder Begnadigung, sondern nur eine Frist von zwei Wochen, um die Geschichte meines Verbrechens niederzuschreiben. Diese Geschichte wollen sie in einer Auflage von einigen Millionen Exemplaren als unumstößlichen Beweis dessen veröffentlichen, dass jeder Versuch zum Sturz der bestehenden Ordnung zum Scheitern verurteilt ist.

Ich habe mich bereits verpflichtet, mich von meinen Verirrungen loszusagen und denke, dass dies meine Arbeit vom Kontakt mit dem Stift des Zensors fernhält: Im Weiteren werde ich mich ausschließlich von dem Bedürfnis zu größtmöglicher Genauigkeit bei der Beschreibung der Ereignisse leiten lassen, mit denen mein zu langes und an Eindrücken reiches Leben endete.

Ich bin Arbeiter in der Fabrik »Nowyj Ajwas«, die sich auf der Wyborger Seite unweit der Station Lesnaja befindet. Diese Bezeichnungen sagen meinen Lesern vielleicht nichts, aber an die neuen Benennungen konnte ich mich nicht gewöhnen, und jetzt habe ich nicht die Zeit und Möglichkeiten, die entsprechenden Informationen einzuholen. Mag doch der Leser, der in Freiheit ist, dies für sich selbst erledigen.

Ich begann als dreizehnjähriger Junge in der Fabrik zu arbeiten. Anfangs waren meine Tätigkeiten sehr einfach: Ich hatte die Werkstatt zu fegen und dem Meister Wodka zu besorgen. Aber im Alter von 27 Jahren, als die Katastrophe hereinbrach, über die noch zu reden sein wird, hatte ich bereits die Stellung eines Obergesellen. Meinen Leser mag eine solche Karriere verwundern, aber in der damaligen Zeit war der Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen einfacher als heute, insgesamt also schien mir das Schicksal wohlgesonnen. Bereits im Alter von vierzehn Jahren war ich zudem mit dem Genossen Korschunow zusammengetroffen, damals Student des Technikums, und dank seiner Bemühungen, aber auch wegen meiner Beharrlichkeit und meiner Fähigkeiten, hätte ich es, wie man damals sagte, wirklich zu etwas bringen können.

Aber irgendwie gelang mir dies nicht, auch wenn es eine Zeit gab, in der ich versuchte, alles dafür zu tun: So wollte ich das Examen zur Erlangung der Hochschulreife ablegen, um in das polytechnische Institut einzutreten, aber dieser Versuch misslang. Der Sankt Petersburger Stadthauptmann weigerte sich kategorisch, mir ein Zeugnis über meine politische Zuverlässigkeit auszustellen – und was das bedeutet, das weiß wohl jeder. Irgendwie hatte er aber auch Recht.

Es geht darum, dass mein Lehrer, späterer enger Freund und Genosse Korschunow – ich nenne seinen wirklichen Namen nicht, weil er heute einer der bekanntesten ist – eines der führenden Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei war, die ja auf den Sturz der damaligen Ordnung hinarbeitete. Er hatte mich für die Parteiarbeit gewonnen, und so wurde ich während der Revolution des Jahres 1905 , fast noch ein Junge, wegen der Teilnahme an einer nicht genehmigten Demonstration arretiert und leistete der Polizei während der Festnahme sogar Widerstand. Diese Tatsache und der anschließende Prozess wurden in der Geschichte der revolutionären Bewegung ausführlich beschrieben, so dass ein kluger Leser dazu selbst Erkundigungen einholen kann. Die Sache ging für mich letztlich zwar glimpflich aus, aber meine politische Zuverlässigkeit hatte ich für immer verloren.

Doch dieser Misserfolg auf juristischem Terrain trug dazu bei, dass ich mich endgültig der Parteiarbeit zuwandte. Im Verlaufe der vier der Katastrophe vorangehenden Jahre war ich Mitglied des Parteikomitees, aktiver Agitator, aktiver Mitarbeiter der Parteizeitung sowie für die Organisation von Gewerkschaften und Krankenkassen zuständig. Als Strafe für diese Tätigkeit unterlag ich nicht nur einmal Repressionen, saß auf dem Revier, in den für die damalige Zeit berüchtigten »Kreuzen« und wurde nacheinander in die Heimat nach Archangelsk und schließlich nach Sibirien verbannt.

Aus Sibirien konnte ich fliehen und setzte, nachdem ich nach Sankt Petersburg zurückgekehrt war, meine illegale Tätigkeit in der schon erwähnten Fabrik »Ajwas« fort, wo man mich als Schlosser eingestellt hatte. Zur Erklärung dieser aus heutiger Sicht unwahrscheinlichen Tatsache muss ich daran erinnern, dass die bürokratische Maschinerie damals noch nicht so geölt lief wie heute: Manchmal flohen Insassen am Vorabend ihrer Todesstrafe aus dem Gefängnis, und es stellte keine besondere Schwierigkeit dar, einen gefälschten Pass zu erhalten und sich mit diesem in einer Fabrik zu bewerben.

