E-Book, Deutsch, 168 Seiten
Leuthner Als bei Bruno Lenkovich einmal die Zeit stehenblieb
2. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7578-6537-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weitere Kurzgeschichten
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
            ISBN: 978-3-7578-6537-5 
            Verlag: BoD - Books on Demand
            
 Format: EPUB
    Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die vorliegende dritte Kurzgeschichtensammlung vereint weitere 27 seiner Kurzgeschichten und zwei Gedichte, gegliedert in die Sparten »Beziehungen«, »Gesellschaft«, »Komisch«, »Märchen und Fabeln«, »Krimi« und »Mysteriös«! Im »Anhang« gibt es noch einen kurzen Essay über das »Wesen der Kurzgeschichte«.
Werner Leuthner ist 1942 in München geboren und dort aufgewachsen. Er durchlief drei Ausbildungen: zum Maschinenschlosser, zum Wirtschaftsingenieur und zum Diplompädagogen (Schwerpunkt: außerschulische Jugend- und Erwachsenenbildung).  Sein Berufsleben verbrachte er bei Krauss-Maffei in München-Allach, Siemens in München und dann in der Stadtverwaltung Villingen-Schwenningen. (VHS, Ausbildungswesen, Personalrat). Die letzten zehn Jahre war er als Studienberater in einer Außenstelle der Fern-Universität Hagen tätig.  Diese Tätigkeiten ermöglichten ihm einen breiten Einblick in die Lebensumstände der verschiedensten Menschen.  »Richtig« zu schreiben begonnen hat er mit seinem Renteneintritt 2002. In der Schreibwerkstatt in Villingen-Schwenningen und in der Schreibwerkstatt an der PH-Freiburg hat er Austausch und Anregung gefunden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
       Was wiegt denn eine Seele,
Herr Rychel?
Teil I
Bernd Rychel hatte als Lehrer hier im Gymnasium die Fächer »Deutsch« und »Ethik« unterrichtet und war nun schon fünf Jahre im Ruhestand. Seine Lieblingslektüre in allen Zeitungen, die er in die Finger bekam, waren die Todesanzeigen. Diese studierte er hingebungsvoll. Und mit einer ihm selbst nicht ganz geheueren Genugtuung. Irgendwann kam ihm die Idee, als Trauerredner zu wirken, und so dem Sterben und dem Tod näher zu kommen, nicht nur vermittelt, auf Distanz, durch die Todesanzeigen. Er las entsprechende Berufsbilder und bildete sich autodidaktisch fort. Er hatte ja schon eine breite Basis. Und er konnte zuhören und emphatisch sein. Seinen ersten Einsatz hatte er bei der Trauerfeier für einen ehemaligen Kollegen. Nachdem dieser Auftritt erfolgreich ablief, war er sich sicher, dass dies das richtige Betätigungsfeld für ihn im Ruhestand war. Allerdings musste er sich mit seinen persönlichen Ansichten sehr zurückhalten. Für Bernd Rychel waren die Menschen unbelehrbar; Kriegsfolgen hatten sie nie davon abgehalten, weitere Kriege zu führen. Inzwischen mit modernster, effizienter Technologie – doch dahinter die alten archaischen Muster. Und die Ausplünderung des Planeten schritt ungehindert voran. Für den Planet »Erde« war die Menschheit sicher wie eine schlimme Krätze. Deshalb musste jeder Todesfall dem Planeten ein Quäntchen Erleichterung bringen. Doch die Weltbevölkerung wuchs stetig weiter und damit die Belastung für diese Welt. Die Hinterbliebenen hatten sich auch das Paul-Gerhard-Lied »Wir sind nur Gast auf Erden« gewünscht. Beim Spazierengehen summte er die erste Strophe vor sich hin: »Wir sind nur Gast auf Erden, Und wandern ohne Ruh, Mit mancherlei Beschwerden, Der ew’gen Heimat zu!