E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Lange Florenturna – Die Kinder der Nacht
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-10-400640-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 1
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Reihe: Fischer Schatzinsel Hardcover
ISBN: 978-3-10-400640-6
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kathrin Lange wurde 1969 in Goslar am Harz geboren. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei Söhnen in einem kleinen Dorf bei Hildesheim in Niedersachsen. Seit 2005 schreibt sie sehr erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Für ihren historischen Jugendroman ?Das Geheimnis des Astronomen? wurde sie 2009 von der Jugendjury der Stadt Bad Segeberg mit der Segeberger Feder ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I. Blutnacht
Girolamo sah den Hieb nicht kommen.
Vergnügt summend saß er auf der warmen Ofenbank und hielt ein Butterbrot in den Händen, das Mama Marta dick mit Honig bestrichen hatte. Im nächsten Moment landete die Faust seines Vaters Piero mitten in seinem Gesicht. Die Brotscheibe flog durch die Luft. Schmerz zuckte durch Girolamos Lippe, Sterne tanzten vor seinen Augen, und er spürte, wie etwas Warmes über seine Haut lief. Es war Blut, vermischt mit flüssiger Butter und Speichel, das kurz am Kinn hängen blieb und dann auf sein ohnehin schon schmutziges Hemd tropfte.
»Hör auf zu singen!«, zischte Piero. Seine Stimme war flach und tonlos, und sie klang überaus gefährlich.
Mit tränenden Augen blickte Girolamo auf. Er hatte keine Ahnung, was er nun schon wieder falsch gemacht hatte, aber als er das wutverzerrte Gesicht seines Vaters über sich schweben sah, die großen Hände, die sich zu Fäusten ballten und wieder öffneten, da begriff er, dass er besser nicht nachfragte. Wütend biss er die Zähne zusammen, blinzelte die Tränen fort, und der Schmerz in seiner Lippe wurde zu einem dumpfen Pochen.
Sein Blick blieb an der silbernen Kette hängen, die Piero niemals ablegte. Der silberne Anhänger daran baumelte direkt vor Girolamos Augen: ein dreifacher Mond, dessen einzelne Sicheln Rücken an Rücken angebracht waren und auf diese Weise eine Art zackigen Stern bildeten.
»Hast du mich gehört?« Jetzt schrie Piero. An seinem Hals pochte eine einzelne Ader, dick und blau wie ein fetter, ekelhafter Wurm.
Girolamo schluckte. Rasch nickte er. »Nat-t-türlich.« Er zog die blutende Unterlippe zwischen die Zähne und saugte daran. Das Blut schmeckte bitter, und ihm wurde schlecht.
Da ließ Piero die Schultern hängen. »Verschwinde aus meinen Augen«, flüsterte er.
Das ließ sich Girolamo nicht zweimal sagen. Er rappelte sich auf die Füße und lief aus dem Haus, in den Garten, in dem Mama Marta damit beschäftigt war, die Apfelbäume zu beschneiden.
»Mistkerl!«, murmelte er. Über beide Schultern hinweg blickte er sich um, und als er sich unbeobachtet fühlte, kletterte er auf den alten Olivenbaum in der Mitte des Gartens. Er zog sich auf einen der dicken, waagerechten Äste, ließ die Beine rechts und links davon baumeln und lehnte sich gegen den Stamm, der sich in der kühlen Februarluft kalt und rau anfühlte. Der Baum stand auf einem kleinen Hügel, und darum war er Girolamos Lieblingsplatz. Von hier konnte man fast das gesamte Dorf überblicken.
»Mistk-k-kerl!«, fluchte Girolamo noch einmal. Vor Empörung und Wut war das Stottern, unter dem er mal mehr, mal weniger litt, besonders schlimm.
