Leskow | Petersburger Novellen | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 503 Seiten

Leskow Petersburger Novellen


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8496-3053-9
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 503 Seiten

ISBN: 978-3-8496-3053-9
Verlag: Jazzybee Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Nikolai Semjonowitsch Leskow war ein bedeutender russischer Schriftsteller. Dieser Band enthält eine große Auswahl seiner schönsten Novellen, namentlich: Das Tier Der Toupetkünstler Der unsterbliche Golowan Der versiegelte Engel Der Waldteufel Die Epopöe von Wischnewskij und seiner Sippe Die Lady Macbeth des Mzensker Landkreises Eine Teufelsaustreibung Figura Interessante Männer Pawlin

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Keine der damals gedruckten Schilderungen kann die Bewegung zu Beginn der Feierlichkeit wiedergeben. Die lebensvolle, wenn auch niedere Seite der Erscheinung tritt in ihnen ganz zurück. Man reiste damals nicht so bequem wie jetzt in Postkutschen oder in der Eisenbahn, mit Stationen und guteingerichteten Gasthäusern, in denen alles Nötige zu mäßigen Preisen zu erhalten ist. Damals war eine Reise ein großes Unternehmen, und zwar in diesem Falle eine fromme und gottgefällige Tat, aber die zu erwartende kirchliche Feierlichkeit lohnte alle Mühe. Es lag darin viel Poesie, und zwar die eigenartige Poesie des bunten, mannigfaltig abgetönten kirchlichen Volkslebens, das von der Naivität des Volkes und der unendlichen Sehnsucht des lebendigen Geistes begrenzt wird.

Auch aus Orjol war eine Menge Volk zu dieser Feier gekommen. Den größten Eifer zeigte natürlich die Kaufmannschaft, auch die mittleren Gutsbesitzer gaben ihnen nichts nach, vor allem aber strömte das einfache Volk herbei. Das zog zu Fuß einher. Nur die, welche Kranke »zur Heilung« mitführten, fuhren mit irgendeinem Klepperchen. Übrigens wurden die Kranken manchmal auch getragen, was keine besondere Beschwerde für die Angehörigen bedeutete, da man für die Kranken in den Gasthöfen viel weniger, hin und wieder sogar nichts zu zahlen brauchte. Es gab auch viele, »die sich absichtlich krank stellten: sie rollten die Augen hinauf, und zwei schoben den dritten abwechselnd auf einem Karren, um Opfer für Wachs, Öl und andere Zeremonien einzusammeln«.

So las ich es in einer ungedruckten, aber wahrhaften Schilderung, die nach keiner Schablone abgeschrieben war, sondern von einem Menschen stammte, der die Wahrheit der tendenziösen Lügenhaftigkeit jener Zeit vorzog.

Es waren solche Menschenmassen in Bewegung geraten, daß in den Städten Liwny und Jelez, über die der Weg führte, weder in den Gasthöfen noch in den Wirtshäusern ein Platz zu finden war. Es kam vor, daß vornehme Personen und Leute mit Namen in ihren Kaleschen übernachteten. Hafer, Heu, Grütze, alles war auf den Landstraßen so sehr im Preise gestiegen, daß nach der Bemerkung meiner Großmutter, deren Erinnerungen ich hier folge, man in den Herbergen für ein Essen, bestehend aus Suppe, Hammelbraten und Grütze, zweiundfünfzig Kopeken verlangte, während es bisher fünfundzwanzig gekostet harte. Gewiß ist dies für die jetzige Zeit ein ganz unglaublicher Preis, es war indes so, und die Hebung der Gebeine des neuen Heiligen hatte in bezug auf die Preissteigerung der Lebensmittel in den umliegenden Ortschaften dieselbe Bedeutung, wie sie für Petersburg vor einigen Jahren der Brand der Mstinschen Brücke gehabt hatte. »Die Preise sprangen hinauf und blieben in der Höhe.«

