Levy | Der Mann, der alles sah | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Levy Der Mann, der alles sah


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-311-70166-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-311-70166-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



London 1988. Der junge Historiker Saul Adler wird auf der Abbey Road angefahren. Nur leicht verletzt steht er auf und posiert für seine Freundin Jennifer Moreau auf dem Zebrastreifen, berühmt geworden durch das Beatles-Album. Das Foto nimmt er mit nach Ostberlin, wo er über den frühen Widerstand gegen den Nationalsozialismus forschen will. Dort begegnet Saul dem Übersetzer Walter Müller und dessen Schwester Luna, deren größter Wunsch es ist, endlich die Penny Lane in Liverpool zu sehen. Mit beiden beginnt Saul eine Affäre - und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die Geschichte holt Saul ein, seine eigene und die Europas. Zeit und Raum lösen sich auf, Wahrheiten stehen auf schwankendem Grund, und keiner sieht, was der andere sieht. Bis Saul dreißig Jahre später wieder auf der Abbey Road steht - und allmählich begreift, was er, der so vieles zu sehen meinte, nicht erkannt hat, und was die anderen in ihm gesehen haben. Ein Roman darüber, wie wir unsere eigene und die kollektive Geschichte (zurecht)erzählen und wie wenig wir uns selbst über den Weg trauen können, im Leben und in der Liebe.

Deborah Levy, geboren 1959 in Südafrika, ist Romanautorin, Dramatikerin und Lyrikerin. 1968 emigrierte ihre Familie nach Großbritannien. Levy besuchte bis 1981 das Dartington College of Arts und begann, Theaterstücke zu schreiben. In Cardiff leitete sie die Manact Theatre Company. Sie verfasste neben einer großen Anzahl von Theaterstücken und Beiträgen für Radio und Fernsehen Erzählungen und Romane. Ihre Stücke werden u. a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Heim schwimmen und Heiße Milch standen auf der Shortlist für den Man Booker Prize. Deborah Levy lebt und arbeitet in London.
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1 Abbey Road, London, September 1988


Ich habe daran gedacht, dass Jennifer Moreau mir einmal gesagt hat, ich dürfe ihre Schönheit niemals beschreiben, weder ihr noch einem anderen gegenüber. Als ich sie danach fragte, warum ich auf diese Weise zum Schweigen verdammt wurde, sagte sie: »Weil du nur alte Worte hast, um mich zu beschreiben.« Das beschäftigte mich, als ich den schwarz-weißen Zebrastreifen betrat, vor dem alle Fahrzeuge anhalten müssen, damit die Fußgänger die Straße überqueren können. Ein Auto kam auf mich zu, hielt aber nicht an. Ich musste zurückspringen und fiel auf die Hüfte, wobei ich mich mit den Händen abstützte. Das Auto blieb stehen, und ein Mann ließ das Fenster herunter. Er war in den Sechzigern, silbernes Haar, dunkle Augen, dünne Lippen. Er erkundigte sich, ob es mir gut ginge. Als ich nicht antwortete, stieg er aus.

»Verzeihung«, sagte er. »Sie sind auf den Zebrastreifen gelaufen, ich bin vom Gas runter und wollte anhalten, aber dann haben Sie es sich anders überlegt und sind zum Straßenrand zurückgekehrt.« Seine Lider zuckten in den Augenwinkeln. »Und dann sind Sie unvermittelt auf den Zebrastreifen getaumelt.«

Ich lächelte über seine minutiöse Darstellung des Geschehens, offensichtlich zu seinen Gunsten. Verstohlen musterte er sein Auto, um zu prüfen, ob es beschädigt worden war. Der Außenspiegel war zersplittert. Seine dünnen Lippen teilten sich, er seufzte sorgenvoll und murmelte etwas in der Art, dass er den Spiegel aus Mailand habe kommen lassen.

Ich war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte einen Vortrag über die Psychologie männlicher Tyrannen geschrieben. Begonnen hatte ich ihn mit einer Angewohnheit Stalins, der Frauen über den Esstisch hinweg Brot zuschnipste, wenn er mit ihnen flirtete. Meine Notizen, ungefähr fünf Seiten, waren aus meiner ledernen Umhängetasche gefallen, und peinlicherweise auch ein Päckchen Kondome. Ich begann sie aufzulesen. Ein kleines, flaches, rechteckiges Ding lag auf der Straße. Ich bemerkte, dass der Fahrer auf meine Fingerknöchel sah, als ich ihm das Ding reichte, das sich warm anfühlte und in meiner Hand zu vibrieren schien. Mir gehörte es nicht, daher nahm ich an, dass es ihm gehörte. Blut tropfte zwischen meinen Fingern hindurch. Meine Handflächen waren aufgeschunden, und da war eine Schnittwunde auf dem Knöchel der linken Hand. Ich saugte daran, während er mich, deutlich besorgt, beobachtete.

