Kruger Die Nacht ist verloren
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15047-1
Verlag: cbt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 2
E-Book, Deutsch, Band 2, 0 Seiten
Reihe: Die Nacht ...
            ISBN: 978-3-641-15047-1 
            Verlag: cbt
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nachdem der Wolf in ihm erwacht ist, findet Connor sich inmitten der uralten Fehde zwischen den Jagdhunden Gottes und den geborenen Werwölfen wieder. Der Einzige, dem er jetzt noch vorbehaltlos trauen kann, ist ausgerechnet Ex-Werwolf Arden. Mit seiner Hilfe gelingt es ihm, das Tier in sich zu kontrollieren. Als die Jagdhunde dem gefährlichen Wissenschaftler Boguet den Prozess machen, wird Connor zu einer folgenschweren Entscheidung gezwungen ...
Seit ihrem Studium an der Mount Saint Vincent University in Halifax arbeitet Kat Kruger freiberuflich als PR-Beraterin und Autorin. Ihr Debütroman DIE NACHT HAT KRALLEN wurde bereits mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Kanada.
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A. Formidabel
Formidabel: Adjektiv. Furcht oder Respekt einflößend dadurch, dass man in beeindruckendem Maße groß, mächtig, stark oder fähig ist.
Ich schlucke den bloßen Gedanken daran, zu weinen, herunter. Eines Tages werde ich vielleicht in all dem Elend ertrinken, das ich verdrängen muss, seit ich gebissen worden bin, aber nicht heute. Nicht wenn zu meinen Füßen ein blutiger Leichnam liegt. Beim Anblick der toten Boadicea stoße ich einen eigenartigen Laut aus. Ihre Ermordung war nicht Teil des Plans.
Connor legt mir eine Hand auf die Schulter, und ich wünschte, ich hätte eine kleine Flasche mit der Aufschrift »Trink mich« bei mir, um wie Alice im Wunderland einfach zu einem Nichts zusammenzuschrumpfen. Es ist so unfair. Alles. Wir haben sein Leben auf den Kopf gestellt und jetzt zieht er für mich diese Mitleids-Show ab.
»Mach’s nicht schwerer, als es ist«, sage ich und bereue sofort, so was Klischeehaftes abgelassen zu haben.
Ich kann ihn nicht einmal ansehen, weil ich sonst zusammenklappe. Aber dafür ist keine Zeit. Keine Zeit für lange Abschiede wie in einem Kinofilm. Er muss gehen, damit ich meinen Job beenden und er dem Rudel erzählen kann, was gerade passiert ist.
Er lässt die Hand sinken, seine Fingerspitzen streifen über den Ärmel meines Kapuzenpullis wie Wellen, die sich bei Ebbe über den Strand zurückziehen, und ich wünschte, ein Teil von mir könnte sich mit ihnen davontragen lassen. Ein echter Weinkrampf würde mir jetzt guttun. Oder einfach nur zu schreien – wie damals, mit sechs, als ich nicht den geringsten Grund dazu hatte –, bis meine Kehle wund und heiser ist. Das ist es, was ich will, was ich verzweifelt will. Das ist es, was ich mehr als alles andere brauche. Meine Tränen einfach fließen zu lassen, frei und natürlich wie den Atem. Aber das geht nicht. Seinetwegen.
Meine Stimme funktioniert kaum, als ich zu niemand Bestimmtem »Es tut mir leid« sage. Ich grabe mit bloßen Händen in der Erde des welken Blumenbeetes, während ich versuche, sie nicht anzusehen. Auf einem Gemälde würde sie fantastisch wirken: bleiche Haut, das rotblonde Haar wie ein Fächer ausgebreitet, hauchzarte nudefarbene Chiffonbluse. Aber so ganz persönlich aus der Nähe betrachtet, sieht die Sache anders aus. Das Blut ist das Schlimmste daran – es versickert nicht richtig in der trockenen Erde und sammelt sich in einer Lache um ihren Körper. Ich versuche, schnell zu arbeiten. Der Schotter setzt sich unter meinen Fingernägeln fest. Ich kann ihn unter meinem Nagellack nicht sehen – ein dunkler, aber glitzriger Lilaton, den ich mir mehr wegen des Namens als wegen irgendwas sonst ausgesucht habe: Formidable! Als könnte mir eine Schicht toxischen Lacks Superkräfte verleihen. Aber ich spüre den Dreck unter den Nägeln. Was in diesem Moment allerdings nicht wirklich von Bedeutung ist. Ich sollte noch etwas anderes sagen, damit er mich nicht für ein vollkommen herzloses Miststück hält.
