E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Lange Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-401-80910-6
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Märchenhafte Romantasy
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-401-80910-6
Verlag: Arena Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kathrin Lange wurde 1969 in Goslar am Harz geboren. Obwohl sie sich beruflich der Hundestaffel der Polizei anschließen wollte, siegte am Ende ihre Liebe zu Büchern, und sie wurde zuerst Buchhändlerin und dann Schriftstellerin. Heute ist sie Mitglied bei den International Thriller Writers und schreibt sehr erfolgreich Romane für Erwachsene und Jugendliche. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in einem kleinen Dorf bei Hildesheim in Niedersachsen.
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Ms Trenton. Anstaltsleitung, stand in grauen Buchstaben an der Rauchglastür, vor der Jessa saß und ungeduldig mit den Füßen wippte. Die Stuhllehne drückte schmerzhaft gegen ihren Rücken. Das war doch volle Absicht!
Wenn man zur Direktorin des Kinderheims gerufen wurde, sollte man sich nicht wohlfühlen. Ganz im Gegenteil.
Jessa dachte daran, wie die Polizei sie heute Mittag hier abgeliefert hatte. »Da haben Sie Ihre aufsässige kleine Streunerin wieder.« Das hatte einer der beiden Polizisten zu Jessas Erzieherin gesagt. Der andere hatte Jessa mit einer Mischung aus Verständnis und Mitleid angesehen. Jessa hatte ihn nur finster angestarrt. Mitleid und auch Güte, das hatte sie früh gelernt, waren nichts weiter als Mittel, sie in Sicherheit zu wiegen.
Sie seufzte. In ihren Kopfhörern fing Billie Eilish zum zweiten Mal an, Bury a friend zu singen. Der Song passte gut zu Jessas aktueller Stimmung. Zum hundertsten Mal starrte sie auf die Telefonanlage von Ms Hart, Ms Trentons Sekretärin. Das rote Licht leuchtete und zeigte an, dass die Heimleiterin immer noch telefonierte.
Jessa biss sich auf die Lippe. In ihrem Magen loderte Wut. Sie schürte sie sorgfältig.
Ms Hart, die irgendeinen schrecklich wichtigen Text in den Computer hämmerte, schaute auf. Ihr Blick glitt von Jessas klobigen Stiefeln, auf die sie mit silbernem Lackstift verschlungene, rätselhaft aussehende Symbole gemalt hatte, hinauf zu ihrer über beiden Knien zerrissenen Jeans und dem ehemals schwarzen, jetzt total verwaschenen Hoodie bis hin zu Jessas halblangen Haaren. Sie waren von Natur aus schwarz. Erst vor ein paar Tagen hatte Jessa die Spitzen frisch in leuchtendem Neonblau gefärbt.
Von diesen Haaren huschte Ms Harts Blick zu dem Silberring in Jessas Nase.
Jessa hielt dem Blick der Sekretärin stand, bis diese unbewusst die Stirn runzelte und sich dann wieder ihrer Tastatur zuwandte.
Gewonnen!, dachte Jessa mit einem Anflug von Befriedigung. Gleich darauf jedoch fühlte sie sich albern. Sie war siebzehn. Vielleicht sollte sie langsam mal mit diesen unreifen Spielchen aufhören.
Aber nicht heute.
Um Ms Hart noch ein bisschen mehr zu ärgern, schob sie die Ärmel ihres Hoodies bis zu den Ellenbogen hoch. Auf diese Weise wurden die beiden Tattoos an ihren Unterarmen sichtbar.
Ms Hart schüttelte nur den Kopf, während sie angestrengt auf den Monitor starrte.
»Coole Tattoos!« Die Frau auf dem Stuhl neben Jessa sprach laut, um Billie Eilish zu übertönen.
Jessa seufzte hörbar. »Ja«, erwiderte sie einsilbig. »Cool.« Bis eben hatte sie es geschafft, die Frau zu ignorieren, die ebenfalls hier wartete, um mit Ms Trenton zu reden. Children’s Retreat, das Kinderheim, das seit Jahren Jessas Zuhause war, wurde von einer karitativen Stiftung finanziert und die Frau gehörte zum Stiftungsrat. Jessa musterte ihr karamellfarbenes Twinset, ihren schmalen Rock und die hochhackigen Pumps.
