E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Kunstmann Ein Ort für das Leben
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-641-29691-9
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Weg zur religiösen Erneuerung der Kirche
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-641-29691-9
Verlag: Gütersloher Verlagshaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vor 2000 Jahren stellte eine tiefgreifende Erfahrung das Leben einiger Menschen auf einen neuen Grund. Aus dieser Erfahrung entstand das Christentum. Heute sind existenzielle Erfahrungen und deren Deutung aus der Kirche ausgewandert – ebenso wie das religiöse Erleben. Kirche praktiziert Glaubenslehren und rituelle Routinen, die kaum noch Bezug zum Leben der Gegenwart aufweisen.
Kann das wieder anders werden?
Es muss wieder anders werden, wenn Kirche und Christentum eine Zukunft haben und die Menschen wieder erreichen wollen. Das ist die These dieses Buches.
Joachim Kunstmann zeigt: Kirche kann zu einem Ort für die Religion der Menschen werden. Sie muss diese entscheidende Aufgabe nur anpacken und die längst überfällige Veränderung wagen.
- Religiöse Erfahrung statt staubige Tradition
- Gegen die Erlebnisvergessenheit der Kirchen
- Kirche als Ort lebendiger Erfahrung neu gestalten
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
II Rettet die Kirche!
Warum die Kirche nicht ersetzbar ist
Eine verständliche und religiös wie theologisch offene und lebendige Kirche, die die freireligiös-spirituellen Menschen auf ihren Wegen unterstützen und begleiten könnte, wäre unserer Gesellschaft so nötig wie das tägliche Brot. … Eine Kirche, die die Menschen mit Respekt für ihre religiöse Autonomie zu begleiten sucht, in deren Schätze Menschen sich bergen könnten, wäre eine dringende gesellschaftliche Notwendigkeit.
Matthias Kroeger 26
1 Das Wissen der Religion
Was ist das Leben: ein Paradies an Leichtigkeit, Glück und Geborgenheit – oder ein Acker, dem man mit Mühe und Gram das Überleben abringt? Das sind die beiden Pole, zwischen denen sich menschliches Leben vollzieht. Welch eine Ouvertürere gleich auf den allerersten Seiten der Bibel (Gen 2?f.)! Man kann nur staunen über die tiefe Klugheit, mit der ein Schreiber um 1000 vor Christus die menschliche Existenz in Metaphern eingefangen hat.
Das ist das Anliegen der biblischen Erzählungen: Die Bedingungen des Menschseins zu erhellen, um Menschen eine tiefere Erkenntnis ihrer selbst und eine Orientierung zu ermöglichen. Darum ist es Unsinn anzunehmen, es handele sich bei der Geschichte mit dem Apfel um ein historisches Geschehen, bei dem ein Herr namens Adam ein moralisches Verbot übertreten, damit eine Sündenschuld begangen und den Tod als Schicksal über die gesamte nachfolgende Menschheit gebracht hätte. Die Paradieserzählung ist ein Mythos. Solche Mythen, aber auch Metaphern und Gleichnisse sind typisch für die Religion. Sie bringen zur Sprache, was immer gilt, was wesentlich für die Existenz ist. Es sind symbolische Bilder, die aus tiefer Erfahrung heraus entstehen.
Diese symbolischen Bilder sind das Medium einer lebendigen Religion. Sie kreisen um die Erfahrung einer tiefen Verbundenheit (re-ligio) mit dem großen, alles umfassenden Leben. Sie sind wie Fenster, die das Leben transparent machen. Und sie machen deutlich, »dass Menschen darin ihre Würde haben, dass sie etwas Höheres als sich selbst anzuerkennen vermögen«.27 Deshalb waren die Großen der Religion immer sprachschöpferisch, und sie standen in deutlicher Distanz zu Glaubenslehren, rituellen Pflichten, Überzeugungen und sakralen Sonderbereichen.
