E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Leuze Das Glück an meinen Fingerspitzen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-945932-67-4
Verlag: 26|books
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-945932-67-4
Verlag: 26|books
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Nebelverhangene Wälder, einsame Pazifikstrände – und absolut kein Kontakt zur Außenwelt: So stellt sich Jana das Paradies vor, seit sie am eigenen Leib erfahren hat, wozu Menschen fähig sind. Bei ihrem Onkel, der in der kanadischen Wildnis Wölfe und Bären erforscht, will sie endlich vergessen, was ihr im letzten Frühjahr passiert ist. Doch dann verschwindet ihr Onkel spurlos und vor ihrer Blockhütte steht plötzlich ein verletzter junger Mann namens Luke. Jana hat keine Wahl: Sie muss Luke vertrauen. Denn nur gemeinsam werden sie einen Weg aus der Wildnis finden. Auf der tagelangen Wanderung durch die unberührte Natur British Columbias kommen sich Jana und Luke langsam näher. Jana ahnt nicht, dass auch er vor etwas davonläuft ...
Eine berührende Liebesgeschichte in der atemberaubenden Wildnis Kanadas.
***Nominiert für den Delia-Jugendliteraturpreis 2019***
Autoren/Hrsg.
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Jana
Das Boot schaukelt hin und her. Seit einer Woche bin ich nun schon in Kanada, und drei volle Wochen habe ich noch vor mir. Dass ich diese drei Wochen mit Richard auf seiner Insel verbringen werde, im Herzen des nordischen Regenwalds, war so allerdings nicht geplant. Eigentlich hätte ich in der Stadt bleiben sollen, im fröhlichen, sonnigen Victoria. Aber es kam anders, wie so vieles in diesem Jahr. Okay: wie alles in diesem Jahr. Abi machen und ausgelassen feiern, mit Carmen die Nächte durchquatschen, mich aufs Studium freuen: So hätten die letzten Monate ablaufen sollen. Abi machen und mich in meinem Zimmer verkriechen, wochenlang dort drin bleiben und von meinen verzweifelten Eltern schließlich nach Kanada geschickt werden, zu Mamas jüngerem Bruder und seiner Frau Grace: So lief es tatsächlich ab. Und deshalb bin ich hier. Ich kneife die Augen zusammen und blicke zurück. Campbell Island ist nur noch schemenhaft zu erkennen. Um unser Boot herum wogt der Pazifik, und ich spüre, wie die Angst in mir aufsteigt. Diese Scheiß-Angst. Wird sie mich jetzt mein Leben lang begleiten, nur weil mir diese eine, verfluchte Sache passiert ist? Ich schlucke und drehe mich wieder um, schaue zu Onkel Richard, der ruhig und sicher das Boot navigiert. Sofort fühle ich mich ein bisschen besser. Denn Richard ist nun wirklich nicht gefährlich. Und vor dem Pazifik muss ich auch keine Angst haben. Da gibt es wirklich anderes, vor dem man sich fürchten kann. Obwohl ich es normalerweise hasse, wenn meine Eltern Dinge über meinen Kopf hinweg entscheiden, sperrte ich mich nicht gegen ihren Entschluss, mich nach Kanada zu schicken, damit ich »mal ein wenig Abstand bekomme«, wie sie es ausdrückten. Zum einen besaß ich gar nicht die Kraft, mich zu wehren. Zum anderen, und das gab den Ausschlag für meine Fügsamkeit, habe ich meinen Onkel und meine Tante wirklich gern. Der Entfernung geschuldet sehe ich die beiden nicht oft, aber wenn wir uns sehen, ist es immer nett. Dass Richard und Grace nur Englisch sprechen, ist auch kein Problem, denn ich bin zwar in Deutschland geboren, dank meiner kanadischen Mutter aber zweisprachig aufgewachsen. Mein Onkel und meine Tante sind Wissenschaftler. Sie arbeiten als Biologen an der Universität von Victoria, und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass ihr