Aus Orjol war unter den übrigen Pilgern auch die Familie der Kaufleute S-w zur Feier gekommen. Sie waren um jene Zeit große »Schütter« oder, um sich einfacher auszudrücken, große Wucherer, die das Getreide von den Bauern aufkauften, es in ihre Speicher schütteten und dann an die Großhändler in Moskau oder Riga verkauften. Dies war ein gewinnbringendes Geschäft, das später, nach der Bauernbefreiung, auch die Adeligen ohne Scheu betrieben. Aber diese schliefen gern lange und überzeugten sich durch bittere Erfahrung, daß sie selbst für das dumme Wuchergeschäft nicht taugten. Die Kaufleute S. zählten ihrer Bedeutung nach zu den ersten »Schüttern«, und ihr Ansehen war so groß, daß man ihnen anstelle ihres Familiennamens einen erhabenen Spitznamen beigegeben hatte. Ihr Haus war, wie es sich versteht, ein streng gottesfürchtiges, wo man des Morgens betete, den ganzen Tag die Leute bedrückte und ausplünderte, worauf abends wieder gebetet wurde. Nachts rasselten die Hofhunde an ihren Ketten, in allen Fenstern leuchteten die Heiligenlämpchen, man vernahm Schnarchen und irgendjemands bitteres Weinen.

Das Haus leitete, wie man jetzt sagen würde, »der Gründer der Firma«, aber damals sagte man einfach »er«. Er war ein hinfälliger Greis, den aber alle wie das Feuer fürchteten. Man sagte von ihm, er verstünde es, einen weich zu betten, aber man schliefe darauf hart; er begegnete einem jeden mit freundlichem Wort, gab ihn aber dann dem Teufel zum Fraße. Er war der bekannte und berüchtigte Typus des Handelspatriarchen.

Nun fuhr dieser Patriarch »in großer Aufmachung« zur Hebung der Gebeine: nämlich er selbst, seine Frau und seine Tochter, die an Melancholie litt und geheilt werden sollte. An ihr waren schon alle Heilmittel der Volkspoesie versucht worden: man hatte ihr kräftigenden Alant zu trinken gegeben, hatte sie mit Päonien bestreut, die gegen Darrsucht helfen, hatte ihr Majoran zu riechen gegeben, der im Kopfe das Gehirn erfrischt, aber nichts hatte geholfen. Nun fuhr man sie zu dem Heiligen und beeilte sich, als die ersten anzukommen, bevor die »erste Kraft« des Wundertäters nachgelassen hatte. Der Glaube an den Vorzug der »ersten Kraft« war sehr stark, und der Grund hierzu war die Erzählung vom Teich Bethesda, wo ebenfalls der erste geheilt wurde, der nach dem Wallen des Wassers hineinstieg.

Die Orjoler Kaufleute fuhren über Livny und Jelez, hatten große Schwierigkeiten zu überwinden und waren schon ganz erschöpft, als sie beim Heiligen ankamen. Aber es stellte sich heraus, daß es unmöglich war, in der »ersten Reihe« beim Heiligen zu sein. Es hatte sich so viel Volk angesammelt, daß gar nicht daran zu denken war, sich zur Nachtmesse am Eröffnungstage in die Kirche durchzudrängen, wo von den neuen Gebeinen die größte Kraft ausgeht.

Der Kaufmann und seine Frau waren in Verzweiflung, am gleichgültigsten war die Tochter, die gar nicht wußte, was ihr entging. Es gab auch gar keine Hoffnung, dem Kummer abzuhelfen, denn es waren so viele vornehme Leute mit so großen Namen da, daß sie als einfache Kaufleute, die wohl an ihrem Orte etwas zu bedeuten hatten, hier bei dieser Versammlung christlicher Größe ganz verloren gingen.

