E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Langhirt / Hopf / Burchartz Kinder und Jugendliche im Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-17-033762-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Herausforderungen für die psychodynamische Psychotherapie
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-17-033762-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Volker Langhirt ist Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeut sowie Familientherapeut. Ein Arbeitsschwerpunkt seiner Tätigkeit ist die psychotherapeutische Behandlung von transidenten Entwicklungen Jugendlicher und ihrer Angehörigen.
Weitere Infos & Material
1 Kinderanalyse im Wandel der Zeit
Das Individuum steht in einer nicht auflösbaren Beziehung zu seinem sozialen Umfeld. Dessen stetiger Wandel setzt gewaltige Anpassungsfähigkeiten beim Einzelnen voraus, die gelingen können oder scheitern. Auch die psychoanalytische Haltung des Praktikers ist von dieser sich stetig verändernden Umwelt beeinflusst. Insbesondere Kinder und Jugendliche, Seismographen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, präsentieren in ihren Therapien Konfliktbereiche, die im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umfeld stehen. Man denke nur an die Veränderung familiärer Systeme, Keimzellen der Gesellschaft. Eine Aufgabe des Kinderanalytikers ist es, sie zu verstehen und die gesellschaftlichen Ursachen hierfür zu erkennen. Die Kinderanalyse sollte auf Stolpersteine der gesellschaftlichen Anforderung hinweisen und sich innerhalb des öffentlichen Diskurses positionieren. Aktuell bestehen gesellschaftlich massive Konflikte der Integration ausländischer Mitbürger, die Praxen werden damit konfrontiert. Zahlreiche fundierte Veröffentlichungen gelangen nicht in die öffentliche Debatte. Die Veröffentlichung von Hopf »Flüchtlingskinder« (2019) stellt in ihrer Ausgewogenheit und Authentizität eine Seltenheit dar. Die Reflexion psychotherapeutischen Arbeitens im gesellschaftlichen Kontext, das heißt der Diskurs zwischen traditioneller Theorie und aktuellen Erkenntnissen bzw. Erfahrungen, sowie die Offenheit bzw. Toleranz für aktuelle Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sind für den Kinderanalytiker bedeutsam. Bereits vor über 30 Jahren verwies Hohl (1989) darauf, dass die klassischen Neurosen zunehmend von der Bildfläche verschwinden und neue Störungen, diffus und heterogen in ihren einzelnen Phänomenen, erscheinen (ebd., S. 103f). Tiefgreifende veränderte Persönlichkeitsstrukturen etablieren diese neuen Störungsbilder, z. B. Identitätsstörungen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkennt Hohl einen Wechsel der zentralen Problematik des Menschen von der Sexualität hin zur Identität, dem Selbst. Da die Frage der Identität für ihn in den neuen Störungsbildern offensichtlich ist, verweist er auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die es dem Individuum sichtlich erschweren, vor dem Hintergrund einer gefestigten Identität den gesellschaftlichen Anforderungen nachzukommen (ebd., S. 117). Nicht der gesellschaftliche Kontext sei ursächlich verantwortlich für die Entstehung entsprechender Pathologien, sondern sein Zusammentreffen mit der kindlichen oder jugendlichen Psyche, die eine entsprechende Disposition zur Verfügung stellten. Hohl sieht einen wesentlichen Aspekt dieser neuen Störungskategorie in einer sich verändernden Eltern-Kind-Beziehung.
Ich sehe einen Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Umwälzungen und der Symptomatik von Kindern und Jugendlichen. Ich möchte diesen Band unter einem dynamischen Blickwinkel zwischen den Generationen beschreiben, das heißt, welche Schwierigkeiten sich für die ältere und jüngere Generation aus dem aktuellen gesellschaftlichen Kontext ergeben.
1.1 Gesellschaft und Krankheit
Finzen (2018) beschreibt die unübersichtliche Fülle von Definitionen und Kategorien des Begriffes Krankheit, vor allem im psychiatrischen Bereich. Der Krankheitsbegriff steht unmittelbar in einem Wechselspiel zur jeweiligen gesellschaftlichen Realität. Krankheit impliziert die jeweilige aktuelle Definition von Gesundheit, Gesundheit wiederum die Zuschreibung von Normalität. Diese Kategorien unterscheiden bzw. verändern sich entsprechend den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und ihres Kontextes. Auffälliges Verhalten wird zunächst durch ein Verständnis von Normalität beschrieben (ebd., S. 34).
