E-Book, Deutsch, Band 6, 290 Seiten
Reihe: Frau Maier ermittelt
Kremser Frau Maier geht ein Licht auf
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-86532-888-5
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Frau Maiers 6. Fall
E-Book, Deutsch, Band 6, 290 Seiten
Reihe: Frau Maier ermittelt
ISBN: 978-3-86532-888-5
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jessica Kremser wurde in Traunstein geboren und wuchs am Chiemsee auf. Zum Studium der englischen und italienischen Literatur und der Theaterwissenschaften zog sie nach München, wo sie heute als Redakteurin für verschiedene Zeitschriften schreibt. Bislang sind folgende Bände erschienen: »Frau Maier fischt im Trüben«, »Frau Maier hört das Gras wachsen«, »Frau Maier sieht Gespenster«, »Frau Maier wirbelt Staub auf« und zuletzt »Frau Maier macht Dampf«.
Autoren/Hrsg.
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Erstes Kapitel
Mittwoch
Kennen Sie eigentlich das Stockholm-Syndrom? Das ist wirklich urspannend, ich sag’s Ihnen. Ich schaue doch so gerne True Crime. Und da war einmal ein Fall, da ging es um das Stockholm-Syndrom. Das bedeutet, dass …
Sie schauen jetzt so genervt? Stört es Sie, wenn wir uns ein bisserl unterhalten? Es ist doch sonst recht fad hier drin, finden Sie nicht?
Also, jedenfalls geht es darum, dass jemand entführt wird. Oder als Geisel genommen. Oder irgendwo eingesperrt. Ich muss noch mal nachlesen, ob das nur für Geiseln und Entführungen gilt, oder …
Egal. Jedenfalls wird jemand gefangen gehalten. Und dann passiert es: das Stockholm-Syndrom. Etwas Irrsinniges ist das, denn die Person, die eingesperrt wird, also das Opfer, verliebt sich gewissermaßen in denjenigen, der sie bewacht, also den Täter …
Oh je, Sie müssen sich nicht erschrecken! Keine Sorge. Ich habe jetzt nur mal so allgemein gesprochen. Ich habe nicht gemeint, dass ich mich in Sie … Also nein, keine Sorge. Da wäre mir auch der Altersunterschied zu groß.
I
Das kleine Licht im Fenster leuchtete beharrlich in die dunkle Welt hinaus. Frau Maier blieb einen Augenblick am Gartentürchen stehen. Sie hatte vergessen, die Kerze auszupusten – also sollte sie nicht zu lange draußen bleiben. Eine Kerze durfte man niemals unbeaufsichtigt lassen, das hatte der Vater ihr schon früh eingeschärft. Seine Angst vor dem Feuer hatte sich über unsichtbare Kanäle irgendwie auf Frau Maier, die damals noch ein winziges Baby gewesen war, übertragen. „Im Krieg stand alles in Flammen. Alles“, hatte er ihr später oft erzählt. Frau Maier konnte sich weder an den Krieg noch an die Flucht mit ihrer Mutter erinnern. Aber an ein überwältigendes Gefühl von Furcht und Heimatlosigkeit, das sie in den Erzählungen ihres Vaters gespürt hatte, erinnerte sie sich noch ganz genau.
Das Haus war in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen, obwohl außer der Kerze im Fenster auch noch das Licht in der Küche brannte. Frau Maier ließ immer ein Zimmer hell beleuchtet, wenn sie abends das Haus verließ, dann fühlte sich das Heimkommen weniger einsam an.
Vom Gartentor aus waren es nur wenige Schritte bis zur kleinen Böschung, die zum See hinabführte. Fast jeden Abend, bei fast jedem Wetter, zog es Frau Maier noch einmal hierher. Hierher ans Ufer des Sees, der jetzt in der Dunkelheit einem riesengroßen, tiefen, schwarzen Tintenfass ähnelte.
Ein kalter Abendwind trieb leichte Wellen vor sich her, sodass ein sanftes Rauschen die Stille unterbrach. Frau Maier atmete tief ein. Die Luft im Winter schmeckte eisig, ein wenig rau, ein wenig rauchig. Sie betrachtete die schwarze Weite und stellte sich vor, wie es wohl unter der Wasseroberfläche aussehen mochte – in dieser tiefen, stillen und heimlichen Welt. Die silbrigen Fische würden in Winterstarre stumm verharren, die Schlingpflanzen träge vor sich hindösen. Und dann, von irgendwoher, würden vielleicht helle Gestalten mit langen, fließenden Haaren durchs dunkle Wasser angeschwommen kommen, sich mit ihren Fischschwänzen durch die Algen schlängeln und mit ihren silbernen Haaren sanft an den Fischen vorbeistreifen …
Ein leises Tuten riss Frau Maier aus ihren Gedanken. Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete die vielen glitzernden Punkte auf der anderen Seite des Sees. Sie wusste, dass das Tuten zum Dampfer gehörte, der die Inseln ansteuerte, aber sie konnte seine Scheinwerfer nicht ausmachen. Die anderen funkelnden Lichter überstrahlten zu dieser Jahreszeit alles: Auf einer der Inseln fand ein Christkindlmarkt statt, der Massen an Touristen und Städtern anzog und für lange Schlangen an den Dampferstegen sorgte. Die Lichterketten, die bis hierher sichtbar waren, schmückten die Buden und Stände, die Gehwege und Häuser – doch Frau Maier beeindruckte das kein bisschen. Sie mochte weder Menschenansammlungen noch Christkindlmärkte. Überhaupt stand sie mit der sentimentalen Stimmung rund um Weihnachten auf Kriegsfuß. Seit ihre Eltern nicht mehr lebten, hatte sie jedes Weihnachten allein verbracht und nie mehr einen Christbaum aufgestellt. Ihre Freundin Elfriede hatte sie letztes Jahr eingeladen, mit ihr und ihrer Schwester zu feiern – doch das Allerletzte, was Frau Maier wollte, war, aus Mitleid irgendwo als fünftes Rad am Wagen unter einem fremden Baum zu sitzen. Nein, sie wollte mit jemandem feiern, den sie liebte. Und der sie liebte.