Sein Vater schlug ihn schon beinahe so lange, wie er denken konnte. Von einem Moment auf den anderen konnte Piero sich von einem ruhigen, freundlichen Mann in einen zornigen, brutalen Kerl verwandeln, dessen große Hände dann auf Girolamos schmächtigen Körper niedersausten, auf seine Arme, seinen Rücken — oder seinen Kopf, je nachdem, was gerade im Weg war. Und was das Schlimmste war: Hinterher versank Piero dann meistens in Selbstmitleid! Schon oft hatte Girolamo gehört, wie sein Vater sich nach einer Prügelattacke in sein Zimmer eingeschlossen und murmelnd um Vergebung gebetet hatte. Seit langem versuchte Girolamo herauszufinden, was die Stimmung seines Vaters kippen ließ, welches Verhalten ihn zum Brüllen und Schlagen trieb und welches nicht. Es war unmöglich, es vorherzusagen.
Manchmal war es auch unmöglich, es auszuhalten.
Diesmal war es nur eine Kleinigkeit gewesen. Das Lied, das er gesummt hatte.
Girolamo stieß ein bitteres Lachen aus, dann seufzte er. Wenn er doch nur schon älter wäre! Dann würde er das Dorf verlassen und nach Florenz gehen, in diese große und reiche Stadt am Arno, in der sich mit Sicherheit gut leben ließ. Aber zu seinem Bedauern war er erst elf Jahre. Viel zu jung, um sich allein durchzuschlagen. Oder?
Schlimmer als hier konnte es eigentlich nirgendwo sein.
Filippo, Mama Martas dicker, roter Kater, kam mit hoch aufgerichtetem Schwanz den Ast entlangstolziert, auf dem Girolamo hockte. Dicht vor ihm setzte er sich hin, ringelte den Schwanz um seine Vorderpfoten und schaute sein Gegenüber an, als wollte er sagen: »Na, wieder einmal Prügel bezogen?«
»Sch-schlimmer als hier k-k-kann es n-n-nirgendwo sein!«, sagte Girolamo. Filippo blinzelte und rührte sich nicht.
Der Wind drehte sich für einen kurzen Moment. Girolamo sah Mama Marta in der kühlen Februarluft erschaudern. Der Geruch von Lammfleisch, das sie auf ihrem Herd vor sich hin köcheln ließ, wehte durch ein offenes Fenster zu ihm herüber. Girolamos Magen fing an zu knurren. Das schöne Brot lag jetzt im Dreck, und der Honig sickerte wahrscheinlich gerade in die Ritzen zwischen den Holzdielen.
Girolamo rieb sich über den Bauch. Die Hose, die er trug, musste mit einem Sackband festgehalten werden, damit sie ihm nicht herunterrutschte. Obwohl Mama Marta sich alle Mühe gab, ihn dick und rund zu füttern, war er dünn und schlaksig. Er hatte einfach immer Hunger.
Seufzend kraulte Girolamo Filippos Kopf. Sonst schloss der Kater bei dieser Berührung die Augen, schmiegte die Wange in Girolamos Hand und begann zu schnurren. Heute jedoch blieb er mit wachem Blick und angespannten Ohren aufrecht sitzen.
»Was meinst du«, fragte Girolamo, »ob M-mama Marta uns ein neues B-brot macht?«
Filippo antwortete nicht. Stattdessen wandte er den Kopf und blickte in Richtung Tal und über die Straße, die sich von Florenz und Fiesole hinauf in die Hügel zu Girolamos Dorf wand. Von dort näherte sich ein Fremder. Girolamo wusste, dass es ein Fremder sein musste, denn er ritt auf einem Pferd, und im Dorf besaß niemand ein Pferd. Nur der alte Alberto, dessen Haus ganz am Rand der Felsen stand, hatte zwei Maultiere, dunkelgraue, struppige und missgelaunte Biester, denen Girolamo lieber aus dem Weg ging, weil sie nur allzu gerne mit ihren riesigen, gelben Zähnen nach ihm schnappten.
Das Pferd des Fremden jedoch war von glänzender, rötlicher Farbe. Ein Fuchs, dachte Girolamo und war stolz, dass er den Namen kannte. Das Tier hielt den Kopf hoch in die Luft gereckt. Die Sonne spiegelte sich auf seinem Hals und seinen Flanken, und das Klappern seiner Hufe schallte bis zu Girolamo herüber und verriet ihm, dass das Pferd Eisen trug.
