E-Book, Deutsch, 159 Seiten
Leppin / edition Hüter der Freude
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8370-9540-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neu bearbeitete Ausgabe (Klassiker der ofd edition)
E-Book, Deutsch, 159 Seiten
            ISBN: 978-3-8370-9540-1 
            Verlag: BoD - Books on Demand
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paul Leppin (1878 - 1945) lebte in Prag und schrieb Romane, Erzählungen, Gedichte und Theaterstücke. Er pflegte enge Kontakte zur tschechischen Künstlerszene und verfasste für die Münchner Zeitschrift "Die Gesellschaft" Beiträge über tschechische Literatur und Kunst. Leppins Werk galt in zeitgenössischen konservativen Kreisen als dekadent und teilweise pornografisch. Mit der Besetzung Prags durch die Nationalsozialisten im Jahr 1939 kam seine literarische Karriere weitgehend zum Erliegen. Erst in jüngster Zeit ist Leppins Werk wieder etwas stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.
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Kapitel I
Sturmfensters Nachmittagsgedanken
Der Regen wollte nicht aufhören. Lautlos, in langen, gestrichelten Ketten fiel er zur Erde und sammelte seichte, plätschernde Pfützen in der Mitte der Fahrbahn. Mitunter machte er eine Pause und indessen trocknete der Wind weiße Flecken auf dem Pflaster der Gehsteige aus. Aber dann begann er von Neuem. Der Kandidat der Philosophie Gaudentius Sturmfenster saß hinter einer der großen Glastafeln des Café Portugal und hatte eben sein Fruchteis ausgelöffelt. In seinem schütteren Kinnbart waren ein paar Brocken der Waffeln hängen geblieben, deren letzte Reste er jetzt zwischen den Fingern zerbrach. Seine wasserblauen Augen waren weit aufgerissen und starrten auf die Straße hinaus. Gegenüber war der Nordwestbahnhof. Die Droschkengäule vor dem Portal standen geduldig in der Nässe, und die roten Gesichter der Kutscher blickten vergnügt in das Wetter. Die Frauen, die draußen vorbeihasteten und mit dem Schirm das Gesicht verdeckten, rafften die Röcke und wichen behutsam den Kotlachen aus. Sturmfenster sah wohlgeformte Waden über feinen Knöcheln und sein Gesicht bekam allmählich einen merkwürdig gespannten Ausdruck. Er schüttelte eine Zigarette aus dem Papiersack, der vor ihm zwischen Zeitungen und Kuchenteilern auf dem Tische lag, und zündete sie umständlich an.
Es war seltsam, wie dieser Frühjahrsregen ihn erregte. Schon als Kind war er seinem warmen, einlullenden Zauber erlegen. Er gedachte noch genau der Spiele, die er an solchen Tagen, wenn die Kinder wegen der Witterung nicht in den kleinen Garten hinter dem Hofe durften, in den Stiegengängen des Elternhauses mit den Nachbarsmädchen spielte. Eine verlegene Scheu hatte ihn überkommen, wenn sich ihnen im Eifer die kurzen Röckchen über die Knie schoben und darunter die kindliche Wäsche zum Vorschein kam. Sturmfenster schloss die Augen und ließ die Erinnerung an sich heran. Während der Schulzeit hatte er viel durch diese Dinge gelitten. Von dem Tage an, wo sein älterer Bruder den sechsjährigen Buben über die Verschiedenheit der Geschlechter belehrte, war es mit der Glückseligkeit vorbei. Die Welt, die ihm früher täglich bunte Bilder bot, nach denen er töricht haschte, war verwandelt. Männlein und Weiblein liefen jetzt darin herum und betrachteten einander mit sonderbaren Augen. Frühzeitig wurde in dem Kind eine Bangnis lebendig, ein unruhiges Wünschen, das später Form und Richtung erhielt und ihn beinah erstickte. Die Not seiner Knabenzeit, die er in tödlicher Scham vor den anderen versteckte, mit der er ratlos in unendlicher Erschöpfung kämpfte, war grenzenlos. Es blieb ihm unverständlich, wie seine Mitschüler untereinander ihre Gefühle sachlich erörtern konnten und mit welcher Leichtigkeit sie auch sonst damit umsprangen. In den Jahrgängen des Gymnasiums, in denen es in Mode kam, lief er mit den übrigen Kameraden nach Schluss des Unterrichtes den Mädchen nach, die das nahe Lyzeum besuchten. Im Winter war es schon finster, und einmal nahm er allen Mut zusammen und sprach in einer menschenleeren Seitengasse eine an, die ihm besonders gefiel, der das Blondhaar noch in Zöpfen über den Rücken hing und die bei der eiligen Flucht vor ihrem Verfolger ihre schönen, schlanken Beine zeigte. Er begleitete sie dann auch ein Stück des Wegs bis in die Nähe ihres Hauses und sie sprachen einige mühsam erklügelte Sätze. Zum Abschied gaben sie einander nicht einmal die Hand. Da waren die anderen fürwahr doch bessere Kerle. Die lachten und schwatzten mit den Mädeln, dass es eine Lust war, und fassten sie auch manchmal recht tüchtig an und küssten sie, wenn gerade niemand dabei war. Die Mädchen hielten still und ließen sich's gefallen. Für Sturmfenster wäre das ein unirdisches Glück gewesen, das ihn schon aus der Ferne betäubte.