Aber wer war das?
Die Kälte kroch durch die Maschen ihrer Strickjacke in ihren Körper. Sie schüttelte sich ein wenig und ging mit energischen Schritten, soweit das ihr schmerzendes linkes Knie zuließ, zurück ins Warme und machte sich ausnahmsweise einen Tee. Normalerweise trank Frau Maier immer nur Kaffee, aber Elfriede hatte ihr einen Adventstee mit Pflaume-Zimt-Geschmack vorbeigebracht und dazu noch einen selbst gemachten Adventskranz.
„Na gut“, brummte Frau Maier und betrachtete den Teebeutel ein wenig skeptisch. „Dann versuchen wir es mal mit der Weihnachtsstimmung.“
II
Die Kerze auf dem Fensterbrett im Wohnzimmer war schon weit heruntergebrannt und ziemlich viel Wachs war auf den Untersetzer geflossen. Schnell pustete Frau Maier sie aus. „Keine Kerze unbeaufsichtigt lassen“, mahnte die Stimme ihres Vaters aus dem Halbdunkel des Raumes. Oder war das in ihrem Kopf? „Hast ja recht“, flüsterte Frau Maier zurück.
Plötzlich glaubte sie, eine Bewegung draußen im Garten wahrzunehmen. Sie stand still und trat noch näher an die Scheibe. Nichts zu sehen.
Frau Maier öffnete das Fenster und lehnte sich ein wenig hinaus in die Dunkelheit des Dezemberabends, der sich schon wie tiefste Nacht anfühlte. Da! Ein Rascheln, eindeutig. Es kam aus dem Garten, aus Richtung der Hecke. Sie spähte angestrengt dorthin, doch im Stockdunklen war absolut nichts zu erkennen.
Sie lauschte noch ein paar Sekunden, doch alles blieb still. Trotzdem spürte Frau Maier dieses Kribbeln im Nacken, das Gefahren eigentlich ziemlich verlässlich anzeigte. Auf ihren Armen breitete sich eine Gänsehaut aus.
„Kein Wunder, bei der Kälte“, murmelte sie und zog rasch den Kopf zurück, um das Fenster zu schließen. Doch in diesem Moment schnellte etwas aus der Dunkelheit nach oben. Nach oben zum Fenster, nach oben zu ihr. Frau Maier erschrak fast zu Tode und stolperte ein Stück zurück, da erkannte sie zwei grüne Augen, die sie anfunkelten. Die Katze nahm nonchalant auf dem Fensterbrett Platz und leckte sich die weiße Vorderpfote, die an ihrem ansonsten schwarzen Körper wie ein weißer Strumpf aussah.
„Ja, spinnst du jetzt völlig?“, schimpfte Frau Maier. „Was ist denn in dich gefahren, dich so im Dunkeln anzuschleichen? Das machst du doch sonst nie!“ Die Katze hob den Kopf und bedachte Frau Maier mit einem weiteren eindringlichen, aber ungerührten Blick. Du denkst, du kennst mich. Träum weiter, las Frau Maier darin. Genauso gut konnte der Blick allerdings auch heißen: Ich hoffe, du hast wieder einen Vorrat meines Lieblingsfutters eingekauft.
Bei Katzen konnte man nie wissen.
III
Der Wind trägt Kirchenglocken durch den Ort
Den Duft von Schnee, von Wald, von Träumen
Die Lichter glänzen an den Bäumen
Und mancher wartet auf ein leises Wort
Frau Maier lag auf dem Sofa und betrachtete die heruntergebrannte Kerze auf dem Fensterbrett. Wieso dachte sie plötzlich an dieses Gedicht, das ihr Vater so oft zur Weihnachtszeit aufgesagt hatte? Wehmütig und nachdenklich hatte er dabei oft geklungen, deshalb hatte Frau Maier das Gedicht als Kind nicht gemocht. Kein Kind will, dass die Eltern wehmütig sind. Und doch waren die Zeilen jetzt auf einmal in ihrem Kopf. Wie ging es weiter?
Ein Wort der Hoffnung, Trost und Liebe …
Wer würde dieses Wort an Weihnachten wohl zu ihr sagen? Das Wort der Hoffnung, der Liebe?
Auf ihrem Bauch schnurrte die Katze und fühlte sich an wie ein Wärmekissen mit Vibrationsfunktion. Aus müden, schweren Augen blinzelte sie Frau Maier zu. „Ja“, murmelte Frau Maier und kraulte die Katze sanft hinter dem Ohr. „Du wirst für mich das Wort der Liebe maunzen, ich weiß.“
Woher kam die lästige Träne in ihrem Augenwinkel? Frau Maier wischte sie energisch weg. Es musste an dieser kitschigen Vorweihnachtszeit liegen, dass sie so sentimental wurde.
Ein Klingeln ließ die Katze empört hochfahren. Sie legte die Ohren an und sträubte das Fell. Frau Maier brauchte einen kleinen Moment, bis sie begriff, dass das Geräusch von ihrem Handy kam. Es war für sie nach einem ganzen Leben ohne Telefon immer noch ungewohnt, dass sie plötzlich eines hatte. Und dass auch noch jemand anrief! Sie setzte sich etwas mühsam auf und griff nach dem Smartphone, das auf dem Beistelltisch...