Der Reiter war in farbenfrohe Gewänder gehüllt, die vom Februarwind gebauscht wurden. Nur eine dicke Schafsfellweste schützte ihn vor der Kälte, und ein bunter Schal, den er sich um den Hals geschlungen hatte, flatterte wie eine Fahne hinter ihm her.
Als der Wind einmal für einen Moment nachließ, konnte Girolamo hören, dass der Fremde sang: Mit weithin schallender Stimme schmetterte er ein Lied, das voller derber Scherze steckte. Ein Spielmann, dachte Girolamo. Das versprach, interessant zu werden!
Er reckte den Hals.
Der Mann ritt um einen Hügel herum, hinein ins Dorf, wo er mitten auf dem Platz sein Pferd anhielt, aus dem Sattel sprang und sich daranmachte, ein Bündel loszuschnallen. In diesem Moment richtete Filippo, der Kater, sich zu seiner ganzen Größe auf. Dann sprang er mit einem bösen Fauchen von dem Olivenbaum und verschwand in den Büschen des Gartens.
Verwundert sah Girolamo ihm nach. Er kletterte auf den untersten Ast des Olivenbaums und ließ sich wie immer rückwärts davon herunterfallen. In der Luft drehte er sich und landete sicher auf seinen Füßen.
Eilig umrundete er das Haus, spähte vorsichtig um die Ecke, ob sein Vater in der Nähe war. Doch es war niemand zu sehen, und so rannte er gleich darauf in Richtung Dorfplatz. Der Fremde hatte sich mit seinem Fuchs nicht von der Stelle gerührt. Girolamo wollte schon zu ihm, als er plötzlich aus vollem Lauf anhielt.
Sein Vater kam um eine Hausecke.
Rasch verbarg Girolamo sich in einem Gebüsch.
Piero baute sich vor dem Spielmann auf. »Niemand hat dich hierher eingeladen!«, sagte er missmutig.
Der Fremde wandte sich langsam um. Seine Bewegungen wirkten angespannt, auf der Hut. Girolamo konnte nun zum ersten Mal einen Blick in das Gesicht des Spielmannes werfen, und vor Überraschung pfiff er leise durch die Zähne.
Der Fremde war viel jünger, als er gedacht hatte!
Höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre alt konnte er sein, und sein Gesicht wirkte noch weich. Auf seinem Kinn wuchs heller, blonder Flaum, der erst später ein richtiger Bart werden sollte.
»Stimmt«, entgegnete der Spielmann, und seine Stimme klang gänzlich ruhig und freundlich. Seine Blicke huschten über Pieros Gesicht, als suche er darin etwas Bekanntes. Seine Miene wirkte leicht verwirrt, aber trotzdem lächelte er.
»Mein Name ist Matteo.« Er deutete eine Verbeugung an.
Piero ballte die Hände zu Fäusten. »Das ist mir egal«, knurrte er. »Sieh zu, dass du von hier verschwindest! Du bist hier nicht erwünscht!«
Nicht in allen Dörfern rings um Florenz waren Spielleute willkommen, das wusste Girolamo. Mancherorts verjagte man sie, weil man ihre Lieder und Kunststückchen für Teufelszeug hielt.
Matteo wirkte bekümmert. »Ich wollte nur einen Abend lang singen«, erklärte er. »Im Austausch gegen ein Nachtlager und etwas zu essen.« Seine Augen wurden eng, als Piero drohend ein Stück auf ihn zukam. »Ich bin nur ein einfacher Spielmann«, versicherte er. »Ein paar Lieder, ein oder zwei Zauberkunststückchen, mehr nicht.«
Piero kam noch ein Stück näher auf ihn zu. »Verschwinde von hier!«, zischte er, und er betonte jede einzelne Silbe dabei. Inzwischen berührten sich beinahe ihre Nasen.
Matteo blinzelte irritiert. Er trat zurück und seufzte. »Also gut! Ich werde mich nicht aufdrängen.« Er machte Anstalten,...