Krüss | Mein Urgroßvater, die Helden und ich | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 2, 288 Seiten

Reihe: Mein Urgroßvater und ich

Krüss Mein Urgroßvater, die Helden und ich


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86274-430-5
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, Band 2, 288 Seiten

Reihe: Mein Urgroßvater und ich

ISBN: 978-3-86274-430-5
Verlag: Verlag Friedrich Oetinger GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Neues aus der Geschichtenkiste - ein Krüss-Klassiker vom Urgroßvater

Dass sein Urgroßvater der allerbeste Geschichtenerzähler überhaupt ist, daran hat Boy keinen Zweifel! Deshalb macht es auch gar nichts, als Boy einen kranken Fuß bekommt und für eine Woche zu dem alten Hummerfischer geschickt wird. Wieder dichten und erzählen die beiden, dass die sieben Tage wie im Flug vergehen - von Rittern und Königen, einer Maus und einer Katze und von einem kleinen Jungen. Am Ende stellt Boy fest: Nicht jeder, dem man ein Denkmal errichtet, ist ein Held. Und nicht jeder, der ein Held ist, bekommt ein Denkmal.

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Der Montag, an dem ich fußkrank zu meinem fußkranken Urgroßvater umziehe. Handelt von hausfraulicher Ordnung und schöpferischer Unordnung, zeigt, dass der ängstliche Jan Janssen einmal ein Held gewesen ist, beweist am Beispiel eines Ritters, dass hundert Leichen noch keinen Helden machen, und erklärt, wie nützlich die Rückseiten von Tapeten sein können. Als ich zwölf Jahre alt war, zählte mein Urgroßvater schon sechsundachtzig Jahre. Aber sein Körper schien immer noch gesund, sein Geist war immer noch wach. Im Sommer ging er allmorgendlich hinunter zur Brücke unserer kleinen Insel und redete mit den Fischern, die vom Fang zurückkehrten. Im Winter besserte er immer noch Netze aus oder schnitzte Korken für die Leinen der Hummerfangkörbe, die auf der Insel Tiener hießen. Aber kurz nach seinem sechsundachtzigsten Geburtstag – es war im Oktober – traf ihn ein Schlaganfall, wie ein Blitz einen Baum trifft. Das brachte meinen Urgroßvater zwar nicht um (dafür war er immer noch zu kräftig), aber es zwang ihn für zwei Monate ins Bett. Als er wieder aufstehen konnte, wollten seine Beine nicht mehr so, wie er wollte. Deshalb wurde für ihn ein Rollstuhl angeschafft. Dieses Möbel auf Rädern, das der Urgroßvater anfangs verflucht hatte, gefiel ihm mit der Zeit immer besser. Bald bewegte er sich nur noch im Rollstuhl durch die Wohnung. Das aber missfiel meiner Großmutter, bei der er lebte. Sie rief deshalb mich zu Hilfe, sozusagen als Beruhigungsmittel für den rollwütigen Greis. Ich war nämlich erstens der Liebling meines Urgroßvaters und zweitens sein Schüler als Dichter und Erzähler. Außerdem hatte ich zu jener Zeit eine vereiterte Ferse. (Ich hatte aus purer Eitelkeit zu enge Schuhe getragen.) So brauchte ich vorerst nicht zur Schule zu gehen und konnte mich ganz dem Urgroßvater widmen. Die Großmutter, zu der ich nun umquartiert wurde, wohnte auf dem Oberland der Insel Helgoland, auf dem Felsen. Deshalb nannten wir sie die Obergroßmutter. Die andere Großmutter, die am Fuße des Felsens im Unterland wohnte, hieß natürlich Untergroßmutter. Es war im Dezember, als ich zur Obergroßmutter zog. Sie war zwei Tage vorher in meinem Elternhause erschienen und hatte meiner Mutter erklärt, dass der große Boy ihr mit seinem Rollstuhl den ganzen Haushalt durcheinanderbringe. Wenn das so weitergehe, müsse sie noch Verkehrsschilder in der Wohnung aufstellen. »Schickt ihm«, hatte sie zum Schluss gesagt, »den kleinen Boy. Dann können sie zusammen dichten und es herrscht Ruhe im Haus.« (Der große Boy war niemand anders als mein Urgroßvater. Der kleine Boy war ich. Wir wurden nämlich beide mit Boy angeredet.) Eines klaren frostigen Sonntags hinkte ich also mit meiner vereiterten Ferse zum großen Boy in die Trafalgarstraße, der, als er mich begrüßte, ein Auge zukniff. »Die Weiber haben beschlossen, dass wir wieder mal zusammen dichten«, sagte er. »Sollen wir ihnen den Gefallen tun?« »Natürlich«, antwortete ich. »Wann haben wir eigentlich zum letzten Mal gedichtet und Geschichten erfunden, Boy?« »Das haben wir doch oft getan.« »Ich meine, Boy, wann wir zum letzten Mal längere Zeit zusammen gereimt und gedichtet haben.« »Das war vor zwei Jahren, Urgroßvater. Als Anneken und Johanneken die Masern hatten.« »Richtig, richtig!« Mein Urgroßvater rückte sich in seinem Rollstuhl in eine bequemere Lage und sagte zu seiner Tochter, meiner Obergroßmutter: »Heize ab morgen die beiden Kammern unter dem Dach. Da können wir dichten und sind dir aus dem Weg.« »Ich soll die Speicherkammern heizen?«, rief die Obergroßmutter entsetzt. »Weißt du, wie viel Kohlen das kostet? Denkst du, wir sind Millionäre?« »Gut«, sagte mein Urgroßvater, »dann dichten wir hier unten in der Wohnung, wo es warm ist.« »Hier unten?«, schrie die Obergroßmutter. »Das ist ausgeschlossen. Ein Haushalt, in dem gedichtet wird, geht zugrunde. Ich habe meine Erfahrungen. Dichtet gefälligst in den Schlafzimmern im ersten Stock.« »Betten sind zum Dichten gut«, erwiderte der große Boy. »Aber Schlafzimmer ersticken jeden schönen Einfall. Im ersten Stock dichten wir auf keinen Fall.« »Auf keinen Fall!«, wiederholte ich. »Die Männer sind alle gleich!