E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Kurniawan Schönheit ist eine Wunde
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-293-30981-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-293-30981-4
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eka Kurniawan wurde 1975 in der Nähe von Tasikmalaya in Westjava, Indonesien, geboren. Er studierte Philosophie an der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta. Sein Studium schloss er mit einer Arbeit über Pramoedya Ananta Toer und den sozialistischen Realismus ab. Neben Romanen und Kurzgeschichten schreibt er Drehbücher und Essays, zudem bloggt er, zeichnet Comics und beschäftigt sich mit Grafik-Design. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Für seinen Roman Tigermann wurde er 2016 für den Man Booker International Prize nominiert.
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Etwas Seltsames musste vorgefallen sein, denn eines Nachts wurde der alte Ma Gedik gezwungen, die blutjunge Dewi Ayu zu heiraten.
Er hatte schnarchend geschlafen, als ein Wagen vor seinem Haus hielt, dessen schnaubende Motorengeräusche, die durch die pechschwarze Nacht drangen, ihn schließlich aufweckten. Er hatte sich noch nicht von seinem ersten Schreck erholt, als schon der nächste wie ein Wirbelsturm über ihn hereinbrach: Ein Muskelpaket von einem Mann war aus dem Wagen gestiegen, von seiner Hüfte baumelte eine Machete, und er hatte Ma Gediks Mischlingshund, der nachts vor der Tür schlief, einen derartigen Tritt versetzt, dass dieser laut bellend und angriffsbereit aufsprang. Vergebens, denn der Fahrer des Wagens erschoss ihn mit einem Gewehr. Der Hund heulte kurz auf und starb, und fast im gleichen Augenblick trat das Muskelpaket gegen das Türblatt aus weichem Holz, das daraufhin nur noch schlaff von der oberen Türangel herabhing.
Das Innere der Hütte war so finster, als bewohnten sie Fledermäuse und Eidechsen statt Menschen. Im Mondlicht, das durch die Türöffnung fiel, ließen sich kaum die zwei Räume ausmachen: ein Schlafzimmer, in dem der alte Mann verwirrt auf dem Rand eines Holzbettes saß, und eine Küche, in der sich ein fast bis zum Rand mit Asche verstopfter Ofen befand. Spinnweben kreuzten sich überall, außer auf der Route des alten Mannes zwischen Ofen, Bett und Haustür. Der Gestank nach Pisse, schlimmer noch als in einem Pferde- oder Schweinestall, löste beim Muskelmann einen sofortigen Hustenanfall aus. Er nahm mit spitzen Fingern eine Handvoll von den Palmwedeln, die neben dem Ofen aufgehäuft waren, zündete das eine Ende mit einem Gasfeuerzeug an und erleuchtete mit dieser Fackel den Raum. Alle möglichen Gegenstände warfen ihre wild tanzenden Schatten umher, und Fledermäuse flatterten hervor. Der alte Mann saß unverändert auf dem Rand seines Holzbetts und betrachtete den ungebetenen Gast mit unverminderter Verwirrung.
Als nächste Überraschung zeigte ihm der Muskelmann eine Schreibtafel, auf der fein säuberlich in der Handschrift eines Mädchens etwas geschrieben stand. Er konnte es nicht lesen, der Muskelmann ebenso wenig, aber Letzterer wusste, was dort geschrieben stand.
»Dewi Ayu will dich heiraten«, sagte er.
