E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Lee An einem hellen Morgen ging ich fort
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-902950-90-1
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-902950-90-1
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein kleines Zelt, eine in eine Wolldecke eingewickelte Geige, Wäsche zum Wechseln und eine Dose Kekse: Das ist die ganze Ausrüstung Laurie Lees, als er an einem strahlenden Junimorgen sein Heimatdorf in Gloucestershire verlässt und sich auf den Weg nach London macht. 'Neunzehn Jahre war ich alt, noch nicht trocken hinter den Ohren, aber ich
verließ mich auf mein Glück.' Mithilfe seines Geigenspiels schlägt er sich als liebenswürdiger, alle Eindrücke intensiv erlebender Vagabund zunächst bis London durch.
Da Laurie weder ein anderes Land noch eine andere Sprache kennt, wählt er Spanien als nächstes Reiseziel, er betritt es in Vigo und durchwandert es bis nach Gibraltar, macht Bekanntschaften mit Bauern und Bettlern, den Armen und Ärmsten, musiziert für Brot und Wein und schläft in Olivenhainen und einfachsten Bauernhöfen. Es ist das Jahr 1935, und der kommende Bürgerkrieg wirft seine Schatten voraus.
Laurence Edward Alan 'Laurie' Lee, geb. 1914 in Slad, Gloucestershire, gest. 1997 ebenda, war ein englischer Dichter, Romancier und Drehbuchautor. Mit 15 verließ er die Central Boys' School in Stroud und wurde Botenjunge. 1931 traf er zum ersten Mal auf die Whiteway Colony, eine von Tolstoi-Anarchisten gegründete Kolonie, wo seine politische Erziehung begann und er den Komponisten Benjamin Frankel sowie 'Cleo' aus 'An einem hellen Morgen ging ich fort' traf. Im Alter von 20 war er als Bürokaufmann und Bauhilfsarbeiter tätig und lebte ein Jahr in London.
Sein Hauptwerk bilden drei autobiografische Erzählungen. As I Walked Out One Midsummer Morning (1969, deutscher Titel: An einem hellen Morgen ging ich fort) erzählt davon, wie Lee seinen Heimatort verlässt, nach London kommt und 1935 zum ersten Mal Spanien besucht.
Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 kam er an Bord eines britischen Zerstörers aus Gibraltar nach England zurück, begann ein Kunststudium, kehrte 1937 aber als Freiwilliger der Internationalen Brigaden nach Spanien zurück. Wegen seiner Epilepsieerkrankung wurde sein Dienst jedoch eingeschränkt. Laut zahlreichen biografischen Quellen kämpfte Lee in der Republikanischen Armee gegen Francos Nationalisten. Lee war auch als Journalist, Drehbuchautor und Dokumentarfilmer tätig. In den 1960er Jahren kehrten er und seine Ehefrau in seine Heimatstadt Slad zurück, wo sie bis zu Lees Tod blieben. Laurie Lee wurde am örtlichen Friedhof begraben.
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LANDSTRASSE NACH LONDON
Die gebeugte Gestalt meiner Mutter, bis über die Hüften im Gras und dort wie eine Stückchen Schafwolle hängen geblieben, war das Letzte, was ich von meinem Heimatdorf sah, als ich es verließ, um die Welt zu entdecken. Sie stand, alt und gebückt, oben auf der Böschung und sah mir schweigend nach; eine knochige rote Hand zum Lebewohl und Abschiedssegen erhoben, ohne zu fragen, warum ich ging. An der Wegkrümmung blickte ich noch einmal zurück und sah das goldene Licht hinter ihr vergehen, dann bog ich um die Ecke, ging an der Dorfschule vorbei und schloss mit diesem Kapitel meines Lebens für immer ab. Es war ein strahlender Sonntagmorgen Anfang Juni, die richtige Zeit, seine Heimat zu verlassen. Meine drei Schwestern und ein Bruder waren schon vor mir gegangen; zwei andere Brüder mussten sich erst noch dazu entschließen. Sie schliefen noch an diesem Morgen, aber meine Mutter war früh aufgestanden und hatte mir ein kräftiges Frühstück zubereitet; während ich aß, hatte sie, die Hand auf meiner Stuhllehne, schweigend dabeigestanden und mir dann