E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Lents Diversität
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7558-1087-2
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der biologische Sinn hinter der Vielfalt von Sex, Gender und Geschlecht
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-7558-1087-2
Verlag: DuMont Buchverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
NATHAN H. LENTS ist Wissenschaftler, Autor und Professor für Biologie am John Jay College an der City University of New York. Lents ist bekannt für seine Arbeiten in den Bereichen Zellbiologie, Genetik und Forensik sowie für seine Veröffentlichungen über die Evolution der menschlichen Biologie und des Verhaltens. Er schreibt regelmäßig u. a. für The Observer und The Guardian und hat mehrere Sachbücher veröffentlicht. >Diversität< ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint.
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Kapitel 1
Der Regenbogen der Evolution: Männchen, Weibchen und mehr
Der zweitumsatzstärkste Film des Jahres 2003 war Findet Nemo, ein Familien-Animationsfilm über den Clownfisch Marlin, der nach seinem Sohn Nemo sucht. Wer ihn nicht gesehen hat, sollte dies als Spoileralarm betrachten. Der Film beginnt mit dem tragischen Tod von Nemos Mutter. Marlin wird Witwer, und Nemo geht orientierungslos verloren, hinweggespült von den Meeresströmungen. Der Rest des Films ist die Geschichte von Marlins Suche nach dem verlorenen Sohn. Es ist eine herzerwärmende Erzählung über Liebe, Verlust und das Erwachsenwerden.
Wäre der Film biologisch korrekt, verliefe die Geschichte ein wenig anders. Nach dem Verlust seiner Partnerin würde Marlin sich in ein Weibchen verwandeln. Bei der schlussendlichen Wiedervereinigung mit Nemo wäre Marlin dessen Mutter.
Clownfische (Amphiprion ocellaris) leben in einer präzise in Schichten eingeteilten Sozialstruktur. Wie bei vielen sozialen Tieren – in der Regel allerdings nicht bei Fischen – gibt es bei ihnen eine Dominanzhierarchie, die über das Vorrecht beim Fressen und bei der Paarung bestimmt. In jeder Kleingruppe ist diese Hierarchie streng an die Größe gebunden: Die Spitzenposition hat der größte Fisch inne, der auch der älteste und aggressivste ist. Dieser Alphafisch ist immer ein Weibchen, und zwar das einzige in der Gruppe. Demnach muss Nemos Mutter also das Alphatier ihrer Clownfischgruppe gewesen sein.
Umgeben ist das Alphaweibchen von einem kleinen Harem aus Männchen, deren Rangfolge wiederum von Größe und Alter abhängt. Das älteste und größte wird als »Alphamännchen« bezeichnet und ist gegenüber seinen Geschlechtsgenossen dominant, dem Alphaweibchen aber ordnet es sich unter. Nur das Alphamännchen darf sich mit dem Alphaweibchen paaren. Alle anderen müssen warten, bis diejenigen, die über ihnen stehen, entweder gestorben sind oder sich in Weibchen verwandelt haben. Da Marlin einen Sohn hat, muss er also das Alphamännchen gewesen sein.
Eine Clownfischgruppe besteht aus einem Brutpaar und einigen Ersatzmännchen, die warten, bis sie an der Reihe sind. Geht das Alphaweibchen verloren, ist die Gruppe nicht nur führungslos, sondern sie hat auch kein Weibchen mehr. Was ist dann zu tun? Um den Harem zu übernehmen, muss das Alphamännchen, das der größte verbliebene Fisch ist, nur sein Geschlecht von männlich zu weiblich ändern. Und genau das tut es.
Bei Clownfischen gibt es nahezu keinen Geschlechtsdimorphismus, das heißt, Männchen und Weibchen sind im Wesentlichen gleich und besitzen sogar eine Keimdrüse mit doppeltem Potenzial, die als Ovotestis oder »Zwitterdrüse« bezeichnet wird. Nachdem das Alphaweibchen verloren gegangen ist, verkümmert im Laufe ungefähr eines Monats das Hodengewebe des Alphamännchens, während das Eierstockgewebe schnell heranreift und tätig wird. Gleichzeitig steigen alle anderen Männchen im Rang auf und wachsen. Das Betamännchen wird zum neuen Alphamännchen, das Gamma wird zum Beta und so weiter.
Als Vater Marlin den Sohn Nemo findet, hätte »sie« eigentlich schon den Übergang zum Weibchen vollzogen haben müssen. Die beiden hätten dann in der Nähe eine Seeanemone gefunden und sich dort ein neues Zuhause geschaffen. Wenn man annimmt, dass keine größeren Männchen hinzukämen, hätten Nemo und Marlin angefangen, sich zu paaren. Vermutlich ist es gut, dass man bei Pixar keine biologische Genauigkeit angestrebt hat.
Let’s talk about sexes, Baby
Im Englischen hat das Wort sex unglücklicherweise zwei verschiedene Bedeutungen, und beide spielen in Gesprächen über eines der beiden Themen häufig eine Rolle. Wie im Deutschen bezeichnet sex die Verhaltensweisen und Aktionen in Verbindung mit Sexualität, wobei in der Regel die Geschlechtsorgane beteiligt sind und es zur körperlichen Erregung einer oder mehrerer Personen sowie manchmal sogar zur Fortpflanzung kommt. Wir sprechen davon, dass wir »Sex haben«, und das ist sowohl wissenschaftlich als auch – nun ja – ansonsten der lustige Teil. Sex ist außerdem das englische Wort für »Geschlecht«. In der Alltagssprache wird damit oft zum Ausdruck gebracht, ob jemand ein Junge oder ein Mädchen ist, beispielsweise wenn gefragt wird: »Do you know the sex of the baby?« (»Weißt du, welches Geschlecht das Baby hat?«) Die wissenschaftliche Definition des Wortes – häufig spezifiziert als »biologisches Geschlecht« – wurde nach und nach immer mehr eingeengt, sodass damit heute in der Biologie meist nur noch die Produktion von Samen- oder Eizellen bezeichnet wird. Und wie oft kommt es in dieser Bedeutung in Gesprächen vor? Nur selten. Wenn wir aber die Sexualität der Menschen genauer betrachten wollen, müssen wir an dieser Stelle ansetzen, denn jeder Körperteil und jedes Verhalten im Bereich von Geschlecht, Gender und Sexualität geht auf den Umstand zurück, dass vor rund 2Milliarden Jahren diese beiden ganz besonderen Zelltypen entstanden sind: die Samen- und die Eizelle.
