Kremser Frau Maier fischt im Trüben
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86532-346-0
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frau Maiers 1. Fall
E-Book, Deutsch, 312 Seiten
Reihe: Chiemgau-Krimi
ISBN: 978-3-86532-346-0
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jessica Kremser wurde in Traunstein geboren und wuchs am Chiemsee auf. Zum Studium der englischen und italienischen Literatur und der Theaterwissenschaften zog es sie nach München, wo sie als Redakteurin für verschiedene Zeitschriften schreibt.
Autoren/Hrsg.
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Erstes Kapitel Montag
I
Auf den ersten Blick hätte man denken können, der weiße Fleck im Wasser wäre ein Fisch. Fast jeder hätte das gedacht. Frau Maier nicht. Denn Frau Maier kannte sich aus mit den Fischen im See.
Der weiße Fleck schimmerte fast silbrig unter der leicht gekräuselten Wasseroberfläche zwischen ein paar dunklen Schilfhalmen. Es war schwer zu sagen, ob sich nur das Wasser bewegte oder ob es die Hand selbst war, die unter Wasser leise winkte. Dass es eine Hand war, daran bestand für Frau Maier gar kein Zweifel. Die Frage war: Handelte es sich nur um eine Hand oder um eine Hand, die noch mit einem Körper verbunden war?
Die Katze hatte sich längst verzogen. Als sie mit der Pfote nach dem silbrigen Fisch hatte angeln wollen, da hatte sie plötzlich die Erkenntnis gepackt, dass er vielleicht doch kein so guter Fang war. Ihr Fell am Rücken hatte heftig gezuckt, so als hätte sie Flöhe, und dann war sie in Sekundenschnelle fauchend im Gebüsch am Ufer verschwunden.
Frau Maier war alleine. Wie immer. Seufzend beugte sie sich nach vorne. Angst hatte sie keine – höchstens davor, wieder einen Hexenschuss zu bekommen, so wie im letzten Winter. Da hatte sie sich auch nur gebückt, um einen Kiesel aufzuheben. Einen roten, ganz glatt gewaschen vom See. Danach war das Leben fünf Wochen lang sehr beschwerlich gewesen.
Die Hand bewegte sich nicht. Sie lag still und blass im Wasser. In ihrer Todesstarre schien sie etwas zu umklammern. Es sah aus wie ein Stück Papier.
Und von der Hand führte ein Arm ins Schilf.
II
Frau Maier hatte kein Telefon. Das war manchmal lästig, unter Umständen auch einmal sehr lästig, aber so richtig unangenehm war es noch nie gewesen. Bis zu diesem Augenblick. Denn wenn man im Wasser im Schilf am See gerade eine Hand gefunden hat, von der aus ein Arm zu einer Frau führt, und diese Frau nackt und tot ist, dann wäre ein Telefon von Vorteil. Das dachte Frau Maier, als sie schnaufend an ihrem Küchentisch saß.
Frau Maier wurde selten nervös. Ihre Gelassenheit hatte ihr in ihrem Leben schon sehr oft geholfen. Ohne sie wäre das Leben, das sie führte, als alleinstehende, vermutlich sogar einsame Frau ohne Geld, sehr viel schwieriger gewesen. Aber manchmal war ihre Gelassenheit auch schon als Gleichgültigkeit missverstanden worden. Auch von sehr wichtigen Menschen.
Den kurzen Weg vom Fundort der Leiche bis zu ihrem kleinen Haus war Frau Maier nicht gerannt, sondern sie hatte ihn in ihrem ganz normalen, bedächtigen Schritt zurückgelegt. Trotzdem standen ihr jetzt, als sie am Küchentisch saß, kleine Schweißperlen auf der Stirn. Frau Maiers Atem ging schneller als sonst. Und flacher. Wieso?
Sicher, sie hatte gerade eine Leiche entdeckt. Das reichte normalerweise, um nervös zu werden. Bei Frau Maier nicht.
Sicher, sie hatte kein Telefon und konnte die Polizei nicht sofort verständigen. Aber dafür würde sich eine Lösung finden.