Einmal sitzt der Patriarch vor seinem Fuhrwerke auf dem Gasthofe beim Tee und klagt seiner Frau, daß er schon jede Hoffnung aufgegeben habe, unter den ersten oder auch nur unter den zweiten zum Grabe des Heiligen zu kommen; es würde ihnen höchstens gelingen, mit den allerletzten, d. h. mit den Ackersleuten und Fischern, also dem einfachen Volke durchzudringen. Aber das wäre keine Freude mehr: die Polizei wird dann schon wütend und die Geistlichkeit müde geworden sein, sie wird einen nicht zur Genüge beten lassen und herumstoßen. Und überhaupt ist das alles nicht mehr das Richtige, wenn schon so und so viel tausend Lippen jeglichen Volkes die Gebeine geküßt haben. Unter solchen Umständen hätte man auch später fahren können, sie aber hätten doch nicht das erreichen wollen: sie waren gefahren, hatten sich bemüht, das Geschäft zu Hause den Angestellten überlassen, hatten auf dem Wege alles dreifach überbezahlt, und jetzt hatten sie für alles einen solchen Trost.

Der Kaufmann hatte ein-, zweimal versucht, zu den Diakonen zu gelangen, er war bereit, sich ihnen »erkenntlich zu zeigen«, aber daran war gar nicht zu denken: von der einen Seite wurde man von den weißbehandschuhten Gendarmen oder den peitschenbewehrten Kosaken, von denen man eine große Menge zur Hebung der Gebeine herangezogen hatte, gedrängt, und von der anderen Seite konnte einen, was noch gefahrvoller war, das rechtgläubige Volk selbst, das wie ein Ozean wogte, erdrücken. Solche Fälle waren schon vorgekommen, sogar mehrere gestern und heute. Die guten Christen prallten vor einer Kosakenpeitsche als eine Mauer von fünf und sechshundert Menschen zurück und drückten und preßten sich so fest zusammen, daß aus der Mitte sich ein Stöhnen und Gestank erhob; nachher sah man aber zahlreiche Frauenohren, von denen die Ohrringe gerissen waren, und Finger, von denen die Ringe abgedreht waren, und zwei oder drei Seelen hatten ganz die Körper verlassen.

Der Kaufmann berichtete beim Tee alle diese Schwierigkeiten seiner Frau und Tochter, für welch letztere es ganz besonders notwendig war, die »erste Kraft« zu erlangen. Während dessen ging aber irgendein »hergelaufener Mensch«, dem man nicht ansah, ob er ländlichen oder städtischen Standes war, in einem fort vor dem Schuppen zwischen den Fuhrwerken umher, als beobachte er mit irgendeiner Absicht die Orjoler Kaufleute.

Solche »hergelaufene Menschen« waren hier ebenfalls in großer Zahl zusammengeströmt. Sie fanden beim »Gastmahl des Glaubens« nicht nur ihren Platz, sondern sogar lohnende Beschäftigung. Und deshalb strömten sie hier im Überfluß zusammen; sie kamen aus verschiedenen Orten, aber vor allem aus den Städten, die durch ihre Diebe bekannt sind, d. h. aus Orjol, Kromy, Jelez und Livny, wo es große Meister gab, die wahre Wunder verrichteten. Das ganze zusammengelaufene Gesindel suchte sich hier zu betätigen. Die verwegensten unter ihnen arbeiteten gemeinsam, in kleinen Gruppen unter der Menge verteilt, wo es unter der Mitwirkung der Kosaken leicht war, Gedränge und Verwirrung hervorzurufen, um während des Tumultes fremde Taschen zu durchsuchen, Uhren und Gürtelschnallen abzureißen und Ohrgehänge aus den Ohren zu ziehen. Gewiegtere gingen einzeln durch die Höfe, klagten ihre Not, deuteten Träume und Zeichen, boten Zaubermittel an und »Geheimmittel für alte Leute, aus Walfischsamen, Krähenfett, Elefantensperma« und anderen Ingredienzen, die »eine dauernde Kraft erzeugen«. Diese Mittel standen auch hier hoch im Preise, weil (zur Ehre des Menschentums sei es gesagt!) das Gewissen...



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