« Ihm gefiel dieses Lied auch, doch an zwei Begriffen störte er sich, und zwar immer wieder, an »Gast« und an »Heimat«! In seiner Vorstellung bedeutete »Gast«, dass man eingeladen wurde. Dass man folglich auch die Möglichkeit gehabt hätte, die Einladung auszuschlagen. Doch niemand ist je gefragt worden. Niemand konnte gefragt werden. Ungefragt ist jede und jeder zu Welt gekommen. Wer hätte auch antworten sollen? Vor der Befruchtung gab es nichts. Und der Zellhaufen danach kann sich auch nicht äußern. Doch dann ist es bereits zu spät. Bis man auf die hypothetische Frage »Wolltest du denn auf die Welt kommen?« antworten kann, muss man in seiner persönlichen Entwicklung schon sehr weit fortgeschritten sein. Später würde die Frage dann vielleicht lauten: »Willst du auf der Welt sein oder bleiben?«. Sollte man nicht die erste Zeile in diesem Liedtext umformulieren; wie wäre es mit: »Vorübergehend sind wir auf Erden« Das sind zwei Silben mehr als beim Original. Oder: »Begrenzte Zeit sind wir auf Erden« Auch nicht besser. Statt »Gast« das Wort »kurz« zu nehmen, schien ihm zu dürftig. Dann wollte er es doch bei der alten Form belassen. Der Begriff »Heimat« war für Rychel zuerst einmal ein Ort oder eine Gegend, zu dem man eine emotionale Bindung hat. Entweder aus eigener Erfahrung, weil man dort aufgewachsen ist oder aus der Schilderung seiner Eltern oder Großeltern, wie etwa bei den Heimatvertrieben. Aber von der »ew’gen Heimat« konnte ja niemand berichten, sie ist ein reiner Sehnsuchtsort. Ist man von dort aufgebrochen bei der Geburt? Niemand hat eine Erinnerung. Niemand kann eine Erinnerung haben! Sie ist der Ort, in dem es im Gegensatz zum oft beschriebenen »Jammertal«, der Erde, eben keine Beschwernisse, Krankheiten, Not und Bedrängnis mehr gibt. Also eigentlich das Paradies. Doch da gibt es noch eine Hürde für die Gläubigen zu überwinden, das Fegefeuer. Rychel grinste in sich hinein, als er darüber nachdachte. Er war froh, nicht kirchengläubig zu sein. Er würde einmal diesen Umweg nicht nehmen müssen. Bei den Gesprächen mit den Hinterbliebenen musste er darauf achten, keine religiösen Gefühle zu verletzen. Doch in der Regel kamen zu ihm, dem »Freien Trauerredner«, überwiegend Leute mit nur noch geringer oder gar keiner Kirchenbindung mehr. Ein Begriff schien Rychel alle Veränderungen überdauert zu haben, der Begriff der Seele. Aber auch sein Lieblingsphilosoph Arthur Schopenhauer brachte ihn hier nicht weiter. Dieser schrieb, »Die sogenannte Seele ist die Verbindung des Willens mit dem Intellekt«. Dies aufzugreifen, würde alles verkomplizieren und seiner Absicht zuwider laufen, auf ein allgemein verbreitetes Verständnis von Seele zu bauen. Auch die moderne Hirnforschung war für ihn nicht hilfreich, taucht doch dort der Begriff »Seele« kaum mehr auf. Forschungsgegenstand ist jetzt »Geist« oder »Gehirn«. Ihm, Rychel, war eine reduktionistische Sicht, dass alles »Geistige« auf chemisch-elektrische Prozesse zurückzuführen sei, ja selbst zu nüchtern und musste erst recht für seine Kundschaft enttäuschend sein. Auch aus Sicht der Hinterbliebenen kam es ja weniger auf die geistige Kompetenz an, die einen Verstorbenen auszeichnete, sondern auf seinen Charakter, sein Wesen. Also die immaterielle »Essenz«, die als Seele bezeichnet