Kurkow Der unbeugsame Papagei
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7099-7309-7
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 432 Seiten
Reihe: Geografie eines einzelnen Schusses
ISBN: 978-3-7099-7309-7
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrej Kurkow wurde 1961 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, geboren und lebte bis vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Kyjiw. Er studierte Fremdsprachen (spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Seit 1996 ist er freier Schriftsteller und arbeitet für Radio und Fernsehen. Romane wie 'Picknick auf dem Eis' (1999) und 'Der Milchmann in der Nacht' (2009) machten ihn einem breiten Publikum bekannt. Er gehört zu den im deutschsprachigen Raum beliebtesten Schriftsteller*innen aus der Ukraine und ist ein begnadeter Erzähler: vom Skurrilen und Schmerzhaften, von Mut und Hoffnung, vom Gestern und Heute und dem, was uns und die Zeiten verbindet. Bei Haymon erschien die 'Geografie eines einzelnen Schusses', bestehend aus den drei Romanen 'Der wahrhaftige Volkskontrolleur' (2011) (aus dem Russischen von Kerstin Monschein), 'Der unbeugsame Papagei' (2013) (aus dem Russischen von Sabine Grebing) und 'Die Kugel auf dem Weg zum Helden' (2015) (aus dem Russischen von Claudia Dathe). Außerdem erschien der Band 'Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests' (2014) (aus dem Russischen von Steffen Beilich) sowie seine Romane 'Die Welt des Herrn Bickford' (2017) (aus dem Russischen von Claudia Dathe) und 'Kartografie der Freiheit' (2018) (aus dem Russischen von Claudia Dathe). 2022 erscheinen bei Haymon Andrej Kurkows Aufzeichnungen aus der Ukraine: 'Die Vermessung des Krieges' (aus dem Russischen von Rebecca DeWald).
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Es wurde ein trockener Abend, und darüber freute Banow sich sehr. Er ging nochmals hinaus in den Flur und drängte die Putzfrau Petrowna zur Eile, indem er sie daran erinnerte, dass zu Hause die Enkel auf sie warteten.
„Ach, der Boden ist hier so schmutzig!“, sagte sie seufzend. „Und in dem Klassenzimmer da drüben ist es überhaupt … die Aloe ist rot wie ein gekochter Krebs!“
„Was?“, fragte Banow nach und musterte die Petrowna scharf.
„Die Aloe ist rot!“, sagte die Alte. „Wahrscheinlich ist sie schlecht geworden!“
Banow schaute hinein ins Klassenzimmer und erblickte tatsächlich auf dem Fensterbrett eine hohe leuchtendrote Aloe. Nachdem er sie bestürzt betrachtet hatte, kehrte der Schuldirektor in den Flur zurück und sagte zur Petrowna: „Weißt du was, trag sie ins Arztzimmer und stell sie dort ans Fenster!“
Eine halbe Stunde später verabschiedete Banow die Petrowna froh. Er schloss die Schule ab, kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück und rief Karpowitsch an.
„Hör mal, komm doch gleich zu mir!“, sagte Banow zu ihm. „Es ist schönes Wetter, wir trinken einen Tee. Magst du die Höhe?“
„Ja.“
„Dann steigen wir aufs Dach. Dort oben gibt es viel zu sehen!“
„Gut“, sagte Karpowitsch. „In einer halben Stunde bin ich da.“
Banow verlor keine Zeit, stellte den Teekessel auf den Primuskocher, sah nach, ob Zucker da war, und holte Tassen heraus.
Die Uhr zeigte viertel vor sechs. Der Himmel war wolkenlos und versprach Sterne.
Banow empfing seinen alten Kampfgefährten unten und schloss hinter ihnen die Tür ab. Sie gingen im Arbeitszimmer vorbei und holten den Teekessel, den Zucker und die Tassen. Dann stiegen sie aufs Dach und traten hinaus.
Sie machten es sich an Banows Lieblingsplatz gemütlich, dort, wo er so oft mit Klara Rojd saß – ganz oben, von wo aus es nicht mehr weiterging.
„Wie geht es dir?“, fragte der Schuldirektor.
