E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Lebert / Lewitan Der blinde Fleck
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-33052-1
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die vererbten Traumata des Krieges – und warum das Schweigen in den Familien jetzt aufbricht - Booktok-Bestseller
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-641-33052-1
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Schoah und das Ende des Zweiten Weltkriegs liegen weit zurück, es leben nur noch wenige Zeitzeugen und Zeitzeuginnen. Ihre Vergangenheit jedoch hinterlässt bis heute Spuren in den Familien. Geprägt durch eine Katastrophe, die sie nicht selbst erlebt haben, haben viele Nachkommen der Täter, Komplizen, Handlanger, Mitläufer und Opportunisten seelische Wunden, deren Ursachen sie oft nur vage kennen: zwischenmenschliche Kälte, Schuldgefühle, Ängste, Einsamkeit, ein Gefühl der Entwurzelung. In vielen Familien sind bleiernes Schweigen, verdrängte Erinnerungen, wohlgehütete Geheimnisse, hartnäckige Lügen allgegenwärtig – ein erdrückendes Erbe, dessen Gift bis heute wirkt. Doch nun bricht dieser Panzer des Schweigens auf: Da sie keine Konfrontation mit den Großeltern oder Eltern mehr fürchten müssen, recherchieren immer mehr Menschen ihre Familiengeschichte und spüren nach, wie sich diese auf die eigenen Lebensmuster ausgewirkt hat. Der Trauma- und Stressexperte Louis Lewitan und der preisgekrönte Journalist Stephan Lebert schreiben anhand von ergreifenden Gesprächen mit Betroffenen über die ebenso schwierige wie befreiende Auseinandersetzung mit der Last der eigenen Familiengeschichte. Ein Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur, der aktueller denn je ist.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Warum wir dieses Buch schreiben
Auch wir Autoren stehen nicht über diesem Thema, sondern mittendrin. Wir sind beide in diese deutsche Geschichte hineingeboren worden und bewegen uns in ihr.
Louis Lewitan ist Jahrgang 1955. Viele Menschen in seiner Familie hat er nie kennengelernt. Seine Großeltern gehören dazu, Onkel, Tanten auch. Sie wurden umgebracht. Auf welche Weise und wo sie ermordet wurden, was mit ihren Leichen geschehen ist – all das ließ sich nicht mehr rekonstruieren. Mit Ausnahme der Großmutter mütterlicherseits. In Archiven in Warschau wurde Louis schließlich fündig: Sie starb an Typhus im dortigen Ghetto, August 1941. Damals wurden die Toten noch registriert. Louis sagt: »Es ist unheimlich, unwirklich, nichts zu wissen von ihrem grausamen Ende. Wurden sie verbrannt? In Massengräbern verbuddelt? Wurde Seife aus ihnen gemacht? Sind sie als Lampenschirme geendet? Es könnte sehr gut sein, aber ich weiß es nicht.«
Stephan Lebert ist Jahrgang 1961. Sein Vater, geboren 1929, war ein begeisterter Hitlerjunge. Sein ganzes Leben hat er darunter gelitten, ein glühender Verehrer Adolf Hitlers gewesen zu sein. Nur das Glück seiner späten Geburt hat verhindert, dass aus ihm ein Verbrecher und Mörder wurde. »Ich war ein junger Nazi und wäre ein furchtbarer Nazi geworden, das steht fest.« So hat er das selbst immer ausgedrückt. Er hat sich geschämt dafür und ein tiefes Misstrauen sich selbst gegenüber entwickelt: Wenn ich damals ein blinder Anhänger war, dann kann das auch immer wieder passieren. Stephan meint, dieses Urmisstrauen hat sich auf ihn übertragen, das findet er gar nicht so schlecht. Von seiner eigenen Familie wusste der Vater übrigens nicht viel. 1928 in der Silvesternacht hatte ein Kellner auf der Pferderennbahn ein 14-jähriges Mädchen geschwängert. Das Baby, es sollte Stephans Vater werden, kam kurz nach der Geburt in eine Pflegefamilie.