Als er Tertianer geworden war, hatte der Schuldiener des Gymnasiums ein siebzehnjähriges Ding als Dienstmädchen bei sich aufgenommen. Es war ein dunkelhäutiges, brünettes Geschöpf, das immer barfuß und zerzaust im Hause umherlief und nach der Schule auch die Klassenzimmer in Ordnung bringen musste. Sie trug meist nur eine dünne, lose Bluse auf dem Leib und ihre Brüste hüpften unter dem Hemde. Die Schüler sahen sie alle mit heißen Blicken an und sie erwiderte mit einem Lächeln. Eines Nachmittags, während die Junisonne draußen in der Gasse lag und eine wollüstige Luft zu dem geöffneten Fenster hereinkam, erzählte während der Schulpause ein schöner, starker Bursche den nebensitzenden Buben, dass er das Mädchen besessen habe. Er sei nach dem Unterrichtsschluss noch eine Zeitlang im Klassenzimmer zurückgeblieben, um ein paar Anmerkungen niederzuschreiben. Da sei sie eingetreten, habe sich scherzend neben ihn auf die Bank gesetzt und ihren Körper an den seinen gelehnt. Und da habe er sie einfach genommen.
Sturmfenster war bei der Erzählung des Knaben das Blut in den Kopf gestiegen. In seinen Ohren brauste ein Wasserfall und er fühlte, wie sein Gesicht über und über flammte. Das also gab's! Unerhörte, ungeahnte Ereignisse, Küsse bis zum Grunde der Sehnsucht, Katastrophen des Glücks. Das gab es nicht bloß für die Erwachsenen, für Väter und Brüder. Ein Schuljunge, der zu Hause genauso wie er die griechischen Vokabeln memorieren musste, hatte das braune Mädchen besessen. Hundert Augen schielten in vergeblicher Begierde nach ihr, und ihm war sie zugefallen. Und jener, statt hingerissen, verzückt, angstvoll zu schweigen, sprach laut davon wie von einer Sache, die täglich und jedermann geschah. Der zitternde Knabe konnte es nicht begreifen.
Der Kandidat der Philosophie Gaudentius Sturmfenster erhob sich plötzlich. Was so ein Frühlingsregen doch für dumme Gedanken aufweckte! Was hatte er sich heute um diese Eseleien zu scheren, wo er dreißig Jahre alt und wo es höchste Zeit war, dass er mit dem Studieren zu Rande kam. Er legte die fünfzig Heller für die Zeche auf das Marmortischchen, nahm Hut und Mantel vom Haken und ging auf die Gasse.