»Kann ich Sie irgendwohin mitnehmen?«

»Es geht mir gut.«

Er bot mir an, mich zu einer Apotheke zu fahren, damit »die Wunde versorgt« werden könne, wie er es ausdrückte. Als ich den Kopf schüttelte, streckte er die Hand aus und berührte mein Haar, was eigenartig tröstlich war. Er fragte mich nach meinem Namen.

»Saul Adler. Sehen Sie, es ist nur ein Kratzer. Ich habe dünne Haut. Ich blute immer stark, es hat nichts zu bedeuten.«

Er hielt den linken Arm auf seltsame Weise und stützte ihn mit dem rechten. Ich sammelte die Kondome auf und schob sie in meine Jacketttasche. Ein Wind kam auf. Das unter den Bäumen zu kleinen Haufen zusammengekehrte Laub wehte über die Straße. Der Fahrer erzählte mir, dass es wegen einer Demonstration an diesem Tag in London eine Umleitung gegeben habe und er sich gefragt habe, ob die Abbey Road gesperrt sei. Die Umleitung sei nicht deutlich genug ausgeschildert gewesen. Er verstehe nicht, warum er sich habe verwirren lassen, weil er oft hier entlangkomme, um ganz in der Nähe im Lord’s Kricket zu gucken. Während er sprach, schaute er auf das rechteckige Ding in seiner Hand.

Das Ding sprach. Es gab definitiv eine Stimme im Inneren, die Stimme eines Mannes, und er sagte etwas Zorniges und Beleidigendes. Wir gaben beide vor, seine Worte nicht zu hören.

»Wie alt sind Sie, Soorl? Können Sie mir sagen, wo Sie wohnen?«

Ich glaube, der Fast-Zusammenstoß hatte den Fahrer wirklich erschreckt.

Als ich ihm mitteilte, ich sei achtundzwanzig, glaubte er mir nicht und erkundigte sich noch einmal nach meinem Alter. Er war so vornehm, dass er meinen Namen aussprach, als steckte ein Kiesel zwischen Gaumen und Unterlippe. Sein silbernes Haar war nach hinten frisiert, mit einem Stylingprodukt, das es glänzen ließ.

Im Gegenzug fragte ich ihn nach seinem Namen.

»Wolfgang«, sagte er sehr schnell, als wollte er verhindern, dass ich ihn mir einprägte.

»Wie Mozart«, sagte ich, und dann, ähnlich einem Kind, das dem Vater zeigt, wo es sich verletzt hat, als es von der Schaukel fiel, zeigte ich auf die Schnittwunde auf meinem Knöchel und sagte noch einmal, dass es mir gut gehe. Wegen seines besorgten Tons war ich inzwischen fast den Tränen nahe. Ich wollte, dass er wegfuhr und mich allein ließ. Vielleicht hatten die Tränen etwas mit dem kürzlichen Tod meines Vaters zu tun, obwohl mein Vater nicht so gepflegt oder freundlich gewesen war wie Wolfgang mit dem glänzenden Silberhaar. Um seine Abfahrt zu beschleunigen, erklärte ich ihm, dass meine Freundin jede Minute eintreffen müsse, er brauche also nicht zu warten. Sie werde nämlich ein Foto von mir machen, wie ich auf den Zebrastreifen trete, ganz nach dem Vorbild des Fotos auf dem Beatles-Album.

»Um welches Album handelt es sich, Soorl?«

»Es heißt . Das kennt doch jeder. Wo sind Sie denn gewesen, Wolfgang?«

Er lachte, sah aber traurig aus. Vielleicht wegen der beleidigenden Worte, die aus dem Inneren des vibrierenden Dings in seiner Hand gekommen waren.

»Und wie alt ist Ihre Freundin?«

»Dreiundzwanzig. Übrigens war das letzte Album der Beatles, das sie gemeinsam in den EMI-Studios aufgenommen haben, die gleich da drüben sind.« Ich zeigte auf ein großes weißes Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Natürlich, das weiß ich«, sagte er traurig. »Die sind fast so berühmt wie der Buckingham-Palast.« Er ging zurück zu seinem Auto und murmelte: »Passen Sie auf sich auf, Soorl. Sie haben Glück mit einer so jungen Freundin. Was machen Sie übrigens beruflich?«

Ich fing an, mich über seine Kommentare und Fragen zu ärgern – auch darüber, wie er seufzte, als trüge er das Gewicht der Welt auf den Schultern seines beigen Kaschmirmantels. Ich beschloss, nicht zu offenbaren, dass ich Historiker und mein Forschungsgebiet das kommunistische Osteuropa war.

