Kucharski Das Gesetz der Ansteckung

Was Pandemien, Börsencrashs und Fake News gemeinsam haben

E-Book, Deutsch, 100 Seiten

ISBN: 978-3-7776-2903-2
Verlag: S. Hirzel
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die Wege der Ansteckung. Pandemien und ihre Ausbreitung
Ein tödliches Virus hat die Welt in Aufruhr versetzt. Dabei folgt es durchaus bekannten Gesetzen, die auch viele andere Bereiche unseres Lebens prägen. Wie sich Ideen, Trends und Krisen in der Zeit hoher Vernetzung ausbreiten, erklärt der Epidemiologe Adam Kucharski mit faszinierenden mathematischen Ansätzen. Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie gehören Modellrechnungen und Wachstumsprognosen zu den täglichen Nachrichten. Kucharski hilft uns dabei, die Wege der Ansteckung zu begreifen. Nicht zuletzt zeigt er, warum sich mitunter nützliche von wahren Vorhersagen unterscheiden – und wie Ausbrüche auch wieder vergehen.
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1Eine Ereignistheorie
Als ich drei Jahre alt war, verlor ich meine Gehfähigkeit. Zuerst traten die Probleme ganz allmählich auf: Mal fiel es mir schwer, aufzustehen, mal verlor ich das Gleichgewicht. Aber bald wurde es immer schlimmer. Schon kurze Entfernungen wurden schwierig, und Schrägen oder Treppen waren beinahe unmöglich zu überwinden. An einem Freitagnachmittag im April 1990 brachten meine Eltern mich und meine versagenden Beine ins Royal United Hospital in der Stadt Bath. Am nächsten Morgen wurde ich von einem Neurologen untersucht. Sein erster Verdacht war, die Ursache des Problems könne ein Rückenmarktumor sein. Es folgten mehrere Tage mit diagnostischen Tests: Röntgenaufnahmen, Blutproben, Nervenstimulation und eine Lumbalpunktion, um Rückenmarksflüssigkeit zu entnehmen. Als die Ergebnisse vorlagen, wurde eine andere Diagnose gestellt: Ich litt unter einem seltenen Krankheitsbild, das als Guillain-Barré-Syndrom (GBS) bekannt ist. Dieses Syndrom ist nach den französischen Neurologen Georges Guillain und Jean Alexandre Barré benannt und wird auf eine Störung des Immunsystems zurückgeführt. Anstatt meinen Körper zu schützen, hatte mein Immunsystem begonnen, meine Nerven anzugreifen, wodurch sich eine Lähmung breitmachte. Manchmal liegt alle menschliche Weisheit in den Worten »Harren und Hoffen«, wie es der Schriftsteller Alexandre Dumas einmal ausgedrückt hat.[9] Und das sollte meine Behandlung sein: Abwarten und Hoffen. Meinen Eltern wurde eine bunte Luftrüssel-Tröte gegeben, um damit meinen Atemdruck zu testen (damals gab es noch keinen für Kleinkinder geeigneten Heim-Atemtester). Wenn der Rüssel der Tröte sich nicht entrollte, wenn ich hineinblies, hätte das bedeutet, dass die Lähmung die Muskeln erreicht hätte, die Luft in meine Lungen pumpten. Es gibt ein Foto aus jener Zeit, das mich auf dem Schoß meines Großvaters zeigt. Er sitzt im Rollstuhl. Er hatte sich im Alter von 25 Jahren in Indien mit Kinderlähmung (Polio) infiziert und konnte seither nicht mehr gehen. Ich hatte ihn immer nur so gekannt, wie er mit seinen starken Armen seine unkooperativen Beine im Rollstuhl durch die Gegend fuhr. In gewisser Hinsicht machte mir sein Zustand meine eigene ungewohnte Situation vertraut. Doch das, was uns verband, trennte uns auch. Wir hatten die gleichen Symptome, doch die Folgen seiner Kinderlähmung waren permanent; GBS ist dagegen, ungeachtet all seines Elends, in der Regel eine vorübergehende Erkrankung. Also warteten wir ab und hofften. Der Rüssel entrollte sich jedes Mal, wenn ich in die Tröte pustete, und ganz allmählich wurde ich wieder gesund. Meine Eltern erzählten mir, die Buchstaben »GBS« stünden für »getting better slowly«. Es dauerte zwölf Monate, bis ich wieder gehen