Lewis | Lügenmädchen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Lewis Lügenmädchen

Psychothriller
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-16089-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Psychothriller

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-641-16089-0
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eines Abends steht sie einfach vor der Tür. Und sie wird so lange bleiben, bis sie alles zerstört hat.

Stella lebt völlig zurückgezogen in einem luxuriösen, einsam gelegenen Haus in der Nähe von London. Sie hat es kaum verlassen, seit sie nach einem traumatischen Ereignis an Panikattacken leidet. Eines kalten Winterabends steht überraschend ein völlig durchgefrorenes junges Mädchen vor ihrer Tür und bittet um Einlass. Alles in Stella sträubt sich, aber die Gestalt macht einen so hilflosen Eindruck, dass sie schließlich widerwillig die Tür öffnet. Sie bereut es schnell, denn von dem Mädchen scheint eine merkwürdige Bedrohung auszugehen. Und dann beginnt Blue, Geschichten zu erzählen, die Stella zutiefst verstören. Ist das Mädchen eine Psychopathin? Oder sagt sie gar die Wahrheit? Stella weiß nicht mehr, was sie glauben soll, sie weiß nur eines: dass sie entsetzliche Angst hat ...

Luana Lewis ist klinische Psychologin und Autorin zweier Sachbücher. Sie verfasst regelmäßig Artikel für Zeitungen, Magazine und Zeitschriften und hat einen Abschluss in Kreativem Schreiben. Mit ihrem ersten Spannungsroman, »Lügenmädchen«, hatte sie auf Anhieb großen Erfolg.
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Hilltop, Freitag, 7. Januar 2011, 15 Uhr

Anfangs ignorierte sie die Klingel.

Es schrillte, der Krach gellte durch die Diele bis ins Wohnzimmer und schoss grell in ihrem Schädel hin und her.

Sie stand am Fenster und blickte hinaus auf ihren Garten, auf eine Welt, die weiß leuchtete. Der Boden war schneebedeckt, ebenso die wirren Äste der Bäume und die Chiltern Hills dahinter. Es sieht aus wie Narnia, dachte sie, als könne jeden Moment Aslan aus dem Wald kommen.

Die Stille war unnatürlich. Nervtötend.

Heute Morgen um neun hatte es angefangen zu schneien. Die Zeitungen verbreiteten Warnungen: Heftige Schneefälle. Flüge wurden gestrichen. Ihr Mann war wie gewöhnlich zur Arbeit gefahren.

Es klingelte wieder. Länger, lauter, beharrlicher.

Sie fühlte sich ausgesetzt vor der Fensterwand, die sich quer über die Rückseite des Hauses erstreckte. Ihr Zuhause war ein weißer Betonbau, ein modernistischer Triumph aus scharfen Kanten und hohen Fenstern. Eigentlich sollte es niemandem gelingen, durch das Tor auf die Zufahrt zu gelangen, ohne dass in ohrenbetäubender Lautstärke der Alarm losging. Aber irgendjemand hatte es geschafft. Der Schnee war das Problem: Wahrscheinlich lag er so hoch, dass er das Infrarotauge des Sensors verdeckte.

Sie zog am Ausschnitt ihres Pullovers. Er war zu eng und kratzte sie am Hals. Ihr Mund war trocken, sie hatte feuchte Hände. Es war drei Uhr, bald würde es dunkel werden. Ihr Mann würde nicht nach Hause kommen. Der Schnee war zu einer zentimeterdicken Eisschicht gefroren, und die steile Auffahrt war nicht zu bewältigen.

Sie überprüfte, ob die Terrassentüren abgeschlossen waren. Eine Böe wehte um die Kante des schwarzen Stahltürrahmens, als wolle sich die Kälte mit Gewalt Einlass verschaffen. Das Haus stand unter Denkmalschutz, man durfte nichts daran verändern, Türen und Fenster konnten nicht ausgetauscht werden. Sie überprüfte die Schlösser noch einmal und zog dann die schweren Vorhänge zu.

Wieder klingelte es. Und wieder.

Sie lief im Wohnzimmer auf und ab. Eine halbleere Weinflasche stand offen auf dem Sofatisch. Sie atmete. Drei Sekunden ein, drei Sekunden aus. Sie hielt sich fest die Ohren zu.

