E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Young Sherlock Holmes
Lane Young Sherlock Holmes
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-10-401353-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Tod liegt in der Luft
E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Young Sherlock Holmes
ISBN: 978-3-10-401353-4
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andrew Lane ist der Autor von mehr als zwanzig Büchern, unter anderem Romanen zu bekannten TV-Serien wie ?Doctor Who? und ?Torchwood?. Einige davon hat er unter Pseudonym veröffentlicht. Andrew Lane lebt mit seiner Frau, seinem Sohn und einer riesigen Sammlung von Sherlock-Holmes-Büchern in Dorset.
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1
»Du da! Herkommen!«
Sherlock Holmes drehte sich um, um zu sehen, wer gemeint war und wer gerufen hatte. An diesem Morgen standen Hunderte von Schülern im strahlenden Sonnenschein vor der Deepdene-Knabenschule herum. Alle in makelloser Schuluniform und mit einem ledergurtumspannten Holzkoffer oder einem Haufen vollgestopfter Gepäckstücke vor sich, die wie treue Hunde zu ihren Füßen lagen. Jeder von ihnen konnte gemeint sein. Die Lehrer in Deepdene hatten die Angewohnheit, die Schüler nie mit ihren Namen anzusprechen. Es hieß immer »Du!« oder »Junge!« oder »Kind!«. Das machte das Leben nicht gerade leicht und führte dazu, dass man ständig auf Zack sein musste. Was wohl auch der Grund dafür war, warum sie es taten. Entweder das oder die Lehrer hatten es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich die Namen ihrer Schüler zu merken. Sherlock war sich nicht sicher, welche Erklärung am ehesten zutraf. Vielleicht beide.
Keiner von den anderen Schülern zeigte eine Reaktion. Entweder plauderten sie mit Familienmitgliedern, die gekommen waren, um sie abzuholen, oder sie beobachteten ungeduldig das Schultor, wo jeden Augenblick die Kutsche auftauchen musste, die sie nach Hause bringen würde. Widerwillig drehte Sherlock sich um, um nachzusehen, ob der unheilvolle Finger des Schicksals auf ihn wies.
Das tat er tatsächlich. Besagter Finger gehörte in diesem Fall MrTulley, dem Lateinlehrer. Er war gerade an der Stelle um die Ecke des Schulgebäudes gebogen, an der Sherlock abseits von den anderen Jungen herumstand. MrTulleys normalerweise von Kreidestaub bedeckter Anzug war extra für das Schuljahresende und die unvermeidlichen Begegnungen mit den Vätern gereinigt worden. Vätern, die für die Erziehung ihrer Jungen viel Geld bezahlten. Sein Doktorhut saß so gerade auf dem Kopf, als hätte der Direktor selbst ihn dort festgeklebt.
»Ich, Sir?«
»Ja Sir, du Sir«, blaffte MrTulley. »Sieh zu, dass du ins Direktorzimmer kommst. Reicht dein Latein noch, um zu wissen, was das heißt?«
»Das heißt ›sofort‹, Sir.«
»Dann beweg dich.«
Sherlock warf einen Blick auf das Schultor. »Aber Sir … Ich warte auf meinen Vater. Er holt mich gleich ab.«
»Ich bin sicher, dass er nicht ohne dich fährt, Junge.«
Sherlock unternahm noch einen letzten kühnen Versuch. »Aber mein Gepäck …«
MrTulley blickte abfällig auf Sherlocks arg ramponierten Holzkoffer hinab – ein ausrangiertes Utensil seines Vaters, das diesen einst auf seinen Militärreisen begleitet hatte und nach jahrelangem Gebrauch nun völlig abgewetzt und schmutzig war. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand so was stehlen sollte«, sagte er. »Außer vielleicht wegen seines historischen Wertes. Ich hole einen Vertrauensschüler, der für dich aufpasst. Jetzt lauf los.«
Widerwillig verließ Sherlock seine Habseligkeiten – ein paar spärliche Hemden und Unterwäsche, seine Gedichtbände und die Notizbücher, in denen er neben Ideen, Gedanken und Spekulationen hin und wieder auch Melodien notierte, die ihm in den Kopf kamen.
