Lauveng Nutzlos wie eine Rose
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-09862-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit in der Psychiatrie
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-641-09862-9
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie schon in ihrem ersten Buch 'Morgen bin ich ein Löwe' stellt die Psychologin Arnhild Lauveng den Umgang der Gesellschaft mit psychischen Leiden und psychisch erkrankten Menschen in Frage. Vor dem Hintergrund ihrer eigenen, zehn Jahren andauernden Erkrankung, ihrem Heilungsprozess und ihrer nachfolgenden Ausbildung als klinische Psychologin schildert sie eindringlich ihre Erfahrungen als Patientin und als Psychologin. Dabei stellt sie stets den Menschen und seine Bedürfnisse in den Vordergrund. Wer bestimmt in der modernen Leistungsgesellschaft, was es heißt, gesund zu sein? Müssen ehemals Erkrankte doppelt so schnell und effektiv sein, um als gesund akzeptiert zu werden? Mit ihrem emotionalen, verblüffend offenen Buch richtet sich Arnhild Lauveng an alle, die in der Psychiatrie arbeiten oder in irgendeiner Weise selbst betroffen sind.
Arnhild Lauveng, Jahrgang 1972, hat an der Universität von Oslo studiert und arbeitet heute als klinische Psychologin, daneben ist sie erfolgreiche Buchautorin und gefragte Referentin. Für ihr Bemühen um mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Erkrankungen wurde sie 2004 mit dem Mental Health Prize ausgezeichnet.
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Ich werde sie niemals vergessen. Sie war winzig, viel kleiner als die anderen Sternenkinder, die neben ihr standen. Sie hatte glänzende, schwarze Haare und der Blick ihrer leicht schräg stehenden Augen war ungemein zielstrebig und konzentriert. Sie wollte ihre Lampe wieder ankriegen, und sie bekam sie, wider alle Vernunft, tatsächlich an. Sie war zu klein, um zu verstehen, dass das, was sie da versuchte, unmöglich war, und zeigte keine Überraschung, als ihre Lampe plötzlich wieder brannte. In ihrem Blick war einzig Zufriedenheit darüber zu erkennen, dass sie es geschafft hatte. Ich saß ganz hinten im Zimmer und hatte eigentlich nicht die geringste Lust gehabt, zu dieser Veranstaltung zu kommen. Ich war wieder in eine Klinik eingewiesen worden, in dieser gab es mehrere Stationen für Alte und eine für Menschen mit langwierigen, psychischen Leiden. Ich war müde, resigniert und traurig und freute mich nicht im Mindesten auf Weihnachten, so dass ich weiß Gott keine Lust hatte, mir von so süßen Kleinen vor Augen halten zu lassen, was alles ich niemals mehr erreichen würde. Das Personal sah aber keinen Anlass, warum ich auf meinem Zimmer bleiben sollte, weshalb ich schließlich doch ganz hinten im Aufenthaltsraum saß und alles versuchte, um nicht an Schule, Kinder, Familie, Weihnachten und Weihnachtsvorbereitungen zu denken. Vielleicht habe ich deshalb bemerkt, was sie da versucht hat – ich weiß nicht, ob irgendeinem der anderen das überhaupt aufgefallen ist. Sie war so natürlich, so freiheraus, ihre ganze Handlung hatte nichts Sensationelles – jedenfalls nicht für sie. Als sie auf ihren sehr weißen Strümpfen wieder aus dem Raum lief, war ich noch immer nicht in Weihnachtsstimmung. Ich war aber daran erinnert worden, dass Wunder geschehen können, und dies so zuverlässig und beiläufig, dass man sie kaum mehr bemerkte, ja so natürlich, dass man sie übersah, wenn man nicht ganz genau hinschaute. Und ich war daran erinnert worden, wie notwendig es ist zu glauben und in diesem Glauben auch zu handeln. Wenn die Kleine da nicht voll und ganz daran geglaubt hätte, dass es möglich ist, eine Glühbirne wieder zu entfachen, indem man sie an eine andere hält, hätte sie es nie versucht. Und dann hätte sie kein Licht bekommen.
