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E-Book, Deutsch, 362 Seiten

Kraemer / Münnich Ökonomischer Nationalismus

Soziologische Analysen wirtschaftlicher Ordnungen

E-Book, Deutsch, 362 Seiten

ISBN: 978-3-593-44250-1
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der europäische Integrationsprozess, Migrationsbewegungen, internationale Arbeitsteilung, die Warenmärkte und Kapitalströme sind Belege für den Öffnungsprozess, den wir mit dem Begriff Globalisierung verbinden. In jüngerer Zeit ist jedoch ein Erstarken von Rechtfertigungen zu beobachten, die 'das Nationale' als Leitunterscheidung sozialer Ordnungen wieder aufwerten. Die Autorinnen und Autoren des Bandes fragen, welche Bedeutung 'Nation' und 'Nationalismus' für die soziologische Analyse von Wirtschaftsordnungen haben.

Mit Beiträgen u.a. von Jürgen Beyer, Katharina Bluhm, Cornelia Koppetsch und Tobias Werron.
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Wettbewerb und Nation – Überlegungen zum Problem des Begriffs »Wirtschaftsnationalismus«
Dieter Reicher Die Erforschung dessen, was »Wirtschaftsnationalismus« bedeuten könnte, ist an zwei Schwierigkeiten gebunden. Die erste Schwierigkeit ist von analytischer Natur. Sie umfasst eine Begriffsproblematik und die Frage, ob das sprachliche Konzept »Wirtschaftsnationalismus« überhaupt ein brauchbares Instrument der Analyse darstelle. Als ein solches wird »Wirtschaftsnationalismus« in einigen Publikationen als quasi-objektiver und technisch-wissenschaftlicher Begriff verwendet. Dort meint er einerseits protektionistische Maßnahmen, die einem liberalen Freihandelsideal entgegenstehen, insofern dafür »nationale« Gründe ins Spiel gebracht werden. Andererseits wurde auch das Konzept des sogenannten »liberalen Wirtschaftsnationalismus« in ergänzender Weise eingeführt, um solche Politiken zu klassifizieren, die gerade in umgekehrter Weise Forderungen nach Freihandel ihrerseits wiederum »national« legitimieren (vgl. Helleiner 2005; Pickel 2005; Clift/Woll 2012; Callaghan/Hees 2017). Beides ist allerdings problematisch. »Wirtschaftsnationalismus«, mit welchen Adjektiven auch immer versehen, ist nämlich kein wertneutraler Begriff. In ihm verstecken sich stets unterschiedliche, vielschichtige und normativ aufgeladene Sinngehalte. Darüber hinaus erfasst der Begriff des »Wirtschaftsnationalismus«, wie auch ähnliche sprachliche Konzepte, bloß einen selektiven Ausschnitt der Menge von »national« gefärbten Wir-Bezügen, die empirisch in Zusammenhang mit »wirtschaftlich« gedachten Themengebieten vorliegen. Der soziologisch relevante Tatbestand besteht dabei bereits darin, zu untersuchen, wie und warum diese semantische Selektion vorgenommen worden ist. Das bedeutet, eine soziologische Untersuchung von Sachverhalten, die unter dem Begriff des »Wirtschaftsnationalismus« subsumiert werden soll, soll zunächst einerseits seine standortbezogene Normativität und andererseits seine intendierte Selektivität rekonstruieren. Ich schlage vor, »Wirtschaftsnationalismus« bloß als einen subjektiven Praxisbegriff zu verstehen und diesen ausschließlich aus einer emischen Perspektive zu betrachten. Darüber hinaus sollen solche subjektiven Bedeutungsinhalte als relationale Größen von Sprechakten interpretiert werden, die Bestandteile eines konkreten »sozialen Feldes« (Bourdieu 1996) oder einer »Figuration« (Elias 2006) darstellen. Der heuristische Mehrwert des Konzepts »Wirtschaftsnationalismus« erschließt sich somit nur aus dem Verstehen seiner jeweils pragmatischen Anwendung. Welche Individuen, Gruppen oder wirtschaftspolitischen Programme werden von wem, warum, unter welchen Bedingungen als »nationalistisch« etikettiert? Bzw. wer definiert, warum und wann den eigenen wirtschaftspolitischen Standpunkt als »antinationalistisch«? Welche weiteren »national« gefärbten Bezüge, die allerdings nicht mit diesem Begriff etikettiert werden, verbinden sich noch irgendwie mit wirtschaftspolitischen Diskursen? Warum werden diese in der Regel nicht als »Wirtschaftsnationalismus« kategorisiert? Welche strategischen Interessen sind mit dieser Begriffspraxis verknüpft? Die zweite Schwierigkeit in der Untersuchung dessen, was unter »Wirtschaftsnationalismus« fallen könnte, ist an die »etische« Perspektive der Forscher gebunden. Sie ist von synthetischer Natur. Wie werden die real existierenden Zusammenhänge zwischen Wettbewerbskonstellationen, sozialem Standpunkt im »Feld« oder in der »Figuration« und empirisch erfassbarer »nationaler« Wir-Bezüge modelliert? Hinsichtlich dieser zweiten, synthetischen Schwierigkeit wird vorgeschlagen, sowohl innerstaatliche Gruppenbeziehungen, wie auch zwischenstaatliche Konkurrenz als veränderbare und miteinander verzahnte Statushierarchien zu verstehen. An diesem Punkt möchte ich Norbert Elias folgen und diese zwei Formen von