geholfen, meine paar Habseligkeiten zusammenzupacken. Es hatte keine Aufregung gegeben, keine Bitten, keine Ratschläge oder Überredungsversuche, nur einen langen und prüfenden Blick. Dann war ich mit meinem Gepäck auf dem Rücken in den morgendlichen Sonnenschein hinausgetreten und durch das hohe nasse Gras zur Straße hinaufgestapft. Es war 1934. Ich war neunzehn Jahre alt, noch nicht trocken hinter den Ohren, aber gesegnet mit einem sicheren Glauben an mein Glück. Bei mir trug ich ein kleines zusammengerolltes Zelt, eine Geige in einer Wolldecke, Wäsche zum Wechseln, eine Dose Kekse und etwas Käse. Ich war aufgeregt, sehr von mir überzeugt und wusste, dass ich weit gehen würde; wie weit, das wusste ich allerdings noch nicht. Als ich an diesem Morgen von zu Hause fortwanderte und das schlafende Dorf hinter mir ließ, kam mir nicht ein einziges Mal der Gedanke, dass ich nicht der Erste war, der so auszog. Natürlich trieben mich die alten Kräfte an, die schon viele Generationen auf die Landstraße geschickt hatten — das enge kleine Tal, das einen erdrückte und mit dem Hauch seines moosigen Mauls erstickte, die Mauern des kleinen Hauses, die einen wie die Arme einer Eisernen Jungfrau umklammerten, und die Mädchen im Dorf, die einem ihr »Heirate und bleib hier« zuflüsterten. Monate rastloser Unruhe waren vergangen, mit langen Wanderungen, melancholischem Pfeifen und starren Blicken auf die hohen weiten Flächen, die sich unter riesigen Wolkenbänken nach Osten hinzogen, bis der Augenblick kam, der kommen musste. Und jetzt war ich auf meiner Reise, in festen Schuhen und mit einem Haselstock in der Hand. Selbstverständlich wollte ich nach London, das 160 Kilometer weiter ostwärts lag, und genauso klar war auch, dass ich zu Fuß gehen würde. Aber erst mal wollte ich zur Küste wandern, denn ich hatte noch nie das Meer gesehen. Damit wurde mein Weg, wenn ich ihn über Southampton nahm, noch um 160 Kilometer länger. Aber ich hatte ja den ganzen Sommer vor mir und alle Zeit dieser Welt. Jener erste Tag allein — denn jetzt war ich endlich wirklich allein — senkte meine Erregung und meinen Schwung zusehends. Während ich durch den Staub auf die Wiltshire Downs zumarschierte, lastete ein immer stärkerer Widerwille auf mir. Weiße Holunderblüten und wilde Rosen hingen in den Hecken, nichtssagend wie unbeschriebenes Papier, und die heiße, verlassene Straße — es gab damals nur wenige Autos — reflektierte die Leere und Teilnahmslosigkeit des Sonntags. Der träge Sommer sog mich ein und ich bot ihm keinen Widerstand. In der Einsamkeit des Vormittags und Nachmittags spürte ich plötzlich, wie ich mich nach einem Hindernis, nach Rettung sehnte, nach dem Geräusch eiliger Schritte hinter mir und den Stimmen meiner Familie, die mich heimriefen. Niemand kam. Ich war frei. Bis zum Überdruss frei. Das Schweigen des Tages sagte: Geh, wohin du willst. Dir steht alles offen. Du hast es so gewollt. Jetzt liegt es bei dir. Du bist auf dich gestellt, und niemand wird dich aufhalten. Im Gehen verhöhnten mich heimische Bilder und Klänge, das Klirren aus der Küche; Sonnenstrahlen, die von den Fenstern her über die vertrauten Möbel fielen, quer durchs Schlafzimmer und über das Bett, das ich verlassen hatte. Als ich entschied, nun müsse Teezeit sein, setzte ich mich auf eine alte Steinmauer und öffnete meine Keksdose. Beim Essen hörte ich, wie meine Mutter den Kessel auf den Kamineinsatz stellte und meine Brüder mit den Teetassen klapperten. Die Kekse schmeckten süß nach der geliebten Unordnung meines Zuhauses — das nur etwa 20 Kilometer von mir entfernt lag. Hätte es meine Brüder nicht gegeben, wäre ich in jenem Augenblick vielleicht umgekehrt, aber ich hätte den Anblick ihrer Gesichter nicht ertragen können. Also stieg ich von der Mauer und machte mich wieder auf den Weg. Die langen abendlichen