Glauben kann so viel sein. Glaube kann wie Hoffnung aussehen, doch wo die Hoffnung sich etwas wünscht, bringt der Glaube Gewissheit. Hofft man, träumt man davon, dass die Dinge sich ändern, glaubt man, handelt man in der Gewissheit, dass sie sich ändern werden. Ich habe es niemals geschafft, daran zu glauben, dass ich wieder gesund werde. Ich habe es lange gehofft, aber geglaubt habe ich es nicht. Auch ist es mir nicht gelungen, an andere Menschen zu glauben. Sie waren so schwer zu verstehen, und immer gab es so viel Unsicherheit, so viele Missverständnisse. Und an mich selbst glaubte ich so gut wie nie. Meinem Kopf konnte ich nicht mehr trauen, ebenso wenig meinen Handlungen. Ich konnte nie damit rechnen, dass ich hinbekam, was ich mir wünschte, oder sein ließ, was ich nicht wollte. Ich war mein ärgster Feind geworden – und wer vertraut schon seinem Feind?
Trotzdem glaubte ich. Ich habe einen Kinderglauben, der mich schon seit meiner Kindheit begleitet. Ich glaube an einen lieben Gott, einen Gott, der in guten und schlechten Tagen bei einem ist und der auch immer da sein wird. Ganz gleich ob ich nun gesund würde oder nicht. Gesund zu werden, war in meinem Traum nicht das Wichtigste, wenn ich auch hin und wieder darum bat. Weit wichtiger war es mir, die Gewissheit zu haben, dass es ihn wirklich gab. Egal. In Hesekiel 34, 16 steht: »Ich will das Verlorene (Schaf) wieder suchen und das Verirrte wiederbringen und das Verwundete verbinden und des Schwachen warten; aber was fett und stark ist, will ich vertilgen und will es weiden mit Gericht.« Diese Stelle der Bibel mochte ich sehr gern. Es fiel mir leicht, mich mit Schafen zu identifizieren, auch wenn ich wusste, dass ich nicht wirklich eines war, sondern nur ein Leben wie ein Schaf führte. Viel größere Bedeutung aber hatte ein anderer Aspekt. Die Schwachen sollen Fürsorge erhalten, die Starken Möglichkeiten. Wenn ich krank bin, ist das okay. Solche Worte brauchte ich, lebte ich doch in einer Wirklichkeit, in der der Kapitän und meine Selbstverachtung mich jedes Mal straften, wenn ich schwach war und mir etwas nicht gelang. Zugleich hatte ich Angst, notwendige Behandlungen nicht zu erhalten und keinen Zugang zu sozialen Netzwerken zu bekommen, wenn ich zu gut funktionierte und alles schaffte. Ich hatte Angst, zu versagen, und Angst, etwas zu schaffen. Vielleicht glaubte ich nicht wirklich an all diese Worte, jedenfalls nicht so, dass ich danach zu leben bereit war, aber sie taten mir gut. Sie trugen so viel Gnade in sich, und Gnade war ein wohltuender Gegensatz zu den wütenden und nie enden wollenden Forderungen des Kapitäns. »Es ist nicht so wichtig, was du tust«, las ich. »Du wirst trotzdem geliebt.« Wunderbar. Außerdem war es gut, zu wissen, dass es etwas gab, das größer war als ich. Ich hatte den Überblick total verloren, wusste, dass überall nur Chaos war, und da tat es gut, sich vorzustellen, dass Er vielleicht verstand, was hier vor sich ging.