konnte, und weitere zwölf, bis ich laufen konnte, mehr schlecht als recht. Mein Gleichgewichtssinn war dann noch jahrelang gestört. Als meine Symptome allmählich nachließen, verblichen auch meine Erinnerungen an die Erkrankung. Diese Ereignisse rückten in immer weitere Ferne, blieben zurück in einem anderen Leben. Heute kann ich mich nicht mehr daran erinnern, dass meine Eltern mir immer eine Süßigkeit gaben, bevor die nächste Spritze kam. Oder dass ich mich später weigerte, etwas Süßes zu naschen – selbst an normalen Tagen –, weil ich Angst davor hatte, was dann kommen würde. Auch meine Erinnerungen daran, wie wir in der Grundschule Fangen spielten, sind verblasst – die ganze Mittagspause über hörte ich immer nur »Du bist!«, weil meine Beine immer noch zu schwach waren, um einen der anderen zu fangen. In den 25 Jahren nach meiner Erkrankung habe ich kaum jemals ernsthaft über GBS gesprochen. Ich beendete die Schule, studierte und promovierte, und GBS erschien mir als zu exotisch, zu bedeutungslos, um darüber zu sprechen. Guillain was? Barré wer? Die Geschichte, die ich ohnehin nie jemandem erzählt hatte, war für mich erledigt. Allerdings nicht ganz. Als ich 2015 in Suva war, der Hauptstadt der Republik Fidschi, bekam ich wieder mit GBS zu tun, aber dieses Mal beruflich. Ich war dort, um bei der Untersuchung einer Dengue-Fieber-Epidemie zu helfen, die im Vorjahr um sich gegriffen hatte.[10] Das Dengue-Virus wird von Moskitos übertragen und verursacht sporadische Ausbrüche auf Inseln wie Fidschi und in tropischen und subtropischen Regionen. Obwohl das Virus oft nur leichte Symptome verursacht, kann es auch hohes Fieber herbeiführen, das unter Umständen eine Einweisung ins Krankenhaus notwendig macht. In den ersten Monaten des Jahres 2014 waren in die Gesundheitsstationen auf Fidschi über 25 000 Menschen gekommen, bei denen der Verdacht auf eine Dengue-Infektion bestand, was für das Gesundheitssystem eine enorme Belastung bedeutete. Wenn Sie sich jetzt ein Bürogebäude mit Blick auf einen sonnigen Strand vorstellen, kennen Sie Suva nicht. Im Gegensatz zur Western Division Fidschis, wo sich zahlreiche Resorts befinden, ist die Hauptstadt des Archipels eine Hafenstadt im Südosten der größten Insel Viti Levu. Die beiden Hauptstraßen der Stadt führen in einem geschwungenen Bogen auf eine hufeisenförmige Halbinsel, deren Mitte eine Menge Regen anzieht. Einheimische, denen das britische Wetter vertraut war, sagten mir, ich würde mich dort ganz wie zu Hause fühlen. Eine andere, wesentlich ältere Erinnerung an meine Heimat sollte bald darauf folgen. Bei einem ersten Meeting mit dem Team von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erwähnte ein Kollege, dass auf einigen pazifischen Inseln Cluster von GBS-Erkrankungen aufgetreten waren. Ungewöhnliche Cluster. Im Durchschnitt trat die Krankheit mit ein bis zwei Fällen im Jahr pro 100 000 Einwohner auf, doch in einigen Gegenden waren doppelt so viele Fälle verzeichnet worden.[11] Niemand hatte jemals untersucht, warum ich an GBS erkrankt war. Manchmal ist GBS die Folge einer Infektion – GBS ist mit Grippe und Lungenentzündung sowie anderen Krankheiten in Verbindung gebracht worden[12] –, doch in anderen Fällen ist kein eindeutiger Auslöser zu erkennen. In meinem Fall war das Syndrom einfach nur ein Zufall, ein zufälliger Ausreißer im Gesundheitsbild der Menschheit. Doch auf den pazifischen Inseln in den Jahren 2014 und 2015 war GBS ein Signal, ganz so, wie es bald darauf in Lateinamerika bestimmte Geburtsfehler sein würden. Hinter diesen neuen Signalen steckte das Zika-Virus, benannt nach dem Zika Forest im Süden von Uganda. Das Zika-Virus, ein enger Verwandter des Dengue-Virus, wurde 1947 zum