Beruf ihr Leben ist. Unermüdlich erforschen Richard und Grace die Natur an der Westküste British Columbias – den Great Bear Rainforest, der auch »Amazonasgebiet des Nordens« genannt wird, weil er die unzähligen wilden Pazifikinseln vor der Küste miteinschließt. Richard und Grace sind regelrecht besessen: von der nebeligen Schönheit der Urwälder, die das Land zwischen Küstenbergen und Pazifik bedecken. Von dem blaugrünen Labyrinth aus Meerengen und schroffen Inseln, das der wild zerklüfteten Küste vorgelagert ist. Salzwasser und Lachsflüsse, Wale und Berglöwen, tiefe Fjorde und schwindelerregend hohe Nadelbäume - das ist das Universum meiner Tante und meines Onkels. Und obwohl sie bisher die meiste Zeit zwischen Universitätsmauern verbracht haben, im Labor und im Hörsaal, ist es seit Jahren ihr sehnlichster Wunsch, gemeinsam auf einer wilden Insel zu leben und die Raubtierpopulationen zu erforschen. Und sie wurden fündig: Nordwestlich von Campbell Island, im Herzen des Great Bear Rainforest, stießen sie bei einer Erkundungsfahrt mit dem Boot auf eine abgeschiedene Pazifikinsel. Sie ist gut zwanzig Kilometer lang und im Schnitt sieben Kilometer breit, durchzogen von mehreren Flüsschen, mit Hinweisen auf die Anwesenheit von Wölfen und Bären. Richards und Grace’ Urteil lautete einhellig: perfekt! Das alles haben sie mir gleich an meinem ersten Abend hier erzählt. Sobald wie möglich würden sie ganz auf die Insel übersiedeln, erklärte Grace. Zwar würden sie nicht das ganze Jahr über dort leben, aber doch den größten Teil, sommers wie winters. Ich fragte sie, ob sie die wilde Natur dort mit ihrer dauernden Anwesenheit denn nicht verändern würden, woraufhin Grace leicht zusammenzuckte. Sie versicherte mir, dass sie und Richard sich so rücksichtsvoll verhalten wollten wie nur möglich. Denn sie seien zwar Vollblut-Forscher und stellten die Wissenschaft über alles, aber Tiere und Pflanzen, so viel sei sicher, seien trotzdem ihre ganz große Liebe. Manchmal, fügte Richard bedauernd hinzu, müsste im Dienste der Wissenschaft eben das eine oder andere kleine Opfer gebracht werden. Daraufhin seufzte Grace. Dass Grace und Richard die Natur, die sie erforschen, wirklich lieben, glaube ich ihnen aufs Wort. Sobald sie auf ihre Insel zu sprechen kommen, werden die beiden nämlich aufgeregt wie Kinder. Und sie kommen ständig darauf zu sprechen. Seit meiner Ankunft vor einer Woche reden sie praktisch von nichts anderem. Vielleicht auch, weil ich sie gebeten habe, mich mit der anderen Sache – der Sache, die über mir schwebt wie eine schwarze Wolke - in Ruhe zu lassen. Ich quatsche gerne bis zum Erbrechen über diese Insel. Aber nicht über das, was im Frühling passiert ist. Denn wenn ich einfach so tue, als sei nie etwas geschehen … dann schaffe ich es vielleicht doch noch, über all das hinwegzukommen. Wieder normal zu werden. Anderen offen in die Augen blicken zu können. Nicht mehr ständig die vergifteten Worte zu denken: Du auch? Ja, ganz bestimmt. Du auch. Leider muss ich zugeben, dass ich auf meinem Weg zur Normalität bisher nicht sehr weit gekommen bin. Obwohl ich schon seit einer Woche in Kanada bin und Victoria achttausend Kilometer von zu Hause entfernt ist, scheint das immer noch nicht weit genug zu sein. Entspannt habe ich mich in den letzten Tagen jedenfalls kein bisschen. Denn auch in Victoria laufen ja Menschen herum, blicken die Mädchen mich neugierig an, lächeln die Jungs, glotzen die Männer. Auch in Victoria gibt es Geschäfte, Internetcafés und Drogeriemärkte, genau wie in Deutschland. Und so kam es gleich in den