Weil sie das Leben deuten, sind die Bilder der Religion immer wieder von einer erstaunlichen Realistik. Mit herausragender Nüchternheit erzählt die Bibel vom Menschen und seinem Tun. Sie zeichnet vom Menschen gerade keine Idealvorstellung – so wie das etwa die homerischen Epen tun. Im Gegenteil: Adam verspielt das Paradies. Sein Sohn Kain bringt seinen Bruder um. Wenige Generationen später betrügt Jakob seinen Vater und seinen Bruder. Euphorisch feiert man die Flucht aus der ägyptischen Knechtschaft, um dann zu realisieren, dass man in der Wüste festsitzt, angewiesen auf ein tieferes Vertrauen, als man es aufzubringen vermag. Der erfolgsverwöhnte Heilskönig David, der alles hat, was sich ein Menschen nur wünschen kann, lässt einen Gefolgsmann umbringen, um dessen Frau zu bekommen. Der Prophet Jeremia, der den göttlichen Willen verkünden soll, verflucht den Tag seiner Geburt, weil ihm die göttliche Aufgabe das Leben vergällt. Der tadellos fromme Hiob sitzt sterbenskrank in der Asche, nachdem er Frauen, Kinder und allen Besitz und damit jede menschliche Würde verloren hat, und er hadert mit seinem Gott. Und so geht das weiter bis zur Passion und Abschlachtung des Jesus von Nazareth. Dem barbarischen Tod am Kreuz geht die numinose Größe, die man später hineingelesen hat, vollkommen ab. Nicht genug: Paulus wird gefangen genommen und ausgepeitscht, Stephanus wird gesteinigt. Immer wieder wird man angesichts der drastischen Realistik der Bibel sagen: Ja, so ist es. So ist der Mensch, so ist das Leben und so gehen Menschen miteinander um. Das ist Aufklärung über die Existenz.
Diese realistische Nüchternheit ist in der gesamten Weltliteratur einzigartig. Kein anderes großes Buch der Menschheit ist so radikal frei von jedem Idealismus. Hier wird der Mensch gesehen, wie er ist: arm, angewiesen und verstrickt in ein Dasein, das alles andere als eindeutig ist. Diese Uneindeutigkeit kommt auch darin zum Ausdruck, dass ein und dasselbe Ereignis immer wieder in verschiedenen Texttraditionen mit ganz unterschiedlichen Pointen erscheint. Bekannte Beispiele dafür sind die beiden Schöpfungserzählungen: Die eine (jüngere) beschreibt die Welt als strukturierte Ordnung, deren Schönheit sich in die Verszeilen eines Liedes mit dem Refrain: Sieh an, wie schön! fassen lassen; der andere als den abgegrenzten Schutzraum eines Gartens. Oder die Berichte über Jesus: In gleich vierfacher Ausführung ist Jesus einmal der Lehrer (Matthäus), dann der leidende Gottesknecht (Markus), dann der Retter der Armen und Sünder (Lukas), schließlich der leibgewordene göttliche Geist und der wahre Weg (Johannes). Deutlich wird dabei: Eine allgemeingültige Glaubenslehre wird man aus der Bibel nicht herauslesen können.
Lebensdeutung
Weit eher legt die Perspektivenvielfalt der Bibel es nahe, dass jeder Lesende ganz von selbst dazu inspiriert wird, sich selbst und sein Leben ins Verhältnis zum Erzählten zu setzen. Der Religionspädagoge Ingo Baldermann hat das die »implizite Didaktik« der Bibel genannt. Sie erzählt von Erfahrungen, die zur Identifikation einladen und die keine allgemein gültigen Glaubenslehren sein wollen. Menschen können sich in ihnen wiederfinden, und sie können die eigene Geschichte so in einen größeren Kontext stellen. Die Bibel stellt das Leben der Menschen zu einem Grund und Ursprung der Wirklichkeit dar, den sie Gott nennt. Genau dieser Bezug des eigenen Lebens und Erfahrens zu einem größeren, deutenden Rahmen ist Religion. Sie ist symbolische Lebensdeutung.