Die Familiengeschichte von Louis hatte sicher einen großen Anteil daran, dass er Psychologe wurde. Er wählte diesen Beruf, weil er Menschen helfen wollte. Anfangs hielt er sich für Jesus, sagt er scherzhaft und fügt hinzu: »Anderen zu helfen, hilft, die eigene Hilflosigkeit hinter sich zu lassen.« Zudem wollte er schon als Jugendlicher verstehen, wie aus gewöhnlichen Menschen abgrundtief böse Menschen werden können, wie vielfach geschehen in Zeiten des Nationalsozialismus – eine Frage, die ihn bis heute beschäftigt.
Louis sucht den Austausch, in Cafés, auf der Parkbank, in der Bahn. Und er hört gern zu. Er ist nun mal Psychologe. Das wollte er schon mit 13 Jahren werden. Sein Weg, um Menschen zu verstehen, ist, ins offene Gespräch zu gehen. Gespräch als Begegnungsraum zu gestalten. Ohne zu verurteilen, ohne Schuld zuzuweisen, ohne zu entzweien.
Der professionelle Blick von Louis auf die Deutschen wird in diesem Buch eine große Rolle spielen. Er durchlief in seinem Psychologenleben verschiedene Stationen. Hat Jahre in New York verbracht, Schoah-Überlebende, die damals Kinder waren, interviewt. Aus dieser Zeit weiß er, wie belastend und bedrückend es sein kann, sich auf diese Vergangenheit einzulassen. Man kann regelrecht aufgefressen werden von ihr. Muss immer darauf achten, ein Gegengewicht zu schaffen. Wenn man so will: Immer wieder darauf achten, dass das Leben im Vordergrund steht und nicht der Tod. Aus dieser Erfahrung heraus hat Louis damals in New York eine Entscheidung getroffen: Er wollte sich nicht sein ganzes Leben lang mit der Schoah und deren Folgen beschäftigen. Zu finster, zu traurig, zu elend die Geschichten, die ihm erzählt wurden, die anfingen, ihn selbst zu bedrücken, gerade auch im Hinblick auf seine eigene Familiengeschichte. Louis hatte mehr Lust auf das Leben. In New York lernte er seine spätere Frau aus München kennen. Die Künstlerin Ilana Schmusch, Tochter von Überlebenden. Gemeinsam ging es nach Deutschland zurück. Er wurde Psychotherapeut, Coach, Stress-Experte und Publizist.
Auch wenn das nicht zu vergleichen ist, hat Stephan eine ähnliche Erfahrung gemacht: Auch er wollte irgendwann Abstand finden von der Beschäftigung mit der NS-Zeit. Von Beruf Journalist, hatte er ein Buch geschrieben mit dem beziehungsreichen Titel Denn du trägst meinen Namen. Es geht darin um die Nachkommen prominenter Nazis wie Bormann, Göring, Himmler, Frank, von Schirach und Heß. Das Buch beruht auf einer besonderen Konstruktion: Stephans Vater, der frühere Hitlerjunge, von Beruf Journalist, hat in den 1950ern ebendiese Nachfahren erstmalig getroffen, zu jener Zeit waren sie alle um die 20 Jahre alt. Die Texte, die in einer Zeitschriftenserie publiziert wurden, kreisten um die Frage, wie belastet die Schicksale dieser jungen Leute waren. 40 Jahre später besuchte Stephan, Ende der 1990er-Jahre, die gleichen Leute noch einmal. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben. In seinem Buch wurden die alten und die neuen Geschichten zusammen abgedruckt.
Die Nachkommen berühmter Nazis sind übrigens auf sehr unterschiedliche Weise mit ihrer Herkunft umgegangen. Es gab die Eingefleischten, Unbelehrbaren wie die Tochter von Heinrich Himmler1 oder den Sohn von Rudolf Heß2 – und ausgesprochene Nazi-Hasser wie den Sohn von Hans Frank3, Niklas Frank. Eines hatten sie alle gemeinsam: Die Last ihrer Väter hatte ihnen schwer zu schaffen gemacht.
Das Buch Denn du trägst meinen Namen wurde ein großer Erfolg und in viele Sprachen übersetzt. Die Schwere dieses Themas bekam Stephan auch selbst zu spüren. Ein Traum plagte ihn über Monate hinweg. Er hatte mit einer Geschichte zu tun, die ihm Martin Bormann Junior erzählt hatte. Sie handelte von seinem Vater Martin Bormann Senior4, der eines Tages zu Besuch im Haus Heinrich Himmlers war. Zum Abschied überreichte Himmler ihm eine besondere Ausgabe von Mein Kampf. Der Einband war aus Menschenhaut, was sogar den alten Bormann kurz erschaudern ließ. Es dauerte einige Zeit, bis Stephan diese nächtlichen Bilder wieder verlassen hatten. Er war jedenfalls froh, sich nach diesem Buch viele Jahre lang anderen journalistischen Themen widmen zu können.