„Na ja, es geht so“, antwortete Karpowitsch ohne besondere Begeisterung. „Ich habe mich nur mit dem Dichter gestritten.“
„Mit welchem Dichter?“
„Mit dem Kremldichter. Da wohnt so einer bei uns, Tatare vermutlich, Bemjan Debnyj …“
„Und wieso habt ihr euch gestritten?“
„Ach!“ Karpowitsch winkte ab. „Kleinkram! Laut Anweisung soll ich allen handschriftlichen Papierabfall, der im Kreml gesammelt wird, zum Abfall des NKWD bringen, und das habe ich auch getan, wie es sich gehört, kümmert mich ja nicht, was für ein Abfall das ist! Aber dieser Bemjan hat seine Gedichte verloren, sagt, sie hätten auf einer Fensterbank gelegen und der Wind hätte sie heruntergeweht. Also sage ich ihm, er soll zum Tschekistenabfall gehen und suchen, da sagt der Schuft, ich soll selbst hingehen und suchen … Hol’ ihn der Teufel!“
„Recht hast du!“, pflichtete Banow ihm bei. „Völlig richtig gemacht!“
Auf dem Dach war es kühl. Ein ziemlich starker Wind wehte, der klare, wolkenlose Himmel aber schimmerte tiefblau, und hier und da zeigten sich die ersten goldenen Sterne.
Banow liebte solche trockenen Herbstabende auf dem Dach über alles, und je kühler und windiger es war, desto köstlicher erschien ihm dann der Tee. Mit der Wärme des Tees füllte sein Organismus sich in solchen Momenten mit ungewohnter, aber sehr angenehmer Wachheit und Kraft. Diese Kraft ließ Banow gleichsam von innen die Brust schwellen, und gierig betrachtete er die abendlichen verlassenen Gassen, auf Jägerart mit scharfem Blick, als hielte er Ausschau nach Feinden.
„Der Tee ist gut“, sagte Karpowitsch, nachdem er an seiner Tasse genippt hatte.
Banow nickte.
„Ich trinke immer Tee“, sagte er unbestimmt, gleichsam ins Nichts hinein. „Ja, ja. Sag mal, wie steht es eigentlich um den Kremlträumer?“
„Gut. Heute Morgen habe ich ihn noch gesehen. Er sitzt da, wärmt sich in der Sonne und träumt laut vor sich hin. Ich hätte ihm gern zugehört, aber ich hatte keine Zeit …“
Banow sah Karpowitsch an und er erkannte, dass er diesen Menschen ein wenig beneidete. Das war ja doch allerhand! Mit einer Leichtigkeit, als ginge es um die allereinfachsten und gewöhnlichen Dinge, sprach er davon, dass er gerade erst diesen Morgen den Kremlträumer gesehen hatte, den seit langem alle für tot hielten! Wie viele Geheimnisse waren ihm zugänglich!
„Wassja“, sagte Banow erneut. „Könnte man es irgendwann so einrichten, dass auch ich ihn einmal sehe? Ihn nur einmal eine Minute lang anschaue?“
Karpowitsch dachte nach.
Banow sah ihn voll gespannter Erwartung an.
„Ich habe da einen Landsmann unter den Wachleuten“, begann Karpowitsch. „Ich versuche mal mit ihm zu reden. Morgen früh hat er Dienst, glaube ich … Morgen rede ich mit ihm, und du ruf mich am Abend an!“
Am nächsten Abend rief Banow Karpowitsch an.
„Wir versuchen es!“, sagte sein alter Kampfgefährte, und der Schuldirektor freute sich. „Treffen wir uns in zwei Tagen, am Montag, um neun morgens auf dem Roten Platz an der Richtstätte!“
„Gut!“, antwortete Banow. „Ich komme auf jeden Fall.“
Am Montag spazierte Banow bereits um acht Uhr morgens um die Richtstätte herum. Noch am Samstag hatte er Vizedirektor Kuschnerenko angekündigt, dass er am Montag in den Kreml gehen werde und von dort vielleicht etwas später zurückkomme. Kuschnerenko war natürlich stark beeindruckt gewesen.
Zu dieser Stunde gab es auf dem Roten Platz kaum Menschen. Die Luft war morgendlich frisch, und überhaupt versprach der Tag gemäßigt warm und sonnig zu werden.
Um halb neun näherte sich dem Schuldirektor ein Milizionär. Er interessierte sich dafür, was Banow auf dem Roten Platz machte.