Schatten fielen auf Dörfer wie Ansammlungen von Kartenhäusern, auf heimkehrende Kühe und Menschen, die aus der Kirche kamen. Ich hielt mich an den Straßenrand, die Augen auf meine staubigen Füße geheftet, und ging ein paar Stunden ohne anzuhalten. Als die Dämmerung kam, voller Motten und Käfer, war ich zu müde, um mein Zelt aufzuschlagen. Also legte ich mich mitten auf einem Feld nieder und blickte hinauf zu den strahlenden Sternen. Die samtene Leere der Welt und die breiten Streifen weichen Grases, auf denen ich lag, überwältigten mich. Schließlich schläferten mich die nächtlichen Nebel ein — in meiner ersten Nacht ohne Dach und Bett. Kurz nach Mitternacht wurde ich vom Regen, der mir ins Gesicht sprühte, geweckt; der Himmel war schwarz und alle Sterne verschwunden. Zwei Kühe standen vor mir und bliesen mir ihren Atem ins Gesicht, der Jammer jenes Augenblicks verfolgt mich noch heute. Ich kroch in einen Graben und lag wach bis zum Morgengrauen, völlig durchnässt auf fremdem Boden. Doch als am Morgen die Sonne aufging, verschwand das Gefühl der Trostlosigkeit. Vögel sangen, und warmer Dunst stieg aus dem Gras. Ich stand auf und schüttelte mich, aß ein Stück Käse und wandte mich wieder südwärts. Ich kam nun hinunter nach Wiltshire, verbannte alle Gedanken an das, was hinter mir lag, und bekam allmählich neuen Auftrieb; ich ließ mir Zeit, bummelte durch Städte und Dörfer und genoss es, dass ich nicht zur Arbeit gehen musste. Vier Jahre lang war ich als junger Angestellter an dieses nervtötende Büro in Stroud gekettet gewesen. Jetzt leistete ich mir den Luxus, werktags frei zu sein; um elf Uhr vormittags eine Seitenstraße entlangzutrödeln und einem Mann beim Schafehüten zuzusehen; eine Katze im Gras beim Anpirschen zu beobachten oder von einer Hausfrau ein bisschen Tee zu erbetteln, damit in den Wald zu gehen und eine Stunde damit zu verbringen, eine Kanne frisches Quellwasser aufzukochen. Das bisschen England, das ich durchwanderte, kam mir riesig vor. Ein Auto freilich hätte es in ein paar Stunden durchquert, doch ich brauchte dazu fast eine Woche; ich ging behutsam vor, durchmaß es Schritt für Schritt, erschnupperte die unterschiedlichen Gerüche des Erdreichs, nahm mir einen ganzen Vormittag Zeit, um einen Berg zu umgehen. Ich weiß, ich hatte großes Glück, damals auf Wanderschaft zu gehen, als das Land noch nicht der Geschwindigkeit wegen platt gewalzt war. Viele der Landstraßen verliefen noch so, wie sie in den alten Zeiten von Packpferd und rumpelnden Wagenrädern gezogen worden waren, sie folgten zärtlich der Windung eines Tales oder wichen einem Gebirgsvorsprung aus wie das schweifende Band eines Flusses. Das alles ist noch gar nicht so lange her, und doch könnte heute niemand mehr meinen Weg nachgehen. Von den alten Landstraßen sind die meisten verschwunden, in der Zwischenzeit hat das Auto die Landschaft zerstückelt, und der Reisende durchbraust sie auf Rinnsteinhöhe und sieht dabei noch weniger als ein Hund im Straßengraben. Aber für mich war damals alles neu, was ich sah, und ich konnte es vom Morgen bis zum Abend langsam an mir vorüberziehen lassen. Noch war ich, als ich durch Malmesbury und Chippenham kam, erst einen Tagesmarsch von zu Hause entfernt, und stellte doch schon verschiedene Schattierungen in der Sprache fest. Etwa einen Tag später kam ich hinunter ins Wylye Valley und hinaus auf eine weite, sanft geschwungene Ebene — einen Streifen alten, dürren Landes, bedeckt von struppigem Gras, das aussah, als hätten da eben noch Mammuts geweidet. Von Ortschaften wusste ich noch nicht viel und war deshalb auf die zarte Turmspitze nicht vorbereitet, die sich plötzlich aus der leeren Fläche erhob. Als ich weiterging, glitt sie mal vor mir her, verschwand dann hinter der Wölbung des Hügels und verriet nichts von der Stadt, die unter ihr...