Die Idylle wird bald ein Ende haben!
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6201-0
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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2 Schäbiges Seitenstraßenlokal, klass. dt. Eckkneipe, spätes 19. Jahrhundert, ganz leer jetzt am Morgen, Bierhahn tropft, ganz leer jetzt im fahlen gealterten Spülwasserlicht hinter trüben Scheiben: »Zum Grünen Kranz!« Eine alltägliche Eckkneipe, drei Treppen davor und irgendwie paralytisch, am Rande des Abends, in Bahnhofsnähe oder wo es sonst ist, wenn du dich wiederfindest (was fürn Tag ist denn heut?). Eins dieser zahlreichen bescheidenen Seitenstraßenlokale, die Jeder kennt, die noch aus der Kaiserzeit stammen und die letzten fünfzig Jahre, beide Weltkriege einschl. sämtl. zugehör. Vor- und Nachkriegs- und Friedenszeiten – bestenfalls Waffenstillstand, Ersatz und wohlfeile amtl. Lügen – und sogar den Fortschritt mit allem Zubehör nahezu unverändert überlebt haben, soundsoviele Generationen vom Dienst am lfd. Band, Alle nickten – und jetzt (wir schreiben so das Jahr sechzig, so ungefähr, wir erinnern uns) alle nach und nach umgestaltet, renoviert oder zugemacht werden. Eckkneipen seinerzeit, sie hießen: Zur Linde, Deutsches Eck, Lorelei, schon ganz verblichen, Beim Louis, Walhalla-Bierstuben (nebendran eine ungeheuerliche Zementfabrik – wie ein gestrandetes Riesenschiff: Sirene heult, März, sechs Uhr abends und es regnet, regnet in Strömen), Zum Löwen meinetwegen oder wie sie sonst hießen. Nur nicht pedantisch werden! Z.B. in Aachen/Nordrhein-Westfalen, Kaiserstadt, Heilbad, Hauptstadt des gleichnam. Reg.bez.s, ehemalige Reichsstadt, einst uralt: Kaiserdom, Gruft, Beinhaus Karls des Großen und Wasnichtalles, angestammter Hauptsitz der soliden deutschsprachigen Tuchweberei usw. (»Wir wollen uns nicht verzetteln!«): da war ich mal Sonntagmorgen (noch früh: Zeit unvermessen, leicht, hellblau und leer) rein zufällig in erstbester Eckkneipe und die hieß wahrhaftig und ernstgemeint: »Wirtshaus Zum Friedhof« (zwei Straßen weiter). Drei steile Stufen davor, kein einziges Fremdenzimmer, zieml. bürgerl. Küche m. fließ. Wasser! Sonntagmorgen in aller Frühe, Sonne scheint! Mein Glück, ich bin fremd hier, kam erst gestern spätabends aus dem Ausland zurück, in Gedanken noch nicht ganz da, Juni, lauter Umwege: nach vier Stunden trunkenem Schlaf (kaum, daß ich mich wiedererkannte), wie in einer tiefen Gruft, sodaß ich gleich nach dem ersten halluzinatorischen Erwachen, wie betäubt noch, unverzüglich zwanghaft »das Weite« suchte (wo suchen?): Also gut: eine sonntägliche Eckkneipe, die grad erst aufgemacht hat. »Cognac!« Wirt (letzte Nacht gings hier hoch her bis drei Uhr früh!) todmüde, unrasiert, blinzelt, reibt sich fäustlings die triefenden Augen, blinzelt mit aller Kraft, blickt drein, als hätt er – zwischen trüben Spiegeln – zwei (scheint draußen schon wieder die Sonne?) Glasaugen, oder wie ein Ertrunkener. Kein Napoleon, kein Remy Martin, nur Asbach Uralt. Bierhahn tropft. Schon seit Jahren zuwenig Schlaf und keinen klaren Gedanken. Er lallte auch mehr, als er sprach. (Morgenvögel lärmten!) Er hat grad erst aufgemacht und zwar aus Versehen, grad erst aufgewacht und kam eigentlich bloß runter, um