«, murmelte die Obergroßmutter. Ebenfalls murmelnd, fügte sie hinzu: »Ich heize ab morgen den Speicher.« Das war für uns Dichter ein Sieg auf der ganzen Linie. Ebenso beruhigt wie vergnügt gingen wir im ersten Stock schlafen. Am nächsten Morgen allerdings – am Montag – war zunächst an einen Umzug auf den Speicher nicht zu denken. Meine Obergroßmutter und vier Frauen aus der Nachbarschaft verwandelten das herrliche Durcheinander der beiden Speicherkammern in jenes grässliche langweilige Nebeneinander, das die Hausfrauen Ordnung nennen. Das dauerte bis zum frühen Nachmittag. Zuerst waren Besen, Scheuerlappen und Bohnerwachs an der Reihe, dann wurden meterweise Gardinen aufgezogen und gerafft, danach wurde ein Gebirge von Kissen auf den Speicher verlagert und schließlich traten Staubwedel in Tätigkeit. Wir zwei Dichter saßen währenddessen verschüchtert in einer Ecke des Wohnzimmers, bekamen mittags eine Verlegenheitssuppe aufgetischt, die keinem von uns schmeckte, und atmeten auf, als die Obergroßmutter gegen drei Uhr endlich meldete: »Ihr könnt nach oben ziehen. Den Rollstuhl bringt euch Jasper hinterher.« Hinkend und schwerfällig kletterten wir beiden Boys über die steile Treppe unters Dach. Beim Transport des Rollstuhls, den Onkel Jasper heraufschleppte, mussten wir alle Hand anlegen, weil er so sperrig war. Aber endlich war auch das Dichterfahrzeug oben und mein Urgroßvater nahm es sogleich in Betrieb. Der Speicher war zum Erstaunen verändert. Im großen mittleren Teil, der zum Trocknen von Wäsche und Fischen diente, lag ein schon leicht verblichener roter Treppenläufer. Er reichte von der Tür meiner Kammer im Norden bis zur Tür der Urgroßvaterkammer im Süden. »Na also«, sagte der große Boy, »endlich werden die Dichter anerkannt. Man empfängt sie mit roten Teppichen. Aber ich fürchte, unsere Zimmer sind zum Dichten noch nicht geeignet. Wir müssen die schöpferische Unordnung, die wir nötig haben, wohl selbst herstellen.« Der Urgroßvater hatte wie immer recht. Beide Kammern sahen aus, als hätte man sie für eine Möbelausstellung hergerichtet. Auf Tischen und Kommoden lagen Häkeldecken; den kleinen Fenstern nahmen reich gefältelte Gardinen das letzte bisschen Sicht und Licht; und auf den Sofas und Sesseln waren Kissen, die durch einen Schlag mit der Handkante allesamt Hasenohren bekommen hatten, so üppig verteilt, als handle es sich um Haremszimmer. Als einziges Zugeständnis an die Dichter lagen in jeder Kammer mehrere Seemannskalender, peinlich geordnet, aufeinander. Die Lust am Dichten konnte einem beim Anblick solcher Kämmerchen vergehen. »Wenn die Hausfrauen triumphieren, unterliegen die Dichter«, seufzte mein Urgroßvater. Er war im Rollstuhl, den er an den Rädern bewegte, zu mir herübergekommen. Der kleine bullernde Kanonenofen wärmte die Kammer bereits. »Dichten«, fuhr der Alte fort, »werden wir auf Tapeten, Boy. Auf den Rückseiten. Ich habe die Tapeten eben auf dem Speicher entdeckt. Gleich links vor deiner Tür.« »Aber damit soll doch vor Weihnachten das Wohnzimmer tapeziert werden, Urgroßvater.« »An den Wänden sieht man nur die Vorderseite der Tapete, Boy. Überhaupt sieht man die Rückseiten selten auf der Welt, möchte ich hinzufügen.« Was sollte ich gegen so gescheite Bemerkungen einwenden? Ich holte also auf Weisung des Urgroßvaters eine Tapetenrolle in die Kammer, schloss die Tür vorsichtshalber hinter mir ab und sagte: »Wir können anfangen.« »Quatsch!«, knurrte mein Urgroßvater. Dabei zog er aus einer Gesäßtasche seiner dicken dunkelblauen Fischerhose zwei Zimmermannsbleistifte heraus. »Gleich anfangen ist Quatsch!«, wiederholte er. »Erstens will ich rauchen, zweitens müssen diese Kissen und Gardinen verschwinden, drittens kann ich nicht nach der Uhr dichten, viertens brauche ich eine Idee.« »Gardinen und Kissen weg! Tabak und Idee her!«, wiederholte ich gehorsam. Nun rollte ich die Gardinen nach oben und legte sie auf die Leiste, an der sie hingen, warf alle Kissen auf das kleine Sofa, hinkte über den roten Läufer zur Urgroßvaterkammer, um Pfeife, Tabak und Feuerzeug zu holen, schloss zum zweiten Mal die Tür hinter mir ab, legte mich in den Kissenberg auf dem Sofa und schob die Unterlippe vor. Ich pflege, wie es mein Urgroßvater tat, heute noch die Unterlippe zu schürzen, wenn mir eine Idee kommt. Aber das umgekehrte Verfahren hilft leider selten: Wenn ich die Unterlippe schürze, kommt mir nicht unbedingt eine Idee. So war es auch damals in der Speicherkammer. Während mein Urgroßvater qualmte und ein bisschen hin und her rollte, lag ich in den Kissen, starrte durch das kleine Fenster auf die Nachbardächer und hatte nicht den Fetzen einer Idee im Kopf. Meinem Urgroßvater schien es anders zu gehen. Ich sah, wie er langsam, im Tempo einer aufsteigenden Idee, die Unterlippe immer weiter vorschob, bis er sie plötzlich wieder einzog, einen Zug aus der Pfeife nahm und sagte: »Boy, ich hab’s!« »Was hast du?«, fragte ich verwirrt. »Eine Idee, Boy! Ich glaube sogar, eine gute Idee. Du erinnerst dich, dass wir vor zwei Jahren mit der Sprache gespielt haben.« Ich nickte. »Jetzt sollten wir sie so weit beherrschen, dass wir von wichtigeren Dingen reden können, von der Welt, vom Leben und vom Menschen.« »Was kann man von den Menschen viel reden, Urgroßvater? Jeder hat eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren, einen...


