Lebert | Die Dunkelheit zwischen den Sternen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Lebert Die Dunkelheit zwischen den Sternen

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-10-490477-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-10-490477-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wo kann man Heimat finden zwischen Hoffnung und Verlorenheit? Keiner kann davon erzählen wie Benjamin Lebert. Ein Roman über die letzten Tage vor dem Erdbeben in Nepal. Kathmandu im April 2015. Bis zum großen Beben sind es noch neun Tage. Shakti, Achanda und Tarun leben in einem Kinderheim, das für sie so etwas wie ein Zuhause ist. Sie träumen von Freundschaft, der Pflegefamilie, einem Motorrad, sie erleben eine Ahnung von Glück. Ihre Eltern hatten sie in die Zwangsarbeit und in die Prostitution verkauft, irgendwann konnten sie fliehen. Man lässt sie glauben, dass es ihnen jetzt gut gehen wird, aber natürlich wissen sie es besser. Sie sind am Leben, sie trauen niemandem, sie suchen einen Weg durch die Dunkelheit und wissen nicht, wie wenig Zeit ihnen bleibt.

Benjamin Lebert lebt in Hamburg. 1999 erschien sein erster Roman »Crazy«, der in 33 Sprachen übersetzt und von Hans-Christian Schmid fürs Kino verfilmt wurde. Es folgten fünf weitere Romane. Er war für eine Hilfsorganisation eine Zeitlang in einem Kinderheim in Nepal und erzählt in seinem Roman »Die Dunkelheit zwischen den Sternen« (2017) von diesen Kindern und ihrem Leben.
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Noch neun Tage


Achanda


Die Sonne ist eine Verräterin. Sie ist nicht schüchtern wie Misha, die ihre Augen senkt. Sie will nicht schlichten wie Housemother. Sie ziert sich nicht. Sie streckt ihren schimmernden Finger aus und sagt hier, hier und hier. Hier, sagt sie, der zerfetzte Körper eines Fisches im Staub, Gewölk aus Insekten drumherum. Hier der Straßenhund: steif, zottelig, hungergesichtig. Die feuchte Nase als Wegweiser. Er ist noch am Leben, obwohl er es besser wissen müsste.

Wir kennen uns, wir beide. Wir gehören Kathmandu, seinen Pfaden, seinem Granatapfelrot. Wir haben viel gemeinsam. Wir können uns nicht entgehen und haben doch nichts voneinander.

Hier das hellhäutige Mädchen auf der Tafel, die an der Hauswand über den schiefen Balkonen befestigt ist. Das Mädchen auf der Tafel ist glücklich, weil es die süße Flüssigkeit trinkt, die prickelt und ein Feuerwerk auf der Zunge zündet. Daneben eine zweite Tafel: dasselbe Getränk, andere Farben. Anderes Mädchen. Aber auch hellhäutig. Auch glücklich.

Hier, hier und hier – die Motorräder, dunkel, grollend –, künstliche Bestien, die alles Leben und die Geister der Stadt wie Beute vor sich herjagen. Ich träume, ich werde auch eins haben. Es wird nicht mehr lange dauern. Ich werde mein Gesicht mit einem Tuch verhüllen und einen Helm und eine dieser Brillen tragen, die meine Augen auslöscht. Dann werde ich davonfahren. Staub wirbelt auf, und nichts bleibt zurück. Auch nicht die Erinnerung.

Ich werde Shakti mitnehmen. Sie wird kein albernes Kind mehr sein, das auf einem Bein hüpft und das Krokodil-Lied singt. Sie wird etwas anderes sein. Erwachsen. Und schön. Ja, sehr schön wird sie sein. Und glücklich, wenn ich sie mit mir nehme. Und die Bestie nur auf meine Befehle hört und uns fortträgt.

Die Sonne lügt. Genauso wie die Nacht. Die Nacht lügt, weil sie verbirgt, ohne ein Unterschlupf zu sein. Die Sonne lügt, weil sie alles herzeigt. Auch das, was gar nicht da ist.

Ich bin froh, wenn das Treffen mit dem Alten vorbei ist. Der Alte ist verschlagen und heckt immer etwas aus. Sein breiter Mund grinst, obwohl es nichts zu grinsen gibt. Er geht mit leisen Sohlen auf Wegen, auf denen er nichts zu suchen hat. Seine Hände nehmen viel und geben wenig. Seine Hände sind kräftig. Seine Hände zittern, wenn sie zuschlagen wollen.

Der Junge weicht mir nicht von der Seite. Der Junge, der Tarun heißt. Bleibt in meiner Nähe. Will unbedingt dabei sein. Der Junge hat den Alten noch nie gesehen, und ich verrate ihm auch nicht, was ich mit dem Alten zu tun habe.