Er ging auf die Säulenreihe der Eingangshalle zu, die die Vorderseite des Schulgebäudes zierte. Während er sich dabei zwischen unzähligen Jungen, Eltern und kleineren Geschwistern hindurchschob, behielt er stets den Zufahrtsweg im Auge, wo gerade ein dichtes Gedränge aus Pferden und Kutschen herrschte, die alle gleichzeitig durch das schmale Tor herein oder heraus wollten.
Die Haupteingangshalle war mit Eichenholz getäfelt und ringsum von den Büsten ehemaliger Direktoren und Förderer gesäumt, die jeweils auf eigenen Sockeln thronten. Aufwirbelnder Kreidestaub ließ schräge Säulen von Sonnenlicht sichtbar werden, die von den hohen Fenstern aus auf den schwarz-weiß gefliesten Boden fielen. Es roch nach Karbol, mit dem die Dienstmädchen jeden Morgen die Fliesen putzten. Angesichts des dichten Gedränges in der Halle war es mehr als wahrscheinlich, dass in Kürze mindestens eine der Büsten umkippen und herunterfallen würde. Die großen Risse, die den echten Marmor einiger Büsten verunstalteten, ließen darauf schließen, dass kein Schuljahr verging, ohne dass nicht wenigstens eine von ihnen auf den Boden krachte und anschließend wieder repariert werden musste.
Von jedermann unbeachtet, schlängelte er sich zwischen den ganzen Leuten hindurch, bis er auf einmal das Gewühl hinter sich gelassen hatte und in den Korridor gelangte, der von der Eingangshalle ins Gebäude führte. Das Studierzimmer des Direktors lag ein paar Meter weiter den Gang entlang. Er blieb an der Türschwelle stehen, holte tief Luft und klopfte seine Ärmelaufschläge ab. Dann pochte er an die Tür.
»Herein!«, dröhnte eine theatralisch laute Stimme.
Sherlock drehte den Knauf und drückte die Tür auf. Mit aller Macht versuchte er, einen Anfall von Nervosität zu unterdrücken, der ihm plötzlich durch die Glieder fuhr.
Er war bisher nur zweimal im Studierzimmer des Direktors gewesen. Einmal zusammen mit seinem Vater, als er das erste Mal nach Deepdene gekommen war. Dann noch einmal ein Jahr später zusammen mit einer Gruppe von Schülern, die beschuldigt worden waren, während einer Prüfung geschummelt zu haben. Die drei Rädelsführer hatten eine Tracht Prügel bezogen und waren anschließend von der Schule geflogen. Die vier oder fünf Mitläufer waren bloß verdroschen worden, bis das Blut von den Pobacken spritzte, und konnten dann bleiben. Sherlock – dessen Essays die Gruppe abgeschrieben hatte – war um die Tracht Prügel herumgekommen, indem er behauptete, von alldem nichts gewusst zu haben. In Wirklichkeit hatte er natürlich voll und ganz Bescheid gewusst. Aber er war immer so etwas wie ein Außenseiter an dieser Schule gewesen, und wenn man ihn tolerierte oder sogar akzeptierte, falls er die anderen Schüler abschreiben ließ, würde er keinerlei ethische Einwände erheben. Andererseits würde er die Abschreiber selbstverständlich auch nicht verraten. Denn andernfalls hätte man ihn zusammengeschlagen. Und vielleicht vor eines der lodernden Kaminfeuer in den Schlafsälen gehalten, bis die Haut Blasen warf und die Kleidung zu qualmen anfing. So war das Leben in der Schule eben – ein pausenloser Balanceakt zwischen Lehrern und den anderen Schülern. Und er hasste es.