ersten Tagen, wie es kommen musste: Die vielen Menschen um mich herum wurden mir zu viel und ich tickte aus. Bei einem Stadtbummel mit Tante Grace passierte es. Inmitten der hübschen, englisch anmutenden Innenstadt, zwischen Blumenschmuck und historischen Häusern, fing mein Herz an zu rasen, die Straßenlaternen neigten sich, der Asphalt schwankte … kurz, ich bekam einen ausgewachsenen Panikanfall. Wimmernd sank ich auf einer Bank zusammen, schlug mir die Hände vors Gesicht, zitterte wie Espenlaub, und erst nach viel gutem Zureden von Seiten meiner Tante schaffte ich es, mich so weit zu fangen, dass ich die Menschen um mich herum ignorieren und mit Grace nach Hause gehen konnte. An jenem Abend war ich sehr deprimiert. Und Richard und Grace offensichtlich sehr besorgt, denn schon am nächsten Tag machten sie mir einen Vorschlag. Es war beim Mittagessen in einem Café in der Nähe der Uni, als Richard wie nebenbei sagte: »Eigentlich könnten wir beide zur Insel fahren, Jana.« »Zur Insel?« Ich hob die Brauen. »Zu eurer Insel?« »Warum nicht?« Mein Onkel lächelte. »Ganz weit weg sein. Der Zivilisation den Rücken kehren. Abseits der Menschen zur Ruhe kommen. Vielleicht ist es ja genau das, was du mal brauchst!« »Aber … müsst ihr denn nicht arbeiten?«, fragte ich verdattert. »Ich meine hier, an der Uni. Euer Inselprojekt hat doch noch gar nicht angefangen, oder?« Grace faltete die Hände auf dem Tisch. »Was mich betrifft, hast du recht. Tatsächlich muss ich erst noch meine aktuelle Arbeit abschließen, vorher kann ich mich leider gar nicht um unsere Insel kümmern. Aber Richard steht in den Startlöchern. Er ist schon ganz ungeduldig, nicht wahr, Liebling?« »Oh ja. Von mir aus könnte es jederzeit losgehen«, bestätigte mein Onkel. Ich runzelte die Stirn. »Verstehe ich das richtig, Tante Grace: Du stehst eigentlich total unter Zeitdruck, weil du endlich mit deiner aktuellen Arbeit fertig werden willst? Und du, Onkel Richard, wärst viel lieber schon auf der Insel als hier in Victoria?« Beide nickten. »Aber warum habt ihr dann nicht einfach nein gesagt, als meine Eltern mich zu euch schicken wollten?«, fragte ich verständnislos. »Offensichtlich ist der Zeitpunkt für meinen Besuch doch super ungünstig!« Weder Grace und Richard antworteten mir. Stattdessen blickten sie verlegen auf ihre Teller. Und da begriff ich. »Sie haben euch erzählt, dass ich zu Hause durchdrehe«, sagte ich leise. »Dass sie nicht weiterwissen. Dass es nicht besser wird, sondern immer schlimmer. Deshalb habt ihr euch nicht getraut, nein zu sagen. War es so?« »Ähm. So direkt haben deine Eltern es nicht …« »Bitte, Jana, du sollst nicht denken, dass du … dass wir …« Sie verstummten. Und eigentlich wollte ich ihre Beschönigungen auch gar nicht hören. Ich wusste ja selbst, wie bekloppt ich geworden war. Nicht durch eigene Schuld, immerhin. Aber das nützte mir auch nicht viel. »Einverstanden«, sagte ich rau. »Fahren wir zur Insel.« Grace legte ihre Hand auf meine und drückte sie, und ich zwang mich zu einem Lächeln. Vielleicht war es ja wirklich eine ganz gute Idee. Wenn wir fuhren, konnte Grace sich kopfüber in die Arbeit stürzen, ohne sich um mich kümmern zu müssen. Richard könnte das Inselprojekt starten. Und ich selbst würde, wenn meine Tante und mein Onkel recht behielten, dort draußen im Nirgendwo ein klein wenig zur Ruhe kommen. Keine Menschen, flüsterte es sehnsüchtig in mir. Keine Menschen! Ich stellte es mir vor – nur mein Onkel, die Natur und ich – und plötzlich war mein Lächeln echt. Eine heftige Windböe zaust mein Haar und bringt mich zurück in die...