Ein normaler Mensch würde einfach an der Tür nachsehen, wer dort war.

Stella betrat die geräumige quadratische Eingangshalle. Ein Kronleuchter mit unzähligen runden Glasscheiben schraubte sich spiralförmig von der Decke durch das Treppenhaus herunter. Als sie einen Schalter umlegte, reflektierten die hellgrauen Wände das Licht, es funkelte überall, viel zu grell. Sie war verwirrt, als hätte sie ein Spiegelkabinett betreten und die Orientierung verloren. Sie würde nicht in Panik geraten. In Hilltop hatte noch nie jemand versucht, ihr etwas anzutun. Menschen, die einem etwas antun wollten, kündigten sich nicht an oder warteten darauf, eingelassen zu werden. Aber sie konnte sich nicht denken, weshalb jemand mitten in einem Schneesturm bei ihr klingeln sollte.

Sie warf einen Blick auf den Monitor an der Wand neben der Haustür. Draußen war eine junge Frau. Sie stand auf der Schwelle, die Arme um die Brust geschlungen, und trat von einem Fuß auf den anderen. Über ihre langen, hellen Haare hatte sie eine Beanie gezogen, tief ins Gesicht. Eine kurze Lederjacke, verziert mit Nieten und Reißverschlüssen, reichte ihr kaum bis über die Taille.

Stella nahm den Hörer zur Hand. »Ja?«

»Mir ist eiskalt. Kann ich reinkommen?« Schneeflocken wirbelten um sie herum, während sie in die Sprechanlage brüllte. Sie zitterte vor Kälte und sah nicht sonderlich nach einer Bedrohung aus. »Dürfte ich mal telefonieren?«

Sie blickte hoch in die Kamera. Der Bildschirm zeigte ein hübsches Gesicht mit Katzenaugen und hohen Wangenknochen.

»Tut mir leid«, sagte Stella. »Nein. Versuchen Sie es bei den Nachbarn.« Sie legte den Hörer wieder auf.

Dann wartete sie, bis der Bildschirm schwarz wurde und die Person dort draußen verschwunden war, kehrte ins Wohnzimmer zurück und nahm ihren Platz am Fenster ein. Aber ihr war unbehaglich zumute. Der Bann war gebrochen. Der Schnee, der alles bedeckte – den Rasen, die Bäume und die Hügel dahinter –, hatte nichts Magisches mehr. Sie war nicht gern allein. Tagsüber war es schwierig, nachts fast unmöglich.

Die Luft zerstob, als die Klingel wieder schrillte.

Auf die Polizei würde es kaum Eindruck machen, wenn sie anrief, um sich zu beschweren, dass eine junge Frau bei ihr geklingelt hatte. Und ihren Mann wollte sie nicht stören. Aber sie würde ihn so gern anrufen und fragen, was sie machen sollte. Ihr BlackBerry lag direkt neben ihr. Sie nahm ihn in die Hand. Fuhr mit den Fingern über die Tasten. Legte ihn wieder hin. Sie würde Max nicht anrufen, sie würde die Situation selbst bewältigen. Es ging ihr langsam besser. Nein, das stimmte natürlich nicht. Sie war allein und hilflos und nutzlos. Sie wollte Max. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie ihn den ganzen Tag bei sich zu Hause.

Max verdiente eine bessere Ehefrau. Er hatte sie gerettet, und dann war alles den Bach runtergegangen, was absehbar gewesen war.

Sie kehrte zur Haustür zurück, die in ihr aufsteigende Wut machte ihrer Nervosität Konkurrenz. Der Überwachungsmonitor zeigte wieder die junge Frau mit der fast bis zu den Augenbrauen heruntergezogenen Mütze und der absurd kurzen Lederjacke, die nicht wärmte.

»Was ist denn?«, fragte Stella.

Das Mädchen blickte hoch zur Kamera. »Ich hab mal hier gewohnt«, plapperte sie los. »Ich bin aus London hergekommen, um mein altes Haus zu sehen. Ich wusste nicht, dass es so stark schneien würde. Alles ist gefroren, und der Rückweg den Hügel hinunter ist wirklich steil. Kann ich bitte, bitte reinkommen?«

Stella merkte, dass das Mädchen draußen sehr jung war. Sie konnte nicht älter als fünfzehn sein. Vierzehn vielleicht. Ein Kind.