Es musste sich um einen Scherz handeln, denn selbst seine wildesten Träume reichten an eine solche Fantasie nicht heran. Er war ein alter Mann, hatte mehr als ein halbes Jahrhundert gelebt, und selbst die alten Witwen, deren Männer im Kampf gegen die Niederländer in Sumatra gestorben oder ins Straflager Boven-Digoel verbannt worden waren, hätten es vorgezogen, gute Taten für ihr Leben im Jenseits anzuhäufen, als daran zu denken, einen Karrenzieher wie ihn zu heiraten. Er könnte von Glück sprechen, wäre er imstande gewesen, einer Frau genug zu essen zu bieten; denn wie man mit einer Frau schlief, hatte er praktisch vergessen. Sein letztes Mal in einem Bordell lag Jahre zurück, und es war ebenfalls viele Jahre her, dass er es sich mit der Hand besorgt hatte. Daher sagte er mit der Einfältigkeit eines Mannes vom Dorf zu dem Muskelmann: »Ich weiß ja nicht einmal, ob ich sie entjungfern kann.«
»Kein Problem. Ob sie nun von dir oder vom Schwanz eines Hundes entjungfert wird, sie will dich heiraten«, erwiderte der Muskelmann grimmig. »Wenn du es nicht tust, wird dich Tuan Stammler den wilden Hunden zum Frühstück vorwerfen.«
Er schauderte. Viele der Niederländer hielten sich wilde Hunde als Begleiter für die Wildschweinjagd, und wenn sie einen Einheimischen nicht mochten, ließen sie ihn im Kampf auf Leben und Tod gegen die wilden Hunde antreten. Aber auch wenn an der Drohung etwas Wahres dran war – einmal ganz abgesehen davon, dass er überhaupt nicht verstand, warum er sie überhaupt heiraten sollte –, war eine Heirat mit Dewi Ayu keine einfache Angelegenheit. Er hatte nämlich bereits versprochen, niemals zu heiraten. Seine unsterbliche Liebe galt einer Frau, die einst gen Himmel fliegend verschwunden war und Ma Iyang hieß.
Mit dieser Frau verband ihn eine unerfüllte Liebe. Ma Gedik und Ma Iyang wuchsen gemeinsam in der Fischersiedlung auf, sie trafen sich jeden Tag, schwammen im selben Wasser in der Flussmündung, aßen vom selben Fisch, und es lag nur an ihrer Jugend, dass sie noch nicht heirateten. Anders als die anderen seines Alters trug Ma Gedik auf Schritt und Tritt ein Bambusrohr mit sich herum. Diesen Behälter, gefüllt mit der Milch seiner Mutter, hatte Ma Gedik seit dem Zeitpunkt, da er laufen und sich ohne seine Mutter vom Haus fortbewegen konnte, immer dabei. Davon zunehmend irritiert, fragte Ma Iyang ihn eines Tages, warum er die Milch im Alter von inzwischen neunzehn Jahren immer noch trank, selbst wenn sie sauer geworden war.
»Weil mein Vater bis ins hohe Alter die Milch meiner Mutter getrunken hat.«
Ma Iyang verstand. Hinter einer Ansammlung von Pandan-Büschen zog sie ihre Kleider aus und forderte den jungen Mann auf, an den Brustwarzen ihrer reizend wachsenden Brüste zu saugen. Es kam zwar keine Milch heraus, aber das Erlebnis reichte, um Ma Gedik auf der Stelle von der Milch seiner Mutter aus dem Bambusrohr zu entwöhnen und sich unsterblich in das Mädchen zu verlieben. So ging das, bis eines Nachts eine Pferdekutsche Ma Iyang abholte, die, zurechtgemacht wie eine javanische Tänzerin, schön und schmerzlich zugleich anzusehen war. Als Ma Gedik wie immer als Letzter davon erfuhr, lief er den Strand entlang, der Kutsche hinterherjagend. Als er sie erreicht hatte, rief er dem hübschen Mädchen, das hinter dem Kutscher saß, die Frage zu: »Wohin fährst du?«
»Ins Haus des niederländischen Tuan.«
»Wozu? Du musst doch kein Hausmädchen für einen Niederländer werden.«
»Werde ich auch nicht«, sagte das Mädchen. »Ich werde seine Mätresse. Du wirst mich dann Nyai Iyang nennen.«
»Scheiße!«, schrie Ma Gedik. »Wozu willst du seine Mätresse werden?«
»Weil, wenn ich es nicht tue, Vater und Mutter den wilden Hunden zum Frühstück vorgeworfen werden.«
»Aber du weißt, dass ich dich liebe?«
»Das weiß ich.«
Während er weiter neben der Pferdekutsche herlief, beweinten beide, der junge Mann und das Mädchen, gemeinsam ihren schmerzlichen Abschied, den nur der verwirrt dreinschauende Kutscher bezeugte. Besonnen versuchte dieser die beiden zu beruhigen: »Liebe heißt nicht, den anderen zu besitzen.«
Dies tröstete die beiden in keiner Weise, sondern führte dazu, dass Ma Gedik stürzte und in jammerndes Wehklagen über sein Unglück ausbrach. Das Mädchen befahl dem Kutscher, auf der Stelle anzuhalten und zurückzusetzen. Dann stieg sie von der Kutsche und stellte sich vor den jungen Mann. Und im Beisein des alten Kutschers, des Pferdes, der singenden Frösche, der Eulen, Moskitos und Motten machte das Mädchen ein Versprechen.