Wenn man in der Biologie vom »Geschlecht« eines Tieres redet, meint man damit in der Regel die Art der Keimzellen, die dessen Körper produziert. »Keimzelle« oder »Gamet« ist die Bezeichnung für die stark spezialisierten Fortpflanzungszellen, von denen es zwei Formen gibt: Die größeren werden umgangssprachlich als »Eizellen« bezeichnet, die kleineren als »Samenzellen«. Keimzellen besitzen als einzige Körperzellen nur genau halb so viel DNA wie alle anderen Zellen. Hier liegt der Schlüssel zu dem eleganten genetischen Tanz, der bei der sexuellen Fortpflanzung stattfindet, und er ist der einzige Grund, warum diese Zellen überhaupt existieren. Wenn zwei Gameten verschmelzen und zu einer einzigen Zelle werden, steuern sie zu dieser ihre gesamte DNA-Ausstattung bei. Damit der DNA-Gehalt sich nicht in jeder Generation verdoppelt, halbiert sich jedes Mal die DNA-Menge, wenn die Gameten entstehen.
Aus diesem Grund enthält jede Samen- und Eizelle nur halb so viele Chromosomen wie alle anderen Zellen des Organismus. Beim Menschen besitzen die Gameten jeweils 23Chromosomen, in jeder anderen Zelle unseres Körpers liegen 23Chromosomenpaare, wobei jedes Chromosom von einem biologischen Elternteil stammt – insgesamt sind es also 46. Wenn sich unsere Gameten bilden, erhält jeder eine zufällige DNA-Mischung, die zum Teil vom Vater und zum Teil von der Mutter stammt; entscheidend ist aber, dass jedes Chromosom in jedem Gamet genau ein Mal vorkommt, sodass sich die Gesamtzahl von 23 ergibt.
Wie wir, so besaßen auch unsere Eltern zwei Exemplare jedes Chromosoms, wiederum jeweils eines von jedem ihrer Elternteile, aber nur eines davon haben sie an uns weitergegeben. Die Auswahl eines Chromosoms gleicht einem Münzwurf, und bei den 23Chromosomen entspricht das 23Münzwürfen. Damit ergeben sich mehr als 8Millionen Chromosomenkombinationen (223). Und da wir zwei Elternteile haben, können wir diese Zahl verdoppeln.I Hinzu kommt noch, dass jede Samen- oder Eizelle eine gewisse Anzahl neuer Mutationen enthält. Bei Menschen liegt deren Zahl zwischen 50 und 200. Die Entstehung der Gameten verläuft also in Schritten, die Vielfalt hervorbringen: Jedes Mal, wenn sich ein neues Individuum entwickelt, werden automatisch und unausweichlich einzigartige genetische Kombinationen geschaffen. Das ist der Grund, warum zwei Elternteile theoretisch Millionen Kinder haben könnten, ohne dass zwei von ihnen genetisch genau gleich wären.II Die Karten werden immer wieder neu gemischt.
Der Karyotyp eines Menschen mit 23Chromosomenpaaren
Da das biologische Geschlecht davon abhängt, was für Keimzellen ein Tier produziert, und da es zweierlei Keimzellen gibt – Samen- und Eizellen –, halten viele Menschen das biologische Geschlecht für ein einfaches Entweder-oder, auch wenn sie anerkennen, dass es mit dem Gender nicht so einfach ist. Die Vielschichtigkeit des Genders werden wir im nächsten Kapitel erörtern, aber schon die Vorstellung, das biologische Geschlecht sei ausschließlich binär, ist problematisch, selbst wenn wir es nur danach bestimmen, was für Keimzellen ein Tier bildet. Es gibt mindestens drei Geschlechter, denn wir dürfen die Hermaphroditen nicht vergessen. Wer glaubt, das biologische Geschlecht sei eine einfache Angelegenheit, sollte jetzt den Sicherheitsgurt anlegen, denn es wird ein holpriges Kapitel.
Hermaphroditen (auch »Zwitter« genannt) sind Tiere oder Pflanzen, die sowohl Samen- als auch Eizellen produzieren können, und das häufig zur gleichen Zeit. Bei den meisten Wirbeltieren (Tieren mit einer Wirbelsäule) kommen nur Männchen und Weibchen vor, aber zu vielen Arten wirbelloser Tiere gehören auch Hermaphroditen. Einige Spezies bestehen ausschließlich aus Zwittern, manchmal sind sie neben Männchen und Weibchen vorhanden, und bei anderen Arten gibt es die Dichogamie, das heißt, ein Individuum wechselt zu irgendeinem Zeitpunkt in seinem Lebenszyklus das Geschlecht.
Außerdem kennen wir die Parthenogenese: Tiere mancher Spezies können sich ganz allein fortpflanzen, aber nicht durch Klonbildung. Von »Parthenogenese« spricht man, wenn eine Eizelle sich zu einem vollständigen Organismus entwickelt, ohne dass sie befruchtet wurde. Ein berühmter Fall ereignete sich 2006: Damals produzierte ein...