Es war eine Erleichterung, das animalische Aufheulen seines Motors zu hören, als ich wieder auf den Fußweg trat.

Wenn man bedenkt, dass er es war, der mich beinah umgefahren hatte, war er vielleicht eher derjenige, der besser aufpassen sollte. Ich winkte ihm, doch er winkte nicht zurück. Und was meine junge Freundin angeht, so war ich bloß fünf Jahre älter als Jennifer, was sollte da seine Bemerkung? Und warum wollte er ihr Alter wissen? Oder was ich »beruflich mache«?

Egal. Ich blickte auf die Notizen in meiner Hand (die immer noch blutete), wo ich aufgeschrieben hatte, dass Stalins Vater Alkoholiker gewesen war und seine Familie misshandelt hatte. Stalins Mutter hatte ihren Sohn Josef in einer griechisch-orthodoxen Priesterschule angemeldet, um ihn vor dem Zorn seines Vaters zu schützen, nachdem er versucht hatte, sie zu erwürgen. Ich konnte meine eigene Handschrift kaum lesen, doch ich hatte eine Passage unterstrichen, die davon handelte, dass Stalin Menschen immer wieder sowohl für ihre bewussten als auch ihre unbewussten Sünden bestrafte – wie zum Beispiel Gedankenverbrechen gegen die Partei.

Meine linke Hüfte tat jetzt weh.

. Danke für den Rat, Wolfgang.

Zurück zu meinen Notizen, die jetzt mit Blut von meinem Knöchel beschmiert waren. Josef Stalin (ich hatte das spätnachts geschrieben) bereitete es stets Vergnügen, jemanden zu bestrafen. Er tyrannisierte sogar den eigenen Sohn – mit solcher Grausamkeit, dass der sich zu erschießen versuchte. Stalins Frau erschoss sich auch selbst, erfolgreicher als ihr Sohn, der im Gegensatz zu seiner Mutter am Leben blieb, um von seinem Vater immer wieder tyrannisiert zu werden. Mein eigener verstorbener Vater ist nicht gerade ein Tyrann gewesen. Diese Aufgabe überließ er meinem Bruder Matthew, der immer ein wenig Grausamkeit in petto hatte. Wie Stalin hatte Matthew es auf die eigenen Familienmitglieder abgesehen oder sorgte dafür, ihr Leben so erbärmlich zu machen, dass sie sich schließlich selbst Schaden zufügten.

Ich saß auf der Mauer vor den EMI-Studios und wartete auf Jennifer. In drei Tagen würde ich nach Ostdeutschland reisen, in die DDR, um an der Humboldt-Universität über die kulturelle Opposition gegen den aufsteigenden Faschismus in den 1930er Jahren zu forschen. Obwohl ich ziemlich fließend Deutsch sprach, hatte man mir einen Dolmetscher zugewiesen. Er hieß Walter Müller. Ich sollte zwei Wochen bei seiner Mutter und Schwester wohnen, die mir ein Zimmer in ihrer Mietwohnung in Ostberlin in der Nähe der Universität angeboten hatten. Walter Müller war ein Grund dafür, dass ich auf dem Zebrastreifen fast überfahren worden wäre. Er hatte mir geschrieben und mitgeteilt, dass seine Schwester, die Katrin hieß – aber die Familie nannte sie Luna –, ein großer Beatles-Fan sei. Seit den 1970ern durften Alben sowohl der Beatles als auch von Bob Dylan in der DDR erscheinen, anders als in den 1950ern und -60ern, als Popmusik von der herrschenden Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands als kulturelle Waffe zur...


Levy, Deborah
Deborah Levy, geboren 1959 in Südafrika, ist Romanautorin, Dramatikerin und Lyrikerin. 1968 emigrierte ihre Familie nach Großbritannien. Levy besuchte bis 1981 das Dartington College of Arts und begann, Theaterstücke zu schreiben. In Cardiff leitete sie die Manact Theatre Company. Sie verfasste neben einer großen Anzahl von Theaterstücken und Beiträgen für Radio und Fernsehen Erzählungen und Romane. Ihre Stücke werden u. a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Heim schwimmen und Heiße Milch standen auf der Shortlist für den Man Booker Prize. Deborah Levy lebt und arbeitet in London.



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