»In sechzehn Jahren wird der niederländische Herr meiner überdrüssig sein. Wenn du mich dann noch liebst und wenn du das, was der Niederländer übrig gelassen hat, noch willst, dann warte auf mich auf dem Gipfel des Sandsteinhügels.«
Danach sahen sie sich nie wieder, und eine Nachricht gab es ebenso wenig. Ma Gedik wusste nicht einmal, wer dieser niederländische Herr war, der derart lüstern sein musste, um sich eine Geliebte zu nehmen, die mit ihren fünfzehn Jahren noch im Begriff war aufzublühen. Er selbst war neunzehn Jahre alt und schwor, er würde Ma Iyang immer lieben, auch wenn sie in Stücke zerhackt nach Hause zurückkehren würde.
Der Weggang eines geliebten Menschen ist keine einfache Sache. Während der Wartezeit entwickelte sich Ma Gedik zu einem Mann, der verrückter noch war als die Verrückten, idiotischer als die Idioten und vor allem trauriger als die Trauernden in der Trauerzeit. Seine Kumpel vom Hafen, wo er als Karrenzieher und Lastenkuli arbeitete, versuchten ihn zu trösten, indem sie ihm rieten, eine andere Frau zu heiraten, doch er vertat Zeit und Geld lieber beim Glücksspiel und kam nachts betrunken nach Hause. Seine engen Freunde gaben es auf, ihn zur Heirat mit einer anderen Frau zu ermuntern, und überredeten ihn nun dazu, ins Bordell zu gehen. Zumindest, so hofften sie, würden die Rundungen einer Frau seine Traurigkeit schmälern. Zu jener Zeit gab es nur ein einziges Bordell am Ende des Hafendamms. Ursprünglich für die niederländischen Soldaten gebaut, tauchten diese kaum mehr dort auf, nachdem sich die Syphilis ausgebreitet hatte. Sie zogen es vor, sich eigene Mätressen zu halten, und so wurde das Bordell im Laufe der Zeit immer häufiger von den Hafenarbeitern besucht.
»Ehe oder Bordell, beides ist Verrat«, sagte Ma Gedik starrköpfig. Doch als seine Freunde ihn, betrunken und halb bewusstlos, eines Tages zu diesem Bordell schleppten und er den Verdienst eines ganzen Tages für ein Bett und eine fette Frau mit einer Möse so groß wie ein Mauseloch ausgegeben hatte, war er rasch vom Reiz überzeugt und meinte nun: »Prostituierte zu vögeln ist kein Verrat, denn sie werden mit Geld bezahlt und nicht mit Liebe.«
So wurde er ein treuer Stammgast in diesem Bordell am Ende des Hafendamms, er schlief mit den Frauen und flüsterte dabei den Namen des Mädchens, das ihn verlassen hatte. Das tat er fast jedes Wochenende, gemeinsam mit seinen Freunden. In Zeiten, in denen Geld reichlich vorhanden war, schlief jeder mit einer eigenen Prostituierten, doch wenn Sparsamkeit angesagt war, teilten...