»Du weißt nicht, wozu sie fähig sind«, sage ich, ohne aufzuschauen, um ihn an diesen Wissenschaftler, Henry Boguet, und seine Handlanger zu erinnern.
Er antwortet nicht. Er muss mich hassen. Er muss mich für ein Monster halten. Ich drehe mich um, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, aber er ist weg. Zum Teufel mit ihm! Ich hab das doch schließlich nicht gewollt! Dieses Treffen roch geradezu nach einer Falle. Wie hätte ich denn ahnen können, dass sie plötzlich ein Gewissen entwickelt hat!
Ich tue mein Bestes, um den Leichnam zu bedecken. Sekunden oder Minuten oder sogar Stunden verstreichen, bis ich seine Hand wieder auf meiner Schulter spüre. Erleichterung durchflutet mich. Ich drehe mich voller Erwartung um, die braunen Augen zu sehen und das wirre kastanienbraune Haar, aber stattdessen blicke ich in Joshs blaue Augen. An die Enttäuschung auf meinem Gesicht sollte er sich inzwischen eigentlich gewöhnt haben, aber immer wieder aufs Neue ist es, als hoffe er, dass ich irgendwie vergesse, was er mir angetan hat.
Josh schaut mit unverhohlener Ungläubigkeit zwischen mir und dem Erdhügel hin und her. Okay, ich gebe ja zu, dass es einfach jämmerlich ist. Während ich da auf den Fersen hocke, kann ich selbst im verblassenden Tageslicht noch ihre Umrisse unter der Erde ausmachen – wie ein Kind am Strand, das in den Sand eingebuddelt werden wollte. Das wird niemanden täuschen. Aber deswegen braucht er mich noch lange nicht auf meine eigene Lächerlichkeit hinzuweisen, mit diesem missbilligenden Blick. Bevor er etwas sagen kann, gehe ich schon zum Angriff über.
»Tu jetzt bloß nicht so, als könntest du das besser, Dr. Frankenstein.«
»Wir haben größere Probleme«, entgegnet er nur. Ein Knall lässt mich zusammenfahren und ich richte mich angespannt etwas höher auf. Zerschmetterter Stein. Wir sind zwar auf dem Père-Lachaise-Friedhof, aber in der natürlichen Welt gibt es nicht vieles, was Granit und Marmor ohne lautes Maschinengeräusch zerstören könnte.
»Ist Connor rausgekommen?«, frage ich.
Josh zögert auf diese nervige Art, wie immer, wenn er nicht der Überbringer schlechter Nachrichten sein will. Als wäre ich aus Glas und würde auf der Stelle zerspringen, sobald ich hörte, was er zu sagen hat. Das macht mich jedes Mal total verrückt, so sehr, dass ich manchmal kurz davor bin, ihm eine runterzuhauen, damit er die Worte endlich ausspuckt. Aber irgendwie schafft er es dann doch immer, das zu verhindern. Er schüttelt den Kopf.
Ich laufe über den gepflasterten Pfad. Zur Hölle mit dem halb verscharrten Leichnam. Die Jagdhunde Gottes werden sich später darum kümmern. Denn was auch immer hier vor sich geht, es hat etwas mit Boguet und diesen Arschgesichtern zu tun, die er für sich arbeiten lässt. Besagte Arschgesichter, Trajan und Attila, haben sich zwar aufgrund ihres Schwarzmarkt-Antiserums als nützlich erwiesen – was sie aber gleichzeitig höllisch unberechenbar macht. Und wenn Boadicea auch nicht die Absicht hatte, Connor genau in dem Moment auszuschalten, als ich auf sie geschossen habe, hat sie ja auch nicht direkt mit offenen Karten gespielt. Eben trabte Josh noch hinter mir her, jetzt übernimmt er die Führung. Verdammt, warum muss der so athletisch sein. Vor uns erkenne ich einige der Jagdhunde aus Joshs Jugendherberge, die sich bereits verwandelt haben. Unsere Unterkünfte sind getarnte Arrangements der Jagdhunde Gottes. Herbergsleiter Bruder Christopher, ein Mönch in weißer Kutte, führt die Jungs an. In seiner aktuellen Gestalt sind die Klauenabdrücke auf seinem vernarbten Gesicht größtenteils von Fell überdeckt. Ein Segen für seinen Fluch.