Spießerin.
Als die Frau reingekommen war, hatte Ms Hart sie mit Vornamen angesprochen, darum wusste Jessa, dass sie Cally hieß. Cally lächelte jetzt. Es sah sehr professionell aus. Vielleicht war sie Politikerin, dachte Jessa. Ihr wurde bewusst, dass sie sich unablässig über den linken Unterarm strich.
Whatever our souls are made of…, stand dort. Und auf dem rechten Arm ging das Zitat weiter: … yours and mine are the same.
Wie immer, wenn Jessa die Worte anschaute, schoss ihr ein schmerzhafter Stich durchs Herz. Was auch der Sinn gewesen war, sich dieses Tattoo stechen zu lassen. Es sollte sie erinnern. Jeden Tag.
Und es machte seinen Job ziemlich gut.
Cally sagte irgendwas, das Jessa nicht verstand, und weil Ms Hart schon wieder missbilligend guckte und dann demonstrativ gegen ihr Ohr tippte, zog Jessa seufzend einen der Stöpsel heraus.
»Wie lange hast du das schon?«, wiederholte Cally ihre Frage. »Das Tattoo, meine ich.«
Jessa überlegte, ob sie ihr irgendeine Lüge auftischen sollte.
»Jessica!«, sagte Ms Hart mahnend, also zwang Jessa sich, eine ehrliche Antwort zu geben.
»Seit ein paar Monaten.«
Callys sorgfältig gezupfte Augenbrauen hoben sich erstaunt. »Wie alt warst du da? Fünfzehn?«
»Siebzehn«, korrigierte Jessa. Genau genommen hatte sie es sich am Tag nach ihrem siebzehnten Geburtstag stechen lassen.
»Was für ein Tätowierer macht einem siebzehnjährigen Mädchen ein Tattoo, wenn es keine Erlaubnis seiner Eltern vorlegen kann?« Völlig arglos sah Cally Jessa an und schien überhaupt nicht zu bemerken, wie unsensibel ihre Frage war.
Na, vielen Dank!, dachte Jessa und das Lodern in ihrem Magen verzehnfachte sich. Sie lauschte in sich hinein und versuchte herauszufinden, was genau sie fühlte. Schmerz? Trauer? Keins von beidem, entschied sie. Der Autounfall, bei dem ihre Eltern gestorben waren, war viel zu lange her, als dass sie deswegen noch allzu viel Trauer spürte, und auch Alice …
Sie kappte die Gedanken. »Es gibt in Soho ein paar, denen ist das Alter ihrer Kunden egal«, hörte sie sich auf Callys Frage antworten.
»Schlimm genug.« Cally beugte sich vor und betrachtete die schwarze Schrift auf Jessas Armen. »Das ist sehr gut geworden. Es muss ziemlich teuer gewesen sein. Wie konntest du dir so was leisten?«
»Ich habe ihn mit Sex bezahlt.«
Cally riss erschrocken die Augen auf und Jessa hätte fast laut lachen müssen.
»Sie veralbert Sie, Cally«, sagte Ms Hart sanft.
Jessa blies sich gegen die blauen Haarspitzen. Dann zuckte sie mit den Schultern.
Cally neigte den Kopf zur Seite. »Warum tust du das?«
Tja. Warum?