Religion macht einen Zugang zur Welt zum Thema, der nicht auf andere Zugangsweisen reduziert werden kann. Sie wird deshalb in der Moderne als ein fundamentales demokratisches Grund- und Persönlichkeitsrecht verstanden. Diktaturen dagegen versuchen, genau diese Freiheit der Religion einzuschränken, dann die der Kunst; denn diese beiden Aspekte sind die sensibelsten und grundlegendsten des menschlichen Selbstverständnisses und des Ausdrucks menschlicher Würde.
Auch die religiösen Institutionen haben die Lebensdeutung der Einzelnen und ihre Würde keineswegs immer gefördert. Eher ging es ihnen darum, die richtigen Antworten zu formulieren und sie den Gläubigen als Gebot, Lehre und Kirchengesetz vorzulegen. Die Freiheit des Individuums wurde der Macht der Institution untergeordnet. Gegen diese Bevormundung des Individuums richtete sich zuletzt die Aufklärung. Sie richtete sich aber auch generell gegen die Religion und versuchte, sie durch Vernunft, Kalkül und freie Selbstverwirklichung zu ersetzen. Verstand und Freiheit sind wertvolle Errungenschaften, aber sie verlieren leicht aus dem Blick, dass es Erfahrungen und Fragen des Daseins gibt, die der Vernunft nicht unmittelbar zugänglich sind. Matthias Claudius hat das in die bekannten Zeilen gefasst: »Seht ihr den Mond dort stehen? / Er ist nur halb zu sehen / und ist doch rund und schön. / So sind gar manche Sachen, / die wir getrost belachen, / weil unsre Augen sie nicht sehn.«28 Was die aufgeklärten Augen nicht (mehr) sehen, sind alle Bereiche des Lebens, die sich nicht vernünftig messen und kalkulieren lassen: Gefühl, Liebe, Schicksal, Schönheit und die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Lebens.
Das symbolische Wissen um diese Dimensionen des Lebens ist das Potenzial der Religion. Das spricht sich seit einiger Zeit wieder herum. Neue Aufmerksamkeit hat der Religion etwa der agnostische Philosoph Jürgen Habermas gegeben, als er in einer viel beachteten Rede 2001 zur Überraschung vieler auf deren humane Potenziale verwies, die auch in einer säkularen Welt nicht ersetzbar seien. Die Rede von der Säkularisierung habe nicht nur die bleibende Bedeutung der Religion und ihrer Potenziale verdeckt, sondern auch die bleibende Religionsbedürftigkeit der modernen Welt. Habermas nennt unsere Zeit daher »postsäkular«. Und ausgerechnet Norbert Bolz, ein bisweilen ironisch-distanzierter Medientheoretiker, hat ein bemerkenswert erhellendes Buch mit dem Titel »Das Wissen der Religion« veröffentlicht. Bolz hält die Religion für aufgeklärter als die Aufklärung. Denn sie wisse z.?B. erheblich mehr von der abgründigen Bosheit des Menschen, als es die Aufklärung wahrhaben wolle. Religion transportiere Lebenswissen. Was motiviert Menschen? Woher gewinnen sie Hoffnung und Lebenskraft? Was lässt sie handeln und an Zukunft glauben? Bolz formuliert pointiert: »Nicht Religion ist die größte Illusion, sondern der Glaube, man könne die zu großen Fragen mit den Bordmitteln der Vernunft beantworten.«29
Eine ganze Reihe von kritischen Journalisten, Soziologen und Philosophen haben die Religion inzwischen neu zum Thema gemacht. Kirche wird fast durchgehend kritisiert; Religion dagegen erhält eine hohe Aufmerksamkeit. Eine naturwissenschaftliche Deutung der Welt greift zu kurz und kann die eigentlich wichtigen Erfahrungen und Fragen der Menschen nicht beantworten. Symptomatisch für die neue Bewertung der Religion ist das 2019 erschienene Buch »Religion aus der Sicht eines Atheisten«30, in dem der Philosoph Tim...