Boguet hat sich ebenfalls in das Geschöpf verwandelt, das halb Tier, halb Mensch ist – und Teil meiner Albträume. Ich erkenne ihn an seinem Altherren-Tweedanzug, auch wenn der jetzt von der Verwandlung zerrissen und zerfetzt ist, aber die Ellbogenflicken sind immer noch mehr als verräterisch. Er steht neben zwei majestätischen Wölfen und dieser direkte Vergleich lässt seine missgestaltete Form noch grässlicher erscheinen. Einen der Wölfe erkenne ich klar als Connor, obwohl es verblüffende Ähnlichkeiten zwischen ihm und Arden gibt. Es sind die Augen … sie lügen nie. Dann fällt mein Blick auf das viele Blut. Aber ich kann nicht sagen, von wem es ist.
Die Grabsteine um sie herum sind umgeworfen, zerschmettert worden. Es ist, als habe sich eine unnatürliche Macht auf diesem Teil des Friedhofs ausgetobt und eine Schneise der Zerstörung hinterlassen. Sogar Boguet selbst blutet aus einer Stichwunde zwischen seinen Rippen, was bedeutet, dass entweder Connor oder Arden es vor seiner Verwandlung in einen Wolf geschafft hat, seine Stellung als Mensch zu behaupten. Trajan und Attila sind nirgends zu sehen, was die Wahrscheinlichkeit, dass wir diesen Kampf gewinnen, deutlich erhöht.
Während Josh Werwolfsgestalt annimmt und sich zu den anderen gesellt, ziehe ich mich schnell bis auf meine Leggins und mein T-Shirt aus. Schließlich werden jeden Monat mehr als genug Outfits durch die Verwandlung ruiniert. Wie ich diesen Teil hasse – wenn das Tier buchstäblich unter meiner Haut hervorgekrochen kommt. Der Sog des Vollmonds erleichtert es wenigstens etwas. Aber von leicht kann keine Rede sein.
Seit ich gebissen worden bin, frage ich mich, wie es wohl ist, ein geborener Werwolf zu sein, wie Arden und Amara, und ob sie die Verwandlung als ebensolche zähe Folter empfinden wie wir. Als ich gestern Nacht jedoch Connors Verwandlung beobachtete, hat es mir einen Stich versetzt. Alles daran erschien so entspannt, friedlich, wunderschön. Als erwache eine Skulptur zum Leben.
Ich unterdrücke den Schrei, der meiner Lunge entweichen will, während mein Körper sich in jenes schreckliche Ungeheuer transformiert, das heute Nacht wahrscheinlich hässliche Dinge tun wird. Wir Gebissene verwandeln uns zwar ebenso wie die Geborenen innerhalb weniger Sekunden, aber angesichts des Schmerzes, den wir durchleben, dehnt sich diese Zeitspanne zu einer Ewigkeit aus. Es ist, als würde unser gesamtes Inneres auf den Kopf gestellt werden, um Platz für den Wolf zu machen: Knochen, Organe, alles.
Das schreckliche Geräusch von reißenden Sehnen und knackenden Knochen begleitet die Verwandlung wie eine verzerrte Symphonie. Ein Geräusch, vor dem mir jedes Mal genauso sehr graut wie vor der Qual des blanken Schmerzes, die meinen Körper durchfluten wird. Nach der Verwandlung schließe ich mich den anderen an, zu sechst vereint im Kampf. Sechs – die Zahl der Bestie, wovon auch das Tattoo auf meinem Knöchel zeugt. Sie knurren im Einklang,...