Nein, die Schweißperlen hatten andere Gründe. Nach kurzem, aber gründlichem Grübeln hatte Frau Maier diese Gründe ausgemacht. Erstens: Sie hatte die tote Frau erkannt. Zweitens: Sie war am Fundort nicht alleine gewesen. Jemand hatte sie beobachtet.
III
Jetzt konnte nur Elfriede Gruber helfen. Sie war die Leiterin der örtlichen Sparkasse und eine von drei Personen, auf die Frau Maier sich verlassen konnte. Die anderen beiden waren der Seppi, Lehrling im Supermarkt, und der Fischer-Karli. Seppi konnte sie nicht allzu oft behelligen, weil er sonst Ärger mit dem dynamischen Supermarktleiter bekam. Aber Elfriede Gruber war selbst die Filial-Leiterin und konnte mit niemandem Ärger bekommen. Und nur deshalb war es möglich, dass sie Frau Maier immer mit besonderer Freundlichkeit, ja sogar mit Respekt begegnete, obwohl die kein dickes Konto bei der Sparkasse hatte und auch sonst kein nennenswertes Ansehen im Dorf besaß. Die Gründe, warum sie immer und zu jeder Zeit zum Fischer-Karli laufen konnte, waren persönlich. Und vielschichtig. Und vor allem taten sie weh, auch nach über vierzig Jahren noch.
An alle diese Dinge dachte Frau Maier, als sie sich auf den Weg zur Sparkasse machte, dann kehrten ihre Gedanken zur Frau im Wasser zurück. Ihr Gesicht war nur wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche ganz deutlich zu sehen gewesen. Ihre blauen Augen waren weit offen und hatten einen erstaunten Ausdruck. Um ihren Kopf wehten blonde Haare, so dass der Gesamteindruck Frau Maier an eine Nixe erinnerte. Als Kind, als sie mit ihren Eltern in das kleine Dorf am großen See gezogen war, da hatte sie lange Zeit geglaubt, im See würden Nixen leben. Eines Tages, da war sie sicher gewesen, würde sie die Nixen finden. Damals war sie noch nicht Frau Maier gewesen, sondern ein kleines Mädchen, das an viele Dinge glaubte. Frau Maier glaubte nur an das, was sie sehen, schmecken, riechen, hören oder fühlen konnte. Nixen gehörten nicht dazu.
Die Frau im Wasser war Anita Graf, die Schwester von Inge Graf. Anita war nach Übersee ausgewandert, mit neunzehn. Sie hatte einen US-Soldaten geheiratet und war nie mehr zurückgekommen in das Dorf am See. Bis jetzt. Schon seit zwei Wochen war sie bei Inge zu Besuch und Frau Maier hatte die beiden mehrmals an ihrem Häuschen vorbeispazieren sehen. Wie Inge wohl mit diesem schrecklichen Ende eines lange ersehnten Besuches fertig werden würde?
Da waren sie wieder, die kleinen Schweißperlen. Und gleichzeitig war auch das Gefühl wieder da, dass dort unten am Ufer noch jemand gewesen war. Frau Maier war nicht mehr jung, ihr 60. Geburtstag war schon eine ganze Weile her. Aber wenn etwas perfekt funktionierte, dann waren das ihre Sinne. Und zwar alle. Sie sah, hörte, roch, fühlte und schmeckte, was andere gar nicht wahrnahmen. Und auch, wenn sie sich eine Szene im Nachhinein noch einmal in den Kopf zurückholte, dann waren die Bilder ganz klar, die Geräusche ganz deutlich und die Gerüche ganz intensiv.
Zügiger als es sonst ihre Art war ging Frau Maier den Uferweg entlang. Von ihrem Häuschen aus führte zunächst ein Stück Kiesweg durch einen kleinen Wald, danach wurde er zu einer geteerten Straße, die aber trotzdem nur für Fußgänger und Radfahrer benutzbar war. Autos gab es hier nicht. Bis ins Dorf brauchte Frau Maier zu Fuß knappe fünfzehn Minuten.