ersten Mal in Moskitos aus diesem Wald nachgewiesen. Im dortigen Idiom bedeutet das Wort zika so viel wie »überwuchert«[13] – und wuchern tat das Virus, von Uganda nach Tahiti nach Rio de Janeiro und darüber hinaus. Jene Signale im Pazifik und in Lateinamerika in den Jahren 2014 und 2015 wurden allmählich klarer. Epidemiologen fanden immer mehr Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Zika-Infektionen und neurologischen Störungen; das Zika-Virus schien nicht nur GBS, sondern auch Schwangerschaftskomplikationen zu verursachen. Die häufigste Folge war Mikrozephalie (Kleinköpfigkeit), die dazu führt, dass Säuglinge ein ungewöhnlich kleines Gehirn und daher einen kleineren Schädel entwickeln.[14] Das kann diverse schwere Gesundheitsstörungen verursachen, etwa Anfälle und geistige Behinderungen. Alarmiert durch die Möglichkeit, dass Zika Mikrozephalie verursachen kann,[15] ließ die WHO im Februar 2016 verlautbaren, die Infektion sei eine »Public Health Emergency of International Concern« (Gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite), kurz PHEIC (auszusprechen wie »fake«). Frühe Studien deuteten darauf hin, dass bei 100 Frauen, die während einer Schwangerschaft mit Zika infiziert waren, 1 bis 20 Babys Mikrozephalie entwickeln konnten.[16] Obwohl Mikrozephalie die Hauptsorge im Hinblick auf Zika werden sollte, war es GBS, was zuerst die Aufmerksamkeit von Gesundheitsbehörden auf Zika lenkte – und auch meine. Als ich 2015 in meinem provisorischen Büro in Suva saß, wurde mir klar, dass ich über dieses Syndrom, das einen so großen Teil meiner Kindheit geprägt hatte, so gut wie nichts wusste. Meine Ignoranz hatte ich größtenteils mir selbst zu verdanken, mit einiger (völlig verständlicher) Hilfe von meinen Eltern: Erst viele Jahre später erzählten sie mir, dass GBS tödlich verlaufen kann. Zugleich sahen sich die Gesundheitsexperten der Welt mit einem viel tiefgreifenderen Unwissen konfrontiert. Zika provozierte eine Unmenge an Fragen, von denen kaum eine schon beantwortet werden konnte. »Nur selten haben Wissenschaftler sich mit einem solchen Gefühl der Dringlichkeit und auf einer so geringen Wissensbasis einem neuen Forschungsgebiet zugewandt«, schrieb die Epidemiologin Laura Rodrigues Anfang 2016.[17] Für mich bestand die erste Herausforderung darin, die Dynamiken von Zika-Ausbrüchen zu verstehen. Wie leicht breitete die Infektion sich aus? Verliefen die Ausbrüche ähnlich wie beim Dengue-Fieber? Wie viele Fälle waren zu erwarten? Um diese Fragen zu beantworten, machte sich unser Forschungsteam daran, mathematische Modelle der Ausbrüche zu entwickeln. Solche Lösungsansätze werden heute im öffentlichen Gesundheitswesen routinemäßig eingesetzt, und sie werden zunehmend auch in anderen Forschungsgebieten angewendet. Aber wo kommen solche Modelle ursprünglich her? Und wie funktionieren sie? Das ist eine Geschichte, die 1883 ihre Anfänge nahm, mit einem jungen Militärarzt, einem Wasserfass und einem verärgerten Stabsoffizier. Ronald Ross hatte eigentlich Schriftsteller werden wollen, doch sein Vater drängte ihn, Medizin zu...


Kucharski, Adam
Adam Kucharski ist Assistenzprofessor an der Londoner Schule für Hygiene und Tropenmedizin und arbeitet an globalen Ausbrüchen wie der Ebola-Epidemie, der Aviären Influenza, dem Dengue-Fieber und dem Zika-Virus. Er ist TED-Stipendiat und Gewinner des Rosalind Franklin Award Lecture 2016 und des Wellcome Trust Science Writing Prize 2012. Er hat für Observer, Financial Times, Scientific American und New Statesman geschrieben. Außerdem ist Kucharski Autor von The Perfect Bet: Wie Wissenschaft und Mathematik dem Glücksspiel das Glück nehmen.


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