für sich selbst Zigaretten zu holen: naturmilde Filterzigaretten. Gedachte zu rauchen, zu husten, zu rauchen und anschließend – Tag vorbei: Tag wartet – unverzüglich weiterzuschlafen, wies (zum Beweis) gleich die abgelatschten scharlachroten Nachtpantoffeln an seinen grausigen nackten Füßen vor (bzw. selbige in denselben: alle vier auf die gleiche abgeschmackte Art abgelatscht). Schön: trinken wir also seinen Cognac zusammen, er nickt, gähnt, seufzt, stellt für sich und mich Gläser zurecht (ich vergaß, nach dem Preis zu fragen. Seine Frau im ersten Stock schläft noch!) und sucht – »Herrgott!« fluchend, pedantisch, sich überall hartnäckig anstoßend, wie blind (lauter fühllose Ecken und Kanten, die in mein-dein-sein unverständliches Leben eisenhart, fremd und gehässig hineinragen) – und findet und schwenkt triumphierend, na endlich: hier, sie ist echt, riesengroß, eine neue Flasche! Sonntagmorgen! Letzte Nacht haben die Säufer mir wiedermal fast Alles weggesoffen, sagt er trübsinnig hinterdrein (und wird nachher gleich weiterschlafen). Hier im Viertel gibts massig Säufer, wogegen ja nix zu sagen sei, im Prinzip, lauter ehrliche Arbeiter, Samstagabend, und dann ist es wieder vielzuspät geworden! (Wir nickten bescheidwisserisch, Jeder für sich.) Beim Öffnen der Flasche (zwischendurch zünden wir uns erwartungsvoll neue Zigaretten an; Mensch bin ich mühüd, sagt er gähnend, schon jahrelang) bricht ihm unversehens der Kunststoffdeckel mit rotgoldrotem Wappenlöwen ab und der Korken natürlich noch drin, nein ich hab auch keinen Korkenzieher mit, Anfang Juni, bin fremd hier, mein Hotel zwei Straßen weiter: sonnige Morgenstraßen. Scheiße, passiert ganz selten, sagt er trübsinnig zu seinem unsichtbaren Schutzengel, kopfschüttelnd, höchstens so zirka jede hundertste Flasche mal, versichert er, wie für sich selbst (als vermöchte Statistik je Trost zu bieten). Dann, nachdem wir – in endlose separate Selbstgespräche vertieft (muß-doch-hier: ir-gend-wo) – alle Schränke und Schubladen hinter der Theke nochmal erfolglos abgesucht (kein Korkenzieher! auch in der Kasse: ist auch keiner drin! sagten wir enttäuscht zueinander, mehrfach, und: könnten Scheißkorken zur Not natürlich auch reindrücken, klar! jedoch widerstrebte uns das), gehen wir, machen uns hoffnungsvoll auf den Weg, mit der vollen Flasche, die immer noch zu (schließlich hat er doch noch seufzend seine eselfarbene Wirtshose zugeknöpft, Jammertal hier!), begaben uns über den leeren sonnigen Sonntagmorgenbürgersteig vor bis zur nächsten Ecke, wo ein Taxistand –: klopften nachdrücklich an die geschlossenen gläsernen Seitenfenster der (wartenden) Taxis und fragten von hinten nach vorn, die ganze Reihe entlang, jeden einzelnen (manche mit künstlichem Buckel) dösenden Taxifahrer höflich nach leihweisem Korkenzieher, ging grad auf zehn! Jeder begriffsstutzige Taxifahrer hat eine neue Bild-am-Sonntag, aber erst beim vierten fand sich einer im Handschuhfach, neben Handschellen, Revolver, Gaspistole, Knebel, Stilett, Familienfotos, Totschläger, Doppeltotschläger, Hansaplast, Jerry-Cotton-Heftchen (mit fürstlichem Lesezeichen) und Munitionslager, bitte-danke! Was den gefährlichen Korkenzieher betraf, war er selbst ganz verblüfft, abstinenter