Ich gelangte just um den ersten Mai nach Sankt Petersburg, nahm sofort Kontakt mit meiner Organisation auf und wirkte bei der Vorbereitung des Feiertages mit. An die zwei Wochen, die ich seit meiner Rückkehr aus Sibirien bis zur schicksalhaften Katastrophe in Sankt Petersburg verbrachte, denke ich bis heute sehr gern zurück und halte sie für die schönste Zeit meines Lebens. Gezwungen, vor der großen Kundgebung unauffällig abzuwarten, trafen meine Genossen und ich uns abends im Zimmer eines Studenten, der irgendwo am Prospekt Schtschadrina wohnte – und damit in einem Viertel, in das sich die Polizei nur selten verirrte. Dort verliebte ich mich zum ersten Mal, leider vollkommen hoffnungslos, in eine Studentin mit blonden Locken und blauen Augen. Ich muss allerdings zugeben, dass ich, seit frühester Kindheit ohne weibliche Gesellschaft aufgewachsen, in der Rolle des Verliebten bis zur Lächerlichkeit schüchtern und naiv war. Wenn sie sich mit irgendwelchen Fragen an mich wandte, starrte ich nur auf den Gegenstand meiner Leidenschaft und errötete. Aber was konnte man auch von einem Menschen erwarten, für den das Wort ›Wiedersehen‹ nur die Erinnerung an ein Gefängnisgitter hervorrief, nicht aber an ein Treffen mit einem geliebten Wesen? Daher werde ich das Subjekt meiner Leidenschaften hier auch nicht näher beschreiben; nur so viel, sie hieß Marusja, der Student – und zugleich mein beneidenswerter Konkurrent – nannte sie Mary.

Die Abende verbrachten wir mit angeregten Gesprächen, deren Thema natürlich das neue Leben war, für das wir kämpften. In welch rosigen Farben stellten wir uns dieses neue Leben vor! Wir zweifelten nicht daran, dass alle ökonomischen Widersprüche beseitigt würden; wir zweifelten nicht daran, dass es in der neuen Gesellschaft keinen Hunger, keine Kälte, keine Not mehr geben werde – aber wir beschäftigten uns damals auch mit anderen Fragen: Familie, Ehe, Liebe – das interessierte uns. Werden in diesem glücklichen, gemeinschaftlichen Leben die komplizierten menschlichen Beziehungen, die wir Liebe nennen, in Ordnung gebracht werden können?

»Freie Liebe« – so heißt es in der Theorie. Na ja, aber was ist mit der unglücklichen Liebe? Gibt es sie auch? Und wenn es sie gibt – wo ist dann das vollkommene Glück? Alle Versuche, diese Fragen auf der Basis der materialistischen Weltanschauung zu lösen, scheiterten. Offenbar gab es einen Fehler in der Weltanschauung, das aber wollten wir uns nicht eingestehen. Wenn der Leser dann noch berücksichtigt, dass von den Streitenden drei verliebt waren, und davon einer ganz sicher hoffnungslos, dann wird er verstehen, warum unsere Streitgespräche so lang, erregt und fruchtlos waren.

Nur Korschunow nahm an diesen Gesprächen nicht teil. Er zog es vor, in einer Ecke sitzend, ruhig seinen Tee zu trinken. Nur manchmal offenbarte er mit einem kaum merklichen Lächeln seine eigenen Gedanken.

»Und was denken Sie?«, fragten wir ihn einmal.

Er lachte und antwortete:

»Ich denke, das alles ist leeres Geschwätz.«

Wir widersprachen ihm heftig, doch er entgegnete nur:

»Wir können über die Zukunft nichts wissen.«

»Aber wofür kämpfen wir dann?«, rief ich aus.

»Wir können uns doch nicht wünschen, wovon wir nichts wissen«, unterstützte Mary mich.

»Wir kämpfen für neue ökonomische Verhältnisse«, antwortete Korschunow, »und dann werden wir sehen, was auf dem Boden dieser neuen Verhältnisse wächst. Unsere Sache ist der Kampf.«

Diesen Worten entnahm ich, vielleicht aber auch die anderen, so etwas wie einen Vorwurf. Ihr befasst euch mit leerem Geschwätz und vergesst dabei das Wichtigste! Das Gespräch wandte sich anderen Themen zu, in unseren Seelen jedoch blieb ein schaler Nachgeschmack.

  1. 9Nicht nachweisbare Fabrik (›nowyj‹ = ›neu‹); allerdings könnte damit der Vorläufer der Fabrik ›Krasnyj Oktjabr‹ (›Roter Oktober‹) gemeint sein, die sich in der Nähe der Metrostation Lesnaja befindet.

  2. 10Nikolaj Owsjannikow verweist in seinem Beitrag »Revoljuzionnye pochoschdenija ›Suchoj korotschki‹« (»Zur revolutionären Herkunft des Liedes ›Suchaja korotschka‹«), in: Alef. Eschekwartalnyj meschdunarodnoj ewrejskij schurnal (Alef. Internationale jüdische Vierteljahresschrift) (http://www.alefmagazine.com/pub3033.html; aufgerufen am 24. März 2024) auf ein mögliches extradiegetisches Vorbild für den Protagonisten Korschunow, den Revolutionär und...



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