Wenn ich darüber nachdenke, ist mein Glaube von Gnade geprägt, von der Idee von Freiräumen und Akzeptanz. Es gibt nur wenig Forderungen und Ermahnungen, wenig Pflichten und Ängste, mehr Himmel als Hölle und eine Unmenge Güte, Wärme und – Humor. Ich bin vollkommen davon überzeugt, dass Gott viel Humor haben muss, schließlich wäre es nicht ganz einfach, uns Menschen einen Sinn für Humor zu geben, wenn er ihn nicht selber hätte. Je mehr Naturdokumentationen ich sehe, sei es nun über Igelfische, großartige Affen und merkwürdige Reptilien, desto überzeugter bin ich davon, dass man solche Geschöpfe nur erschaffen kann, wenn man einen gewaltigen Sinn für Humor hat und voller Lebensfreude ist. Aber das denke ich jetzt. Als ich krank war, war die Gnade von weitaus größerer Bedeutung, kombiniert mit der Akzeptanz von Leiden. Trost und Halt fand ich auch in den Büchern Hiobs und in all den Psalmen, die Schmerz ausdrückten, Sehnsucht, Hoffnung und Trotz. »Hab sinniert bis in den Tod«, sang ich und spürte in all meinem Schmerz, wie gut es war, dass auch andere vor mir schon einmal auf die gleiche Weise empfunden hatten. Dass man grübelte und grübelte und doch nirgends eine Lösung fand, weil es einfach keine Lösung gab, sondern nur Schmerz. Und wenn der Psalm weiterging mit der Zeile »so sag doch, was du denkst, mein Gott«, war es trotz allem gut, Hoffnung zu haben und das Grübeln für einen Moment den anderen zu überlassen. Ich will ehrlich eingestehen, dass ich nicht erwartete, dass »aus Zweifel und Schmerz sich das Morgenrot erhebt«, aber das war auch nicht das Wichtigste. Mir reichte es, Worte für den Schmerz zu bekommen und eine Art Billigung, das Grübeln Gott zu überlassen, jedenfalls für ein paar Stunden oder Minuten. Mehr konnte ich nicht annehmen, aber wenn der Schmerz erst groß genug ist, kann wenig unglaublich viel sein.
Glauben ist eine sehr persönliche Sache. Manche glauben an andere Götter als ich. Andere glauben an Dinge, die sie nicht Gott nennen wollen, die aber wichtig für sie sind. Dinge wie Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde. Wieder andere sind auch meinem Gott und seinen Dienern begegnet, haben aber vieles ganz anders erlebt, so dass ihr Bild von Forderungen, Verdammung, engen Grenzen und Strafen geprägt ist. Es gibt Menschen, die Angst bekommen, traurig oder wütend werden, wenn Worte wie Glauben oder Religion auch nur erwähnt werden. Das müssen wir akzeptieren. Auch wenn Übergriffe und Machtmissbrauch nie toleriert werden dürfen, müssen wir den Menschen das Recht zugestehen, zu glauben, was sie wollen und was ihnen entspricht. Ich sehe darin ein Beispiel für all das, was größer ist als wir selbst. Das uns für einen Moment aus unserem Alltag entführen kann, uns an Dinge erinnert, die wir vergessen haben, und uns hilft, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Das kann der Glaube sein, aber auch etwas ganz anderes.
Als ich krank war, erlebte ich so vieles als schwierig, dass häufig nur das ganz Simple zu mir vordrang. Ich las noch immer gerne, jedenfalls zeitweise, aber mitunter wurde mir auch das zu anstrengend. Dann lieh Mama in der Bibliothek Bilderbücher für mich aus, kleine Bilderbücher, die keine bösen, bedrohlichen Themen enthielten, mit wenig Text und vielen Abbildungen, in die ich mich lange vertiefen konnte. Das Personal war der Ansicht, meine Mutter würde mich nicht mehr als Erwachsene behandeln. Aber das stimmte nicht, sie behandelte mich ganz richtig. Sie redete mit mir, fragte mich nach meinen Wünschen und nahm meine Antworten ernst. Ich wünschte mir Ablenkung, verkraftete aber nur wenig. Ich wollte die Bilderbücher nicht, weil ich dumm war oder nicht mehr lesen konnte, sondern weil ich müde war. Es wird allgemein akzeptiert, dass Menschen mit ernsten physischen Erkrankungen verminderte Energie haben und weniger als sonst verkraften und dass die Aktivitäten, auf die sie noch Lust haben, darauf ausgerichtet sein müssen. Dasselbe gilt natürlich auch für ernste psychische Erkrankungen. Manchmal verkraftet man fast so viel wie zuvor, andere Male weniger und manchmal fast gar nichts. Oder es ermüden einen andere Dinge als früher, oder auf andere Weise.
Ich lese gerne, das habe ich immer getan, aber manchmal, wenn die Grenzen der Welt zu zerbrechen drohten und unvollständig erschienen, wurde das Lesen zu beklemmend und invadierend. Dann wirkten die Worte bedrohlich, und die Handlung wurde unklar. Schon die Tatsache, sich an Sätze halten zu müssen, an all die Worte mit ihren kleinen, bösen Buchstaben, die zu etwas Gefährlichem...