Statushierarchien als geschichtete Mehrebenen-Figurationen auffassen (vgl. ebd.). Einerseits bestehen auf der Ebene einer nationalstaatlich definierten Ordnung zwischen Statusgruppen (das können etwa Milieus, Klassen, Bildungsschichten, Regionen, ethnischen Gruppen, Religionsgemeinschaften, Generationen oder Geschlechter sein) mehr oder weniger ungleiche Machtbalancen. Andererseits bilden sich auch auf einer höheren figurativen Etage, auf der Ebene zwischenstaatlicher Rivalität, ebenfalls Beziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern heraus. Das bedeutet, dass auch internationale Machtungleichheit zu Figurationen ungleicher Wir-Gruppen führt, die in irgendeiner Weise Statusaspirationen an »Erfolg« oder »Misserfolg« im zwischenstaatlichen Konkurrenzkampf knüpfen. Folgt man Elias (2014) in seiner Weiterentwicklung von Webers Konzepts des Charismas, sind derartige Machtunterschiede zwischen großen, abstrakten Einheiten, wie z.?B. Staaten – vor allem wenn sie »national« aufgefasst und mit einem »Wir« versehen werden – mit Gruppencharisma oder Gruppenschande verbunden. Statuseigenschaften derartiger Großeinheiten können unter solchen Umständen sogar auf die Persönlichkeitsstruktur (Habitus) ihrer Mitglieder abfärben. Derartige Wir-Gruppen, die prestigemäßig ihre Position irgendwie »national« definieren und damit in ein internationales Konkurrenzgeflecht gebunden werden, können äußerst unterschiedlicher Art sein. Sie reichen von politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, künstlerischen, sportlichen Eliten bis zu Akteuren in den Massenmedien. Sie umfassen allerdings vor allem diverse breitere Bevölkerungssegmente, die an ein nationales Prestige-Denken orientiert sind. Modelle von Mehrebenen-Figurationen legen also nahe, innerstaatliche Statuskonkurrenz nicht isoliert von der Tatsache internationaler Beziehungen zu verstehen. Damit steht diese Sichtweise dem vorherrschenden soziologischen Paradigma gegenüber. Dieses blendet nämlich internationale Staatenkonkurrenz und Geopolitik zumeist aus ihrem Analyse-Rahmen aus und tendiert zur Modellierung »reiner« inner-gesellschaftlicher Statusgruppen- oder Klassenbeziehungen. Sie ignoriert damit auch die Tatsache einer gegenwärtigen Welt, die sich in politischer Hinsicht in Nationalstaaten strukturiert. Der hier vertretene Blickwinkel einer Mehrebenen-Figuration sprengt allerdings auch den Rahmen einiger Ansätze des politikwissenschaftlichen Faches Internationale Beziehungen (IB). Hier vertritt vor allem der sogenannte Realismus die Auffassung, internationale Beziehungen bloß als eine Figuration zwischen Regierungen, die als rationale Akteure gedacht werden, zu begreifen. Dieser Realismus blendet nun seinerseits die innerstaatlichen Prozesse aus und behandelt diese, aus der Sicht einer arbeitsteiligen Pragmatik, als soziologische Probleme ohne weitere Relevanz für die eigene Untersuchung (vgl. Reicher 2004). Gemäß dieser Problemstellung folge ich in einem ersten Schritt dem Vorschlag von Elias, die Formierung von Staaten als »Überlebenseinheiten« unter Konkurrenzbedingungen zu begreifen. In einem zweiten Schritt soll klar gemacht werden, dass ein substantialistisches und essentialistisches Verständnis von Nation heuristisch wertlos ist. Dagegen wird hier vorgeschlagen werden, »Nationen« auch als kommunikative Gemeinschafts-Tools im Rahmen relationaler Sprechakte zu verstehen. In einer solchen Form treten sie entweder als nationale Wir-Ideale, die auf einen Topos von »Kultur« verweisen oder als kulturalistisch »leerer« Wir-Bezüge in Erscheinung. In einem dritten Schritt möchte ich Vorgänge der Diffusion nationaler Wir-Bezüge innerhalb des staatlichen Ordnungsrahmens nachzeichnen, die hier als Prozesse der Nationalisierung und als Zustand der Wir-Krise bezeichnet werden. In einem vierten Schritt werden die verzahnten Zusammenhänge zwischen äußerer (»internationaler« oder »geopolitischer«) und innerer (Klassen- und Statusgruppen-bezogener) Verschiebungen von Machtbalancen anhand konkreter historischer Epochen untersucht. Hier soll gezeigt werden, wie Zustände anhaltender stabiler Machtbalance Prozesse der Nationalisierung und solche labiler Machtbalancen nationale Wir-Krisen hervorrufen können. In einem fünften Schritt werden aufbauend auf dieser Basis sowohl der Begriff »Wirtschaftsnationalismus«, wie auch die damit gemeinten Sachverhalte adäquat untersucht werden können. Schlussendlich wird gezeigt, dass eine solche Studie über den »Wirtschaftsnationalismus« eine aufschlussreiche Bewertungsgrundlage für den allgemeinen Zustand der nationalstaatlich ...


Klaus Kraemer ist Professor für Angewandte Soziologie an der Universität Graz.
Sascha Münnich ist Juniorprofessor für International Vergleichende Soziologie an der Universität Göttingen.


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