Familienvater und Fuhrunternehmer, das Land ist still, doch stellte ihn bereitwilligst zur Verfügung. Auf dem Rückweg, so kurz er auch war, tranken wir (um den Himmel nicht aus den Augen zu verlieren) mehrfach ausgiebig aus der Flasche, Prost, Cognac, Sonntagmorgen! Halbzehn oder zehn, Himmel wolkenlos, paar spärliche Uhrwerkbürger mit Renommierhunden, die ihnen ähnlich sehen, oder (mindestens jeder dritte ist ein Agent, auch wenn er es nicht weiß!) gutwillig unterwegs in ihre verhalten bimmelnden Stammkirchen, gotisch oder nicht – Aachen ist eine fromme alte Stadt, die meiste Zeit Sonntagmorgen. Hier im Viertel, sagt er, gibts viele Säufer, weißgott, aber natürlich, die schlafen jetzt alle noch! Sonntags, da macht er nie vor drei Uhr nachmittags auf, für gewöhnlich: meistens wirds vier. Das Geschäft geht gut, naja, aber vor lauter Zahlungsverpflichtungen und nächstes Frühjahr mit Gott (was das kostet!) will er alles nagelneu streichen lassen, wenn nicht gar radikal renovieren auf neudeutsche Art, wir nickten uns tiefsinnig zu, weitergehen! (Ergiebige Fünf-Liter-»Familien«-Flasche, die wir abwechselnd achtsam trugen.) – bleibt stehn, klopft seine zahlreichen konvexen Taschen ab, sagt: hoffentlich hab ich eben beim Rausgehn nicht abgeschlossen, weil: hab scheints keinen Schlüssel nich einstecken! Wir sind schon ganz nah, er sagt Alles doppelt (sagt er Alles). Seine Frau im ersten Stock schläft noch. Er auch, er wird nachher gleich weiterschlafen, oder wir trinken die Flasche aus und er erzählt mir sein ganzes Leben (obwohl ich nicht zuständig bin). Seine kleine blonde Frau im ersten Stock heißt Elisabeth. Klar liebt sie ihn, aber klar! »Kaum haste mal bißchen Kohlen, hast kaum deine paar Kröten im trockenen, schon hält dir gleich Jeder die Klauen auf oder drauf!« Hat er abgeschlossen oder nicht? Keiner von uns (Erde sachtschwankend, Sonnenschein, Glastüren unbewegt) konnte sich dran erinnern, doch gottlob war die Kneipe offen. Er ist bei der Legion gewesen, mehr als vier Jahre lang Tag und Nacht, Kamerad, kannst Louis zu mir sagen! Licht grell und allgegenwärtig, ein Fiebertraum, noch ein Schluck: »Vergessen? kann ich das nie, Kam-rad!« Sonntagfrüh, Juni 58, Aachen, »Wirtshaus Zum Friedhof«. Da war ich fünfzehn, vorher wochenlang unterwegs und grad aus der Schule geflogen. Notizen, Skizzenbücher und Alles, was ich mithatte. Der Sommer und Alles fing eben erst an! … Eckkneipen, wo das hiesige Volk, ziemlich vollzählig: all die vielen kleinen Leute aus Nachbarschaft und nächster Umgebung (Kleinbürger, die ihrerseits lang schon tot sind, nie gelebt haben, eine Generation nach der andern, jetzt auch langsam aussterben, zieht sich aber doch ziemlich hin, ihr Sterben, ein Vorgang der andauert, ihr Sterben verzettelt sich: Alltag), aus den paar umliegenden Straßen, aus Eigenheimen, Asylen und Mietskasernen, die harmlosen Leutchen nach Feierabend eben mal immer so hingehn Inallenehren, in Hemdsärmeln, fünfzig Jahre lang jeden Tag, jeden Abend, ganz vergilbt schon: »Hier ist jetzt die meiste Zeit Abend!« (Montag Ruhetag!) Einwohner, Seßhafte (der dritte oder vierte Stand, »wo leben wir denn?«), zeitlebens – Jeder hat, um die Wirklichkeit zu erschlagen, seine eigenen handfesten Wahrheiten, wie aus...