„Ich warte auf einen Genossen, er kommt um neun“, antwortete Banow.
„Und was werden Sie anschließend tun?“, fragte der Milizionär beharrlich.
„Anschließend gehen wir in den Kreml.“
Der Milizionär nickte respektvoll, dann wies er mit der Hand auf die Richtstätte und erklärte: „Hier wurden Köpfe abgeschlagen!“, und mit einem bedauernden Kopfschütteln entfernte er sich zu seinem Posten, genau zwischen der Richtstätte und dem Tor.
Um neun tauchte vom Tor her ein sehr sorgfältig gekleideter Mensch auf, und Banow erkannte zu seiner Verwunderung in diesem Menschen Karpowitsch.
„Ich grüße dich!“ Karpowitsch winkte im Näherkommen. „Wartest du schon lange?“
„Nein“, antwortete Banow. „Wieso bist du denn so angezogen?“
Karpowitsch trug einen dunkelblauen Anzug, dessen Sakko ausgezeichnet saß, wie bei einem Mitglied des Politbüros, nur die Hosen hingen ein wenig herunter, man hatte sie offenbar für jemanden genäht, der anderthalb mal dicker war als Karpowitsch.
„Ja weißt du, das wurde uns zur Verfügung gestellt … es ist doch immerhin der Kreml … Wenn ein Elektriker für eine Stunde herkommt, auf einen Mast klettert und eine Leitung repariert, dann stellt man auch ihm für diese Stunde einen Anzug zur Verfügung! Es sind hier doch viele Ausländer, die Mitglieder des Zentralkomitees …“
Banow hörte zu und nickte. Natürlich wäre es wohl seltsam, im Kreml einen gewöhnlich gekleideten, unansehnlichen Hausmeister mit seinem Besen zu erblicken!
„Ich habe sogar eine lederne Aktentasche!“, ergänzte Karpowitsch.
„Wozu denn eine Aktentasche?“
„Für den handschriftlichen Papierabfall. – Also gut, gehen wir!“
Und sie gingen am Milizionärsposten vorbei, der ihnen freundlich zulächelte, und durch das Kremltor.
„Tu du nur so, als würdest du hier arbeiten!“, bat Karpowitsch.
„Wie mache ich das?“
„Schau zu Boden, sieh dir nichts genauer an … und lächle!“
Banow nickte und begann den Boden anzulächeln.
Eine Weile gingen sie auf einem betonnierten, schmalen Weg an der Mauer entlang in Richtung Fluss. Dann bogen sie zu einem niedrigen kleinen Gebäude ab, das sich hinter ein paar Blautannen verbarg. Sie traten durch die geöffnete Tür.
Drinnen roch es nach Feuchtigkeit. Eine Lampe brannte nicht.
„Warte hier!“, bat Karpowitsch und verschwand in der feuchten Finsternis.
Er blieb etwa fünf Minuten fort.
Banow begann es widerwärtig im Hals zu kitzeln. Er hustete und hörte im nächsten Augenblick, wie ein Echo den Laut aufnahm und irgendwohin in weite Ferne davontrug. Ihm wurde unheimlich zumute.
Nach zwei Minuten war wieder alles still. Dann ertönten Schritte.
„Alles in Ordnung!“, erklärte Karpowitsch, als er neben Banow stehengeblieben war. „Mein Landsmann tritt jetzt seinen Dienst an, also können wir uns langsam hinbewegen.“
Karpowitsch durchschritt die Finsternis fest, als ob er jeden Zentimeter dieses seltsamen unterirdischen Weges kennen würde.
„Kann man hier vielleicht Licht anmachen?“, erkundigte Banow sich.
„Das kann man. Normalerweise mache ich es an, aber … vielleicht kommt uns plötzlich jemand entgegen und sieht dich, dann würde es uns schlecht ergehen. Vorsicht, hier gibt es jetzt Stufen!“
Banow blieb stehen, hielt den Atem an und tat vorsichtig einen Schritt nach vorn. Er fand die erste Stufe und begann hinabzusteigen. Karpowitsch war bereits irgendwo weiter unten.
Plötzlich ertönte ein Krachen in ihrer Nähe, und die Erde unter...