Das Studierzimmer des Direktors war genauso, wie er es in Erinnerung hatte: groß, schummrig und durchdrungen von einer Geruchskombination aus Leder und Pfeifentabak. MrTomlinson saß hinter einem Schreibtisch, der groß genug war, um darauf Bowling zu spielen. Er war korpulent und trug einen Anzug, der ein bisschen zu klein für ihn war. Wahrscheinlich, weil es ihm half, sich der Illusion hinzugeben, dass er bei Weitem nicht so füllig sei, wie es offensichtlich der Fall war.
»Ah, Holmes, nicht wahr? Komm rein, Junge. Rein mit dir. Und mach die Tür hinter dir zu.«
Sherlock tat, was ihm gesagt wurde. Aber als er die Tür schloss, nahm er eine weitere Gestalt im Raum wahr: einen Mann, der mit einem Glas Sherry vor dem Fenster stand. Das geschliffene Kristallglas des Trinkgefäßes brach das Sonnenlicht in alle Farben des Regenbogens.
»Mycroft?«, sagte Sherlock überrascht.
Sein älterer Bruder drehte sich, um ihn anzusehen. In seinem Gesicht leuchtete für einen winzigen Moment lang ein Lächeln auf, das Sherlock vielleicht entgangen wäre, hätte er im falschen Augenblick geblinzelt. »Sherlock. Du bist gewachsen.«
»Du auch«, antwortete Sherlock. In der Tat hatte sein Bruder beträchtlich an Gewicht zugelegt. Er war beinahe so dick wie der Direktor. Aber sein Anzug war so geschnitten, dass dies eher kaschiert als betont wurde. »Du bist mit Vaters Kutsche gekommen.«
Mycroft zog eine Augenbraue in die Höhe. »Woraus hast du das um Himmels willen geschlossen, junger Mann?«
Sherlock zuckte die Achseln. »Da auf deiner Hose sind parallele Falten, die vom Druck des Sitzpolsters stammen. Aber ich erinnere mich, dass Vaters Kutsche einen Riss im Polster hatte, der vor ein paar Jahren nur unzulänglich repariert wurde. Der Abdruck des reparierten Risses ist auf deiner Hose zu sehen, direkt neben den Falten.« Er hielt inne. »Wo ist Vater, Mycroft?«
Der Direktor räusperte sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Ihr Vater ist …«
»Vater wird nicht kommen«, unterbrach Mycroft ihn mit sanfter Stimme.
»Sein Regiment wurde zur Verstärkung unserer Truppen nach Indien verlegt. Es gab dort Unruhen in der Nordwestlichen Grenzprovinz. Du weißt, wo das ist?«
»Ja. Wir haben Indien in Geographie und Geschichte durchgenommen.«
»Guter Junge.«
»Mir war nicht klar, dass die Einheimischen dort erneut Probleme bereiten«, knurrte der Direktor. »Es stand zumindest nicht in der , soviel ist mal sicher.«
»Es sind nicht die Inder«, gestand Mycroft. »Als wir das Land wieder von der Ostindischen Kompanie übernommen haben, wurden ihre Soldaten wieder der Aufsicht der regulären Armee unterstellt. Sie fanden das neue Regime sehr viel … nun ja … strenger als das, was sie gewohnt waren. Es hat dort jede Menge schlechte Stimmung gegeben, und die Regierung hat beschlossen, die Armeestärke in Indien drastisch zu erhöhen, um ihnen eindrucksvoll vor Augen zu führen, wie Soldaten wirklich sind. Es ist schlimm genug, wenn die Inder rebellieren. Aber eine Meuterei innerhalb der britischen Armee ist undenkbar.«
»Und es dort eine Meuterei geben?«, fragte Sherlock, dem plötzlich das Herz so schwer wurde, dass er meinte, einen Mühlstein in der Brust zu haben. »Kann Vater etwas passieren?«
Mycroft zuckte die mächtigen Schultern. »Ich weiß es...