Das geht dich nichts an, sage ich. Einfach ein Mann, den ich treffen muss. Mehr nicht. Ich sage ihm, dass er zurückbleiben soll, wenn ich mit dem Alten rede. Dass der Alte nicht mitkriegen darf, dass er zu mir gehört.

Weil er es sich sonst anders überlegen könnte.

Und ich in Schwierigkeiten komme.

Ich sage ihm, dass er nicht wissen darf, wie der Alte aussieht. Weil es nicht gut ist für ihn, wenn er es mit dem Alten zu tun bekommt. Weil es zu gefährlich ist für ihn.

Der Junge hat etwas Grünes an, das ein Brother von weither dagelassen hat. Etwas Grünes mit seltsamer Aufschrift. Ich mag die Sachen nicht, die die Menschen von weither dalassen. Alle bei uns im Haus finden sie schön. Ich finde nicht, dass sie schön sind. Sie sehen lieblos aus. Es macht keinen Unterschied, wer sie trägt. Und man hat dann so ein Gefühl, als wäre es egal, welcher Morgen kommt oder ob man zu den Göttern betet. Manchmal habe ich Angst, dass es wirklich egal ist. Dass wir eh verloren sind. Aber das darf man nicht denken. Man denkt es trotzdem. Unbeabsichtigt. Wenn die Nacht draußen weit ist wie eine schwarze Wüste, die den Hunden gehört, den Hunden und Gaunern. Und wir Kinder dicht an dicht in den Stockbetten liegen. Aber zeigen darf man es nicht, keinesfalls.

Rinki und Prakash dürfen zur Schule gehen. Sie dürfen die Schuluniform anziehen. Das Blau der Uniform ist schön. Die Faltenröcke der Mädchen leuchten schon von weitem, wenn sie nachmittags in Gruppen den Hügel heraufkommen. Helles Blau. Blaues Glück. Ich mag die Farbe Blau. Sie leuchtet in meinen Träumen.

Der Junge ist seltsam. Seine nackten Füße patschen über den Boden aus Erde und Steinen. Hier an der abfallenden Stelle hat sich ein Rinnsal schmutziges Wasser gebildet, und die Steine sind schlüpfrig.

Patsch, patsch.

Tage und Nächte hat er nur geheult. Ohne Unterlass geheult. Dünn ist er. Und klein. Ein Hauch von einem Nichts. Aber auch in einem Hauch von einem Nichts können Tränen sein.

Ich weiß noch, wie es war, als er so geweint hat. Er hat nicht leise geweint, so wie andere. Er hat laut geweint. Auch nachts. Besonders dann.

Wir alle waren deshalb aufgekratzt und unruhig und sind aufeinander losgegangen.

Am dritten Tag ist er weggelaufen. Gleich am Morgen nach dem Reis. Sarana, der gute Mann, war nicht da. Und auch keine Brothers und Sisters von weither. Housemother hat mich losgeschickt, nach ihm zu suchen. Weil ich älter bin als die anderen und schon reifer. Das denkt Housemother zumindest. Und sie denkt, dass ich mich damit auskenne. Viele von uns Kindern laufen ja am Anfang weg. Seltsam, ich selber bin nicht weggelaufen. Jedenfalls nicht von hier.

Das Weglaufen ist sowieso nicht das Schlimme. Das Schlimme ist, dass man fast immer gefunden wird, wenn man wegläuft. Ich will nicht dran denken, was passiert ist, als ich einmal gefunden wurde. Das war an einem anderen Ort. Ist aber noch nicht lange her. Ich will nicht dran denken und kann doch nicht anders. Wie sie mich an den Wagen gebunden haben. Wie ich über den Boden geschleift wurde.

Die Augen des Jungen sind vorsichtig. Sie verweilen nie lange an einer Stelle. Seine Augen haben Angst. Angst vor dem, was sie sehen könnten. Angst vor dem, was sie schon gesehen haben.

Der Junge ist damals nicht weit weg gelaufen. Er ist im Keller eines Hauses gewesen, hat er gesagt. Dann hat man ihn gefunden, und sie jagten ihn weg. Sie haben ihn nicht zu uns zurückgebracht, obwohl sie wussten, dass er wahrscheinlich zu uns gehört. Sie haben sich nicht drum gekümmert. Die Leute in der Gegend mögen uns nicht.