Der See lag zu ihrer Rechten. Selbst an einem Tag wie diesem, an dem sie es eilig hatte und ihr Kopf voller Gedanken war, schenkte Frau Maier dem See ihre Beachtung. Heute, an einem kalten Tag im Februar, sah er dunkel und trüb aus. Ein kalter Wind ließ Wellen ans Ufer rollen. Die Berge im Hintergrund waren ganz deutlich sichtbar und mit Schnee bedeckt. Vom ersten Tag an hatte der See Frau Maier in seinen Bann gezogen. Jeden Tag sieht er anders aus, hatte sie im ersten Jahr am See gedacht. Nach einigen Jahren hatte sie bemerkt, dass er fast jede Stunde anders aussah. Und mittlerweile wusste sie: In jedem Moment veränderte der große See seinen Ausdruck und sie konnte inzwischen jedes seiner vielen Gesichter lesen. Sie wusste, wann ein Sturm aufzog – lange, bevor an allen Dampferstegen ringsum die Sturmwarnungen losgingen. Sie wusste, wie warm oder kalt das Wasser war und ob die Sicht am nächsten Tag klar sein würde. Und sie wusste, wie die silbrigen Fische im See aussahen …
Frau Maier bog kurz vor dem Dampfersteg nach links ab und befand sich zwei Minuten später auf der Hauptstraße des Dorfes und eine Minute später am Eingang der Sparkasse.
Elfriede Gruber war da. Sie warf gerade einen Blick über die Schulter ihres Lehrlings, der Probleme beim Ausfüllen eines Antrages hatte. Als sich die Schiebetüren der Sparkasse öffneten, schaute sie auf. Ihr Blick begegnete dem von Frau Maier. Sofort erkannte sie den Ernst der Lage und bat Frau Maier ins Besprechungszimmer.
IV
Seit fast zehn Jahren schon hätte Frau Maier Elfriede Gruber jederzeit um Hilfe bitten können. Denn damals hatte sie Elfriedes Mann im Bett mit Nicole Weidner, der jungen Gemeinde-Angestellten, angetroffen. Frau Maier verdiente sich zu ihrer bescheidenen Rente als Putzfrau etwas dazu, und das Haus der Grubers war eine ihrer festen Stellen. Jeden Dienstag, von acht bis elf. An jenem Dienstag hatte Frau Maier ihre Jacke im Haus der Grubers vergessen. Das hatte sie bemerkt, als sie mit dem Putzen der Arztpraxis (von zwölf bis zwei) fertig war und leicht verschwitzt den Heimweg antreten wollte. Plötzlich fröstelte sie, und da fiel ihr eben das Fehlen der Strickjacke auf. Kurz hatte sie gezögert, aber sie konnte keine Erkältung riskieren. Eine Woche ohne Putzen bedeutete eine Woche ohne Geld.
Also ging sie zurück zum Haus der Grubers, holte den Schlüssel aus dem zweiten Blumenkasten am Fenster unten links und sperrte auf. Es war 14.22 Uhr. Sofort nahmen ihre feinen Ohren die Geräusche wahr, sofort richteten sich die Härchen auf ihren Armen auf, sofort wusste sie: Ich bin nicht alleine im Haus. Und da Frau Maier niemals Angst hatte, ging sie energisch die Treppe hinauf, um nach dem Rechten zu sehen. Sie hatte einen Einbrecher erwartet, oder Nachbars Katze, aber ganz bestimmt nicht Herrn Grubers nackten Hintern. Das Entsetzen im Gesicht von Nicole Weidner war fast lustig anzuschauen. Aber die Reaktion von Herrn Gruber war traurig. Hastig hüllte er sich in eine Decke, stolperte zu seiner Hose auf dem Boden, nahm sein Portemonnaie heraus, kramte hektisch hundert Euro heraus und hielt sie Frau Maier hin: „Für Ihre Loyalität, Sie verstehen schon, gell?“, sagte er lächelnd.
Was Frau Maier daran am allermeisten erboste, war, dass er sich dabei kein bisschen schämte und ganz selbstverständlich davon...