Der Wunsch, sich nicht ständig mit dieser schrecklichen deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, ist uns selbst also durchaus vertraut. Wir gehören auch zu jenen, denen nicht immer bewusst ist, wie schnell man von ihr wieder eingeholt werden kann.
Wir beide kennen uns schon seit vielen Jahren, sind uns immer wieder begegnet, in unterschiedlichen Zusammenhängen, in München, Berlin und Hamburg. Wir sind uns freundschaftlich verbunden, haben aber auch immer wieder einmal länger nichts voneinander gehört. So auch als wir uns im Januar 2022 bei einer Geburtstagsparty wiedertrafen und uns Tage danach zu einem Mittagessen verabredeten. Es war ein italienisches Lokal in Berlin und wir waren bereits beim Espresso, als Louis die Geschichte erzählte. Seine Frau Ilana hatte plötzlich eine Mail bekommen, die ihr Leben auf den Kopf gestellt hat. Der Mann, der diese Mail schrieb, war der Enkel eines SS-Mannes, der im Warschauer Ghetto stationiert war und neben vielen anderen auch einen besonderen jüdischen Zwangsarbeiter unter sich hatte, nämlich den Vater von Ilana. Das Problem war nur: Ilana wusste gar nicht, dass er im Warschauer Ghetto gewesen war und Schrecklichstes erlitten hatte. Er hatte überlebt und seinen Kindern nie von seiner Zeit dort erzählt.
Das Ende des jahrzehntelangen Schweigens. Aus dieser Geschichte ist ein Podcast geworden, Deutsche Geister heißt er. Stephan hat daran mitgewirkt, federführend auch die ZEIT-Redakteurin Britta Stuff. Ilana natürlich, auch Louis war dabei, ihre beiden Töchter Joëlle und Lea ebenfalls. Und der Enkel des SS-Mannes, der alles in Bewegung gebracht hatte. Es wurde ein Podcast über den Fluch der Vergangenheit.
Doch für uns beide hatte diese Geschichte noch eine andere Dimension. Zweifellos, da war es wieder, das Gift der Nazi-Zeit. Trotzdem war für uns plötzlich klar, klarer als früher, dass es ein Gegengift gibt. Dieses Gegengift heißt Wissen – wissen, was passiert ist, wissen, was in den eigenen Familien geschehen ist, wissen, warum so lange geschwiegen wurde, wissen, was das mit uns allen gemacht hat, bis heute – und warum es eine Befreiung ist, sich mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Das Gegengift hat ein Rezept, das im Grunde aus einer einzigen Zutat besteht: erzählen. Wir haben beschlossen, ein Buch zu schreiben, das diesem Gegengift gewidmet ist. Wir sind davon überzeugt, dass dieses Mittel auch gegen tief beunruhigende gesellschaftliche Entwicklungen wirkt, wie den Aufstieg der AfD und die dramatische Zunahme des Antisemitismus. Wer die Dämonen vertreiben will, muss sich ihnen stellen. Und, wer die Geister kennt, hört auf, sie zu rufen.
Wir sprechen als Autoren in diesem Buch mit einer Stimme. Wir haben dieses gemeinsame Anliegen: Wir wollen klarmachen, was es bedeutet, wenn das Schweigen über die NS-Vergangenheit aufbricht, wenn die Fesseln endlich reißen. Was dann zum Vorschein kommt. Wir wollen beschreiben, was es für eine Chance sein kann, für jede einzelne Familie und für das ganze Land, wenn die persönlichen Geschichten nach so langer Zeit aufgearbeitet werden. Wenn man begreift, wie die Zusammenhänge sind, zwischen damals und heute.
Es gibt diesen beruflichen Unterschied zwischen uns. Der eine ist Journalist. Er ist es gewohnt, zu recherchieren und dabei in Distanz zu bleiben, um nicht den Überblick zu verlieren. Zu Stephan Leberts Job...