Der Junge hat sich unten in der Tempelanlage von Budhanilkantha herumgetrieben. Nahe am trüben Wasser, wo der steinerne Vishnu liegt und schläft, tief schläft auf der Weltenschlange Ananta, die über seinen Schlaf wacht. Über den Jungen wachten nur die alten Sadhus mit ihren bemalten, ausgezehrten Gesichtern. Die Sahdus und Tauben. Der Junge konnte nicht wegfliegen wie die Tauben. Er konnte nur rennen. Schnell rennen. Aber ich habe ihn erwischt in den Gassen.

Ich weiß noch, was ich alles zu ihm gesagt habe. Ich weiß noch, dass ich gesagt habe: Du brauchst nicht wegzulaufen. Du hast es gut bei uns in dem Haus, das Recovery Home heißt. Unter den Gipfeln des Shivapuri. In unserem Haus ist es gut. Du bist nicht allein. Über ein Dutzend anderer Kinder sind da. Sarana, das ist ein guter Mann, habe ich gesagt. Freundlich. Und ganz und gar nicht wie die anderen. Er kümmert sich um jeden von uns. Um die Kleinen, die erst sechs oder sieben sind, genauso wie um die Älteren. Und um dich wird er sich auch kümmern. Du musst nicht mehr für einen bösen Sir oder eine grausame Maharani arbeiten, habe ich gesagt. Die dich quälen. Das Arbeiten ist jetzt vorbei. Endgültig vorbei. Auch, wenn du es nicht glauben kannst. Du bist frei – so wie wir anderen Kinder auch. Du kannst spielen, mit uns auf den Playground gehen. Housemother passt auf uns auf. Und wer weiß, vielleicht kannst du schon bald zurück ins Dorf zu deiner Familie. Das habe ich gesagt. Ich habe nicht gelogen. Ich habe alles gesagt, was Sarana immer zu uns sagt. Ich habe sogar versucht, seine Stimme nachzuahmen, die manchmal so sanft ist, dass nichts gegen sie bestehen kann. Auch nicht das Tönen von Kathmandu. Kein Hupen, Knattern und Rufen. Nicht das Hundegebell und die vielen Handglocken, die ihre Töne in der Luft verstreuen, um das Ohr eines Gottes zu finden. Kein lautes, schleimiges Ausspucken, und was da noch alles ist. Nichts kommt gegen Saranas Stimme an, wenn sie sanft ist. Auch nicht die Schreie in mir.

Damals hat mich der Junge noch kein bisschen gekannt. Ich weiß nicht, ob er mir zugehört hat. Ob er alle meine Worte überhaupt richtig verstehen konnte.

Manchmal verstehen mich die Kinder nicht. Meine Sprache ist nicht mehr Nepali, die Sprache der Heimat. Meine Sprache ist Hindi, die Sprache der Ferne, in die man mich gebracht hat, als ich noch kleiner war als der Junge. Die Sprachen ähneln sich. Viele Wörter sind gleich oder klingen verwandt. Die Lieder, die in dem schwarzen Fernsehkasten gesungen werden, sind Hindi. Die Kinder kennen sie und singen mit. Wenn ich rede, ahmen sie mich manchmal nach, und sie machen es ziemlich gut. Trotzdem sind es zwei verschiedene Sprachen.

Etwas an mir muss aber überzeugend für den Jungen gewesen sein. Denn er ist freiwillig zurückgegangen zum Haus. Seitdem hängt sich der Junge an mich. Erst ist er vor mir weggelaufen, und jetzt folgt er mir überallhin. Es ist schwierig mit ihm.

Da ist der Alte. Er schleicht um die Kleinbusse am Budhanilkantha-Platz. Wie immer. Ich erkenne ihn sofort. Er späht und wartet. In die staubige Weite des Vormittags, in der Raum ist für so viel Bewegung, Herzschlagen, Tod. Helle Schwaden gleiten durch die Luft, hüllen die Busse ein. Der Staub...


Lebert, Benjamin
Benjamin Lebert lebt in Hamburg. 1999 erschien sein erster Roman 'Crazy', der in 33 Sprachen übersetzt und von Hans-Christian Schmid fürs Kino verfilmt wurde. Es folgten fünf weitere Romane. Er war für eine Hilfsorganisation eine Zeitlang in einem Kinderheim in Nepal und erzählt in seinem Roman 'Die Dunkelheit zwischen den Sternen' (2017) von diesen Kindern und ihrem Leben.

Benjamin LebertBenjamin Lebert lebt in Hamburg. 1999 erschien sein erster Roman 'Crazy', der in 33 Sprachen übersetzt und von Hans-Christian Schmid fürs Kino verfilmt wurde. Es folgten fünf weitere Romane. Er war für eine Hilfsorganisation eine Zeitlang in einem Kinderheim in Nepal und erzählt in seinem Roman 'Die Dunkelheit zwischen den Sternen' (2017) von diesen Kindern und ihrem Leben.



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