Christa, 19 Jahre, befindet sich seit einiger Zeit in psychotherapeutischer Behandlung. Ihr vorheriger Klinikaufenthalt attestierte ihr als Diagnose eine schwere Depression. Eine niedergelassene Psychiaterin, die die Patientin während ihrer psychotherapeutischen Behandlung aufsuchte, äußerte, bei Christa keine Depression diagnostizieren zu können. Christa hatte große Schwierigkeiten, ihren Lebensalltag zu meistern und ihren Entwicklungsaufgaben nachzukommen. Sie erlebte sich völlig antriebslos, hatte massive Probleme, eine Arbeitsmaßnahme des Arbeitsamtes zu absolvieren und wirkte in der Regel sehr gereizt. Ein Internist kam auf die Idee, dass die Antriebslosigkeit somatischer Herkunft sei. Diese blieb in der Folge jedoch ohne nennenswerte Ergebnisse. Christa konsultierte weiterhin verschiedene Ärzte, da sie kaum mit ihrer psychischen Problematik zurechtkam. Ihre Umwelt grenzte sie zusehends aus. Ihre Mutter meinte, sie solle sich zusammenreißen, früher ins Bett gehen und motiviert aufstehen. Sie selbst, so berichtet die Mutter, habe zeitweise keine Lust, ihrer Arbeit nachzugehen, dennoch müsse sie ihre Verpflichtungen erfüllen. Christa selbst kam zusehends unter Druck aufgrund der Reaktionen ihrer Umwelt.
Ich möchte dieses Beispiel anführen, um zu zeigen, wie unterschiedlich psychische Krankheit bewertet wird. In der Familie wird Christa als unmotiviert wahrgenommen, die es nicht gelernt hat, den Regeln oder Pflichten des Lebens nachzukommen. Auch in der Fachwelt gibt es, wie Christas Beispiel zeigt, keine eindeutige Diagnostik, sie ist scheinbar abhängig von Profession, Kenntnisstand und persönlicher Bewertung. Die Frage der Auffälligkeit oder der Normalität nimmt auch in der Fachwelt ideologisch gefärbte Beschreibungen an, das Beispiel des ADHS-Störungsbildes bestätigt dies. In einer Zeit der Individualisierung erscheint im Gegenzug die Individualität des Kindes mehr als ein Phänomen der Grenzenlosigkeit, der übersteigerten Emotionalität und der Gefahr, den Erwartungen der Gesellschaft nicht mehr entsprechen zu können. Anscheinend ist heute mehr denn je die Befürchtung der Ausgrenzung und des Versagens vorherrschend. Keupp (2007) verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem Ideal der Autonomie und dem Zwang der Konformität. Göppel (1989) stellt in seinem Buch die kindlichen Auffälligkeiten vor dem Hintergrund der Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts dar. Ausgehend von den Geschichten des Struwwelpeters versucht er eine Linie des auffälligen Kindes durch die Geschichte der letzten Jahrhunderte zu zeichnen.
»Jederzeit und jede Gesellschaft bringt ihre eigenen Widersprüche und Belastungen hervor, die das gedeihliche Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen gefährden. Jede neue Generation entwickelt ihre eigenen Probleme, Widerstände und Störungen in Auseinandersetzung mit den kulturellen Gegebenheiten und Forderungen, die sie vorfindet.« (ebd., S. 8)
Maria, 18 Jahre, bestach durch ihre ausgezeichneten Leistungen in der Schule. Je näher das Abitur rückte, umso mehr löste sie ihre bisherigen Beziehungen auf. Ihr Wunsch war ein Studium, dessen Zugangsvoraussetzungen vom Notendurchschnitt des Abiturs das schwierigste Studienfach darstellte. Erfolg und Attraktivität durch ihre besonderen Leistungen waren die Maxime ihres Lebens. Zusehends erlebte sie ihre Umwelt als Hemmschuh ihrer persönlichen Entwicklung, Freundschaften wurden aufgekündigt, um des eigenen Zieles willen. Maria hatte einen Abiturdurchschnitt von 1,0, Begeisterung und Idealismus fehlte in ihrer Reaktion. Ihre Beziehungen prägten sich jedoch zunehmend, gewissermaßen oberflächlich. Sie spürte für Momente ein Gefühl der Einsamkeit, stets durch ein maskenhaftes Auftreten kaschiert. Sie befand sich in einem massiven Konflikt. Maria brach ihre Psychotherapie ab, da sie auch ihren therapeutischen Prozess als Hindernis ihrer Leitidee, um jeden Preis souverän und erfolgreich zu sein, erlebte. Sehnsüchte nach Geborgenheit und Halt, die Suche nach der eigenen Identität und ihres Kontinuums in der Lebensgeschichte wurden von ihr abgewehrt.
Marias Fall zeigt eine Schattenseite unserer heutigen Zeit. Beziehungen, in denen gemeinsame Lebenswege reflektiert werden können und sich der Einzelne der geschützten Betrachtung von außen unterziehen kann, treten in den Hintergrund. Wir würden diesen Fall heute den narzisstischen Störungsbildern zuordnen.
Das soziale Umfeld in seiner Bewertung von Krankheit und in der Beteiligung krankheitsverursachender Faktoren stellt ein sehr komplexes Thema dar, das den Rahmen hier sprengen würde. Ich möchte dies zur Vereinfachung am Beispiel ADHS skizzieren. Die Diskussion um dieses Störungsbild spaltet die Öffentlichkeit grundsätzlich in Gruppen, die jeweils die Wahrheit für sich reklamieren. Besonders interessant erscheint die Bewertung und Interpretation dieses Störungsbildes über die Jahrzehnte hinweg, dessen sich Göppel (1989) angenommen hat. Kritisch an diesem...




