E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Kraus Ehrgeiz, Demut, Glück
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7518-9017-5
Verlag: August Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Texte zu Kunst und Freundschaft
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-7518-9017-5
Verlag: August Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Chris Kraus, 1955 in New York City geboren, ist Filmemacherin und Autorin. Index nannte sie »eine der subversivsten Stimmen der amerikanischen Literatur«. Ihre Arbeit wurde für ihre vernichtende Intelligenz, Verletzlichkeit und ihr grelles Tempo gelobt. Bei Matthes & Seitz erschien zuletzt ihr Roman I Love Dick.
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EHRGEIZ, DEMUT, GLÜCK
Dieses Gespräch erschien ursprünglich aus Anlass von The Shelf Project für eine Broschüre der Baltischen Triennale im Contemporary Art Centre (CAC) in Vilnius. Die Kuratorin Justina Zubaite hatte uns, Hedi El Kholti und Chris Kraus, eingeladen, einige unserer Lieblingsbücher auszuwählen und sie als Teil einer größeren Ausstellung zu präsentieren. Wir entschieden uns für 35 Bücher und sprachen dann über einige von ihnen. The Shelf Project bestand aus den folgenden 35 Titeln:
Alles zerfällt von Chinua Achebe
Zwanzig Jahre sozialer Frauenarbeit in Chicago von Jane Addams
Vater Goriot von Honoré de Balzac
SauErde von John Berger
Die tote Gemeinde von Georges Bernanos
Telefongespräche von Roberto Bolaño
Zwei sehr ernsthafte Damen von Jane Bowles
Insensatez von Horacio Castellanos Moya
Leben und Denken wie die Schweine von Gilles Châtelet
Das nackte Brot von Mohamed Choukri
Die Schlampen von Dennis Cooper
Journal d’un innocent von Tony Duvert
Meine geniale Freundin von Elena Ferrante
Airless Spaces von Shulamith Firestone
Dem neuen Sommer entgegen von Janet Frame
Koma von Pierre Guyotat
The End of a Primitive von Chester Himes
Torpor von Chris Kraus
Three Month Fever von Gary Indiana
Notice von Heather Lewis
Fous d’Artaud von Sylvère Lotringer
Ein Sohn der neuen Welt von Mary McCarthy
Unseliges Wunder. Das Meskalin von Henri Michaux
Peyote Hunt: The Sacred Journey of the Huichol Indians von Barbara Myerhoff
Cool for You von Eileen Myles
Heute wär ich mir lieber nicht begegnet von Herta Müller
Towazugatari von Go-Fukakusain no Nijo
Alma, or the Dead Women von Alice Notley
The Sad Passions von Veronica Gonzalez Peña
Die Preisgabe von James Purdy
Mercury von Ariana Reines
Huesos en el desierto von Sergio Gonza´lez Rodri´guez
Absence Makes the Heart von Lynne Tillman
The Criminal von Jim Thompson
Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss
CHRIS KRAUS: Ich habe John Bergers SauErde ungefähr zur Zeit seines Erscheinens gelesen, 1979, 1980.1 Sein Buch Sehen war, als ich in Neuseeland studiert hatte, ein alter Liebling der Linken gewesen, und vielleicht auch überall sonst.2 Sehen ist ein großartiges Buch, obwohl es oft dazu benutzt wurde, Diskussionen über bildende Kunst mit Leuten wie uns zu vermeiden, die nicht viel Ahnung hatten.
Jedenfalls befand sich der Autor und Kritiker Berger in Großbritannien auf einem der Höhepunkte seines Ruhms, als er entschied, mit seiner Familie in ein kleines Dorf in den französischen Alpen zu ziehen – nicht nur für den Sommer oder für ein Sabbatjahr, sondern dauerhaft. Er und seine Frau kauften einen kleinen Bauernhof, und sie arbeiteten auch auf den dazugehörigen Feldern. In der Einleitung zu SauErde beschreibt er sehr wortgewaltig seinen Wunsch, sich auf eine ländliche Kultur und Lebensweise einzulassen, bevor sie gänzlich verschwinden. Dieses Buch ist also eine Art Anthropologie, jedoch eine sehr literarische. Es ist von einer sehr persönlichen Dringlichkeit getrieben.
Ich weiß noch, wie ich in den frühen 90er-Jahren ein wundervolles Buch der Anthropologin Barbara Bode gelesen habe, die in das peruanische Gebirgstal Callejón de Huaylas gezogen war, in dem es wenige Monate zuvor ein katastrophales Erdbeben gegeben hatte. Sie hatte gerade ein Kind verloren und sehnte sich danach, ganz von ihrer Trauer umgeben zu leben. Ihr Buch No Bells to Toll zeigt sie zwar als ausgebildete Anthropologin, doch wenngleich sie als Fremde und Forscherin immer und umständehalber außerhalb dieser Kultur steht, wird sie als Trauernde zu einem Teil von ihr.3
In SauErde gibt Berger einige Geschichten wieder, die er in der Nachbarschaft gehört hat, aber auch selbst beobachtete Zwischenfälle. Das Material in SauErde wäre niemandem zugänglich gewesen, der sich auf der Durchreise nur mal so erkundigt – es basiert auf Vertrauen, das aus persönlichen Beziehungen entstanden war. Und, sicher: Lange genug vor Ort zu sein, um solche Beziehungen aufbauen zu können, bedeutete, andere Dinge aufgeben zu müssen. Das Buch ist sowohl bescheiden als auch grandios. Es gibt darin keinerlei Polemik, und Berger zieht keine strukturellen Schlüsse – doch natürlich sind sie dem Text eingeschrieben.