wird. War er oder sie eine »Gute Seele«? Bei seinen Spaziergängen trug Bernd Rychel – ganz altmodisch – ein Notizbuch mit sich und hielt darin seine Einfälle zum Begriff »Seele« fest. Redewendungen und zusammengesetzte Wörter. Irgendwann stellte er diese Liste zusammen:  sich etwas von der Seele reden, Worte, die Balsam für die Seele waren, ein Herz und eine Seele sein, es liegt mir auf der Seele, du sprichst mir aus der Seele, mit Leib und Seele dabei sein, seine Seele dem Teufel verkaufen, nun hat die arme Seele Ruh‘, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, darauf erpicht sein, wie der Teufel auf die arme Seele, eine schwarze Seele haben, Die Absicht ist die Seele der Tat,  aber auch einzelne Worte wie »seelengut«, »seelenruhig«, »unbeseelt«, »unselig«, »Seelenheil« oder »Seelsorger«. Er wollte diese Aufzählung dahin gehend abklopfen, was für den Einsatz bei seinen Trauergesprächen geeignet wäre. Ganz aus der Reihe fiel dabei etwas durchaus Materielles, das im süddeutschen Raum vorkommende Gebäck »Seele«. Meist ist es mit Salz und Kümmel garniert und sieht wie ein kleines Baguette aus (und schmeckt ähnlich). Wie kam diese Art von »Weißbrot« wohl zu seinem Namen, rätselte Rychel. Neben all den Semmeln, Brötchen, Schrippen, Laugen und Laugenstangen? Stellte man sich so die Form von Seelen vor: etwas über 20 Zentimeter lang, sechs bis sieben Zentimeter breit und drei hoch? Rychel stand dem Seelenglauben sehr skeptisch gegenüber, vor allem dem der kirchlichen Ausprägung. Die Seele ist unsterblich – so lautet das Dogma. Doch wenn die Seele die personale Essenz eines Menschen ist, so muss sie sich im Laufe des Lebens erst heranbilden und ausprägen. »Reifen?« Bei der Geburt wird jedem neuen Menschlein eine Seele »von Gott zugeteilt«. Oder eine Seele geht auf irgend einem geheimnisvollen Wege die Verbindung zu diesem Neugeborenen ein, das ja noch keine Persönlichkeit ist oder hat. Rychel legte sich das mit einem Bild aus der Chemie oder Physik zurecht: So wie sich zwei Atome gegenseitig anziehen (können), um dann gemeinsam ein Molekül zu bilden, so ziehen sich Mensch und Seele an. (Was den Zeitpunkt anging, hielt er es für völlig unwahrscheinlich, dass diese Koppelung schon mit der Zeugung erfolgen könnte). Es war für Bernd Rychel logisch, dass diese so verbundene Seele ein »Blanko«-Exemplar sein müsse, denn diese sollte ja im Laufe des Lebens »gefüllt« werden mit all dem, was diesen einen Menschen später ausmacht! Rychel plagten Zweifel. (Doch von diesen Zweifeln bekamen seine Kunden nichts mit.) Da Seelen unsterblich sind, müssen sie schon vorhanden sein! Es müsste also einen unerschöpflichen Fundus an Seelen geben. Jetzt leben etwa acht Milliarden Menschen auf der Erde. Hinzu kommen die vielen, die schon früher lebten. Die Kirchengläubigen gehen von der Weiterexistenz ihrer Seelen aus – möglichst nahe bei (ihrem) Gott, also in der »ew’gen Heimat«. Und was passiert mit den Seelen der Ungläubigen? Werden diese recycelt? Nach einem »Reset« erneut in Umlauf gebracht? Ganz nachhaltig! An eine für Rychel sympathischere Sicht von Seelen im Jenseits konnte er sich bei Dante erinnern. In Dante Alighieris vor etwa 700 Jahren erschienenen »Commedia« werden Seelen als sichtbare Schatten beschrieben. Man konnte sie aber nicht anfassen oder umarmen, auch wenn sie eine (ihre) Stimme... 