Jessa wusste es nicht genau. Alles, was sie wusste, war, dass sie wütend darüber war, hier sitzen und dieses dämliche Gespräch führen zu müssen. Eigentlich war sie andauernd wütend. Manchmal fand sie sogar die Vögel im Baum vor ihrem Zimmerfenster scheiße oder einen Löwenzahn, der sich durch den Asphalt der Straße gequetscht hatte. Sie atmete durch, strich zum x-ten Mal über die Schrift auf ihrem Arm. Seit sie vierzehn war, hatte sie kleinere Jobs angenommen und das dabei verdiente Geld gespart, um sich dieses Tattoo leisten zu können. Sie hatte Zeitungen ausgetragen, im Supermarkt Regale eingeräumt und den Hund einer alten Frau aus der Nachbarschaft ausgeführt. Einmal hatte sie sich auch als Babysitterin beworben. Sie mochte kleine Kinder und sehr oft mochten die Kinder auch sie. Aber die meisten Eltern hatten Probleme damit, ihren wohlbehüteten Sprössling einem Punkgirl wie ihr anzuvertrauen. Darum hatte Jessa die Suche nach einem Job als Babysitterin schnell wieder aufgegeben. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten. Sie hatte es nicht nötig, dass man sie gut fand.
Cally änderte ihre Strategie. »Man hat mir gesagt, dass du heute Morgen mit einem Streifenwagen hier abgeliefert worden bist. Was hast du angestellt?«
Echt jetzt?
»Du hast geklaut, stimmt es?«, hakte Cally nach.
»Möglich.« Zu Jessas grenzenloser Erleichterung erlosch in diesem Moment das rote Licht an der Telefonanlage. Ms Hart erhob sich und Jessa dachte schon, dass sie nun in das Büro der Heimleiterin geführt werden würde. Aber Cally wurde vorgelassen.
War ja klar!
Als sich das Geräusch der hohen Absätze hinter der Tür verlor, atmete Jessa auf und steckte sich den Kopfhörer wieder ins Ohr. Bury a friend war gerade zu Ende und der unheimliche Song begann von vorn. Jessa hatte ihn auf Dauerschleife gestellt. Er lief so lange, bis nach ungefähr einer halben Stunde Cally wieder aus dem Büro kam.
»Du kannst jetzt reingehen«, sagte Ms Hart zu Jessa.
Die zog die Kopfhörer aus den Ohren und stand auf.
Ms Trenton saß hinter ihrem wuchtigen Schreibtisch und blätterte in ein paar Papieren, wie sie es meistens tat, wenn Jessa bei ihr antanzen musste. Das war irgend so eine Masche, die einen kleinmachen sollte. Jessa tat so, als würde sie bei ihr nicht wirken, aber leider wirkte sie sehr wohl.
Fuck!
»Das wievielte Mal war das jetzt in diesem Jahr?«, fragte Ms Trenton noch immer, ohne aufzusehen.
Jessa wusste natürlich genau, wovon sie sprach. Sie schwieg trotzdem.
»Dass die Polizei dich hier abgeliefert hat, meine ich.« Die Heimleiterin hob den Blick und bohrte ihn in Jessas Augen. Sie hatte ein schmales blasses Gesicht, das stets perfekt geschminkt war, und eine breite silberne Strähne in ihrem schwarzen Haar. Als Jessa nicht antwortete, meinte sie: »Nun, dann will ich deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Das vierte Mal. Ich an deiner Stelle wäre nicht stolz darauf. Was hast du diesmal angestellt?«
Jessa zerrte an ihrem Hoodie. »Ich habe meinen Körper an einen Tätowierer in Soho verkauft.«
Ms Trenton schnaubte nur. Dann tippte sie auf die Papiere. »Fassen wir mal zusammen: Beim ersten Mal waren es mehrere Tage Herumlungern mit ein paar Punks an St. Pankras. Beim zweiten Mal tätlicher Angriff auf einen Versicherungsangestellten …«
»Der Typ hatte mich angegrapscht!«, rief Jessa aus und wurde sofort wieder wütend, als sie daran dachte. Der Typ hatte seine dreckigen Finger schon fast unter ihrem Shirt gehabt, bevor sie ihn mit einem gezielten Fausthieb auf die Nase hatte stoppen können. Und anschließend hatte sie den Ärger gekriegt! Der Kerl war einfach so davongekommen, weil er behauptet hatte, sie würde lügen!
»Wenn man sich als Mädchen mitten in der Nacht in der U-Bahn rumtreibt«, sagte Ms Trenton kühl, »dann darf man sich nicht wundern, Jessa.«
Jessa warf sich gegen die Rückenlehne...