Als ich in den südlichen Adirondacks lebte, begegnete ich einer außergewöhnlichen Frau, Christine Macdonald, die die Stadtbibliothek von Glens Falls leitete. Sie war vom East Village in New York City nach Glens Falls gezogen, weil sie Teil einer ländlichen Kultur sein wollte, von der sie wusste, dass sie in ein paar Jahren verschwinden würde. Darüber hinausgehende Ambitionen hatte sie keine.
SauErde steht für mich exemplarisch für diese Idee des „investigativen“ Schreibens. Investigatives Schreiben ist unmöglich ohne Demut … Berger bleibt im Buch anwesend als der, der er ist, doch er gibt auch einen Teil von sich auf, um an Informationen zu gelangen. Dieses Eintauchen zeigt die Bereitschaft des Autors, sich durch die Erfahrung verändern zu lassen. Diese Methode scheint sich sehr von der Form des „persönlichen Essays“ zu unterscheiden, die in den letzten Jahren in den USA und in Großbritannien so beliebt geworden ist. Vielleicht geht es gar nicht so sehr um die Frage, ob es sich bei einem Text nun um Fiktion oder Nicht-Fiktion handelt, ob man in der ersten oder in der dritten Person erzählen soll – sondern vielmehr nur um Immersion. Du hast Gary Indianas Three-Month Fever ausgesucht, was ich für ein brillantes Beispiel dafür halte. Vor Kurzem hat Alessandro Berni ein Interview mit Indiana geführt und dabei Gore Vidal zitiert, um Garys Zugang zum Buch zu beschreiben: „Wenn du in das Gesicht eines Mörders oder einer Mörderin sehen willst, schau einfach in einen x-beliebigen Spiegel.“4
HEDI EL KHOLTI: Three-Month Fever war mir vom Künstler John Boskovich empfohlen worden. Garys Porträt von Andrew Cunanans fragiler Subjektivität gelingt es, zugleich emphatisch zu sein und ein hohes Maß an moralischer Integrität beizubehalten. Das Buch antizipiert und diagnostiziert eine Art psychische Malaise, die mittlerweile alltäglich geworden ist, bei der sich in Kinos, an Schulen, bei Marathons und andernorts regelmäßig „unerklärliche“ Gewaltakte vollziehen. Wenn die Täter*innen Muslime oder Muslimas oder Ausländer*innen sind, nennt man das Terrorismus, und man ermahnt uns, unsere „Lebensweise“ und unsere „Freiheit“ zu verteidigen, die von diesen Eindringlingen gefährdet werde. Wenn sie aber hier geboren sind, haben wir keine Erklärung. Und ich denke, das ist eine der Operationen, die das Buch durchführt. Mit großer Sorgfalt zeigt es die größeren sozioökonomischen Zusammenhänge, innerhalb derer sich die Geschichte entwickelt. Es stellt eine Vorlage zur Verfügung, mit der sich diese Ereignisse auch unabhängig vom Schrecklichen und Persönlichen betrachten lassen. Es ist die Geschichte von einer gescheiterten Assimilation, von einer Transplantation, die nicht verfängt, oder vielleicht nur von missverstandenen Zeichen, mit denen wir in Amerika bombardiert werden und die wir für selbstverständlich halten – deren Nuancen jedoch unglaublich schwer zu entziffern sein können, wenn du in einer anderen Kultur aufgewachsen bist. Die wenigen Seiten über Cunanans Kindheit in unmittelbarer Nähe zu etlichen Militärbasen im Landkreis San Diego, der auf eine Art als entleert und prekär dargestellt wird, sind auf herzzerreißende Weise schön und traurig. Cunanan versucht, als südamerikanischer Jude durchzugehen – was eine Verbesserung ist im Vergleich zu seiner Herkunft aus der philippinischen Unterschicht. Garys Porträt von Cunanan entlarvt seine Naivität. In der in sich geschlossenen und nur halb geouteten schwulen Community von La Jolla, einem wohlhabenden Vorort von San Diego, ist er in einem Narrativ gefangen, das er selbst nicht gänzlich begreift – es geht um Status, Geld, den äußeren Schein. Er verkörpert, was Klossowski als „lebendes Geld“ bezeichnet.5 Als sein Marktwert fällt, wird er von seinem Sugardaddy, Norman Blachford, fallen gelassen, der ihm eine Art illusorischen Schutz geboten hatte. Das führt dazu, dass Cunanans fragiles Ego zerbricht.
CK: Shulamith Firestone repräsentiert eine andere Art Außenseiterin – eine, der die Welt keinen Platz zugestehen will … obwohl sie die meiste Zeit ihres Lebens psychisch...