Draußen sprühten ihm die lauen Tropfen wohlig ins Gesicht. Im Grunde genommen war er ja immer noch derselbe dumme Junge wie damals, der sich vor den Weibern ängstigte und sie nicht zu nehmen wusste. Die Jahre hatten ihn nicht verändert, nur der Bart war ihm gewachsen. Aber er hatte erkennen gelernt, dass seine Scheu aus der Tiefe der Empfindung kam. Die anderen waren sorglose Gesellen, ihre Triebe im Seichten verankert. Aber die seinen gruben Wurzeln ins Innerste. Ein süßes Entsetzen erschütterte ihn, wenn er sich seine ersten Erlebnisse mit der Frau ins Gedächtnis rief. Da war er schon Student im ersten Universitätsjahre gewesen. Er erinnerte sich noch deutlich der bohrenden Qual und Verzweiflung, die vorhergegangen war. Grauenvoller Nächte, die er ohne Schlaf verbrachte, stumpfer Gewissenskümmernis, wenn die heimliche Sünde kam und ihn niederzwang. Lange hatte er sich gewehrt, es den übrigen gleichzutun. Von Sehnsucht zermürbt, wurde er hoffnungslos. Bis er dann endlich ein Ende machte wie die anderen.
In seiner Seele stand der Tag wieder auf, grausträhnig, düster, erkältend. An den Häusern streift ein Schatten entlang, blickt rückwärts, steht, zögert. Bist Du es, Sturmfenster, Sturmfenster? Die Straße ist eng, winkelig, und die Buben, die im Kehricht mit farbigen Fisolen spielen, lachen so hässlich hinter ihm drein. Irgendwo ist ein Fenster offen und ein Phonograph schreit ihm das Lied vom lieben Augustin, der alles verloren hat, in die Ohren. Das Stiegengewölbe ist schlecht beleuchtet und so niedrig, dass er nicht aufrecht darin gehen kann. Dann tut sich die Türe auf und er steht in dem Zimmer.
Dieses Zimmer, wirst Du es jemals vergessen können? Es ist kein gewöhnliches Zimmer, wo Menschen wohnen, wo man isst, trinkt, schläft. Es ist symbolistisch verdunkelt, ein Inventarstück der Ewigkeit, ein Traumzimmer aus des Lebens tieferer Bedeutung. Ein Bett steht an der Wand, neben dem Bild des Kaisers Josef hängt ein Spiegel in verblichenem Goldrahmen. In einem verstaubten Papierfächer stecken Ansichtskarten und eine verwelkte Blume. Neben dem Fenster ist die Tapete aus der Mauer gerissen und auf dem Sessel darunter steht eine Schüssel mit dem Wasserkrug.
Das Weib ist groß, trägt den Kopf lachend im Nacken, hat gesunde Zähne und harte Brüste. Sie knöpft ihr Kleid auf, gleißt nackt in dem Traumzimmer.
Der Kandidat der Philosophie Gaudentius Sturmfenster blieb stehen, um Atem zu holen. Diese Erinnerungen erhitzten ihn. Da war bei Gott nur der verfluchte Regen schuld, bei dem man den Weibern auf die Strümpfe sehen musste, ob man wollte oder nicht. Da, gerade vor ihm ging wieder so eine. Hoch, üppig, das Kleid mit einer lässigen Bewegung geschürzt, mit wundervollen Beinen. Sturmfenster holte sie ein und spähte in ihr Gesicht. Nun, ganz so schüchtern war er ja doch nicht mehr, wie damals, als er das Lyzeummädel aus der Schule begleitete. Er hatte sozusagen die Technik der Frechheit den jungen Leuten abgeguckt, mit denen er verkehrte, die darin die Meisterschaft besaßen. Dem Römerstern zum Beispiel, diesem Laffen, der ihm nicht das Wasser reichte. Woran lag es nur, dass dem alle nachliefen? Der war geschniegelt, leer, hundsschnautzig kalt. Und in ihm war Glut, Reichtum, Seligkeit. Nun hatte die Dame endlich bemerkt, dass er ihr nachging. Sie drehte ihm langsam ihre umrandeten Augen zu und maß ihn erstaunt mit den Blicken. Nun ja, schäbig genug sah er ja aus in seinem Wettermantel und dem großen, zerdrückten Hut. Aber sie hatte ihn ja fast zornig angeschaut! Ein breites, grobknochiges Gesicht mit enger Stirne und einem gemeinen Munde. Das war der Typ, den er eigentlich nicht mochte, der...