James Krüss (1926 - 1997), auf der Nordseeinsel Helgoland geboren und aufgewachsen, absolvierte eine Lehrerausbildung, bevor er 1949 nach Süddeutschland ging. Dort schrieb er als freier Autor für Rundfunk und Zeitschriften. 1953 veröffentlichte er sein erstes Bilderbuch, 1956 seinen ersten Erzählband "Der Leuchtturm auf den Hummerklippen", der sogleich für den in jenem Jahr erstmals vergebenen Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde. Diesen erhielt er dann 1960 für "Mein Urgroßvater und ich". James Krüss errang durch zahlreiche weitere Bücher und durch seine Präsenz in der Öffentlichkeit auf Lesungen und im Fernsehen große Popularität. In den 60iger Jahren moderierte er u.a. die beliebte Fernsehsendung "James' Tierleben". So seinen bekanntesten Bilderbüchern gehört vielleicht die Geschichte über "Henriette Bimmelbahn", als Beispiel seiner Gedichtbände sei "Der Wohltemperierte Leierkasten" genannt. Der Kinderroman "Timm Thaler oder Das verkaufte Lachen" feiert 2012 sein fünfzigjähriges Erscheinen und erfreut sich unveränderter Beliebtheit, in zahlreichen Übersetzungen, als Buch und als spannender Kinofilm. James Krüss, der Junge von der Nordseeinsel Helgoland, lebte seit 1966 auf der spanischen Mittelmeerinsel Gran Canaria, wo er 1997 starb. Der sensible Poet, fantasievolle Erzähler und virtuose Reimkünstler hinterließ ein umfangreiches Werk und gehört nach wie vor zu den bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren. Die Internationale Jugendbibliothek bei München würdigt ihn mit einem "James Krüss Turm" und auf Helgoland gibt es ein James Krüss Museum in der Form von traditionallen Hummerbuden.



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