»Ich rufe dir ein Taxi zum Bahnhof«, sagte Stella.

»Das geht nicht. Die haben dichtgemacht, weil es so schneit. Bitte. Die U-Bahn fährt auch nicht, ich sitze hier fest. Über die Straße kann ich nicht runter, da breche ich mir den Hals.« Vor Entrüstung und Verzweiflung sprach das Mädchen immer lauter. »Kann ich nicht einfach reinkommen?«

Das Mädchen zitterte vor Kälte. Ihre Lippen waren eine lila Scharte, erschreckend dunkel vor der Blässe ihres Gesichts. Sie sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Sie tat Stella leid. Aber nicht leid genug, um es zu riskieren, die Tür aufzumachen.

»Nein«, sagte Stella. »Versuch es bei einem der anderen Häuser. Du hast eine ganze Straße, aus der du eins auswählen kannst.«

»Bitte«, sagte das Mädchen. »Mir ist so kalt. Warum können Sie mich nicht einfach reinlassen?« Schmollend schaute sie in die Kamera und stampfte mit ihren weißen Turnschuhen auf den schwarzen Marmorfliesen auf.

Stella knallte den Hörer wieder in die weiße Plastikhalterung und sah zu, wie sich das Mädchen vergeblich bemühte, warm zu bleiben. Sie ging auf und ab, hinterließ ein planloses Muster in dem Schnee vor Stellas Haustür. Sie schlang die Arme um sich und hüpfte auf und ab. Irgendwann hörte sie dann auf zu kämpfen. Sie sank zu Boden, den Kopf auf den Knien.

Die Kälte musste unerträglich sein, wie eine Folter.

Die Minuten verstrichen, während Stella vor dem Kamin auf ihrem grauen Leinensofa saß. Sie drückte die nackten Füße in den weichen chinesischen Zierteppich. Sie stand auf. Sie ging um den marineblauen Rand des Teppichs, setzte einen Fuß vor den anderen, als wäre sie eine Seiltänzerin. Bei dem gelb-orangefarbenen Papagei, der in die rechte Ecke gestickt war, blieb sie stehen. Sie verstand nicht, warum das Mädchen darauf bestand, bei ihr vor der Tür zu warten.

Ihre Gedanken kamen schnell und bruchstückhaft. Eines Tages würde es anders sein. Sie würde von ihren Ketten befreit sein. Aber sie verlor Zeit. Es fiel ihr immer schwerer, sich daran zu erinnern, wie sie vorher gewesen war.

Im Haus war es still.

Fast vierzig Minuten waren vergangen, seit es zum ersten Mal geklingelt hatte. Das Mädchen am Eingang musste beschlossen haben, es mit dem starken Gefälle der Victoria Avenue aufzunehmen. Sie hatte recht: Beim Abstieg könnte sie ausrutschen und hinfallen. Aber trotzdem – Stella versuchte, ihre Schuldgefühle zu dämpfen –, was war das Schlimmste, was ihr passieren konnte? Sie bekam vielleicht einen nassen Po. Und wenn das Mädchen es einmal geschafft hatte und unten angekommen war – nasser Po hin oder her –, konnte es die High Street entlanggehen und wäre innerhalb weniger Minuten in dem gemütlichen Gasthaus. The Royal Oak: guter Wein, ein offener Kamin und freiliegendes Gebälk. Der Fernseher über dem Kamin war am unteren Rand angeschmolzen, aber niemand schien zu bemerken, dass Feuergefahr bestand. Stella spürte die weichen Lammfellüberwürfe auf der Haut. Sie schmeckte die Bloody Mary – sie wurde aus einem Glaskrug auf dem Tresen eingeschenkt, Zitronenscheiben lagen auf dem Holzbrett daneben bereit. Max hatte alles beschrieben. Sonntagabends ging er oft allein dorthin. Stella war nie mitgegangen, aber vielleicht sollte sie es tun, wenn er am nächsten Tag zu ihr nach Hause kam, zum ersten Mal. Er musste sich sehr wünschen, dass sie einmal aus dem Haus ging, auch wenn er es gut verbarg.

Die Stille war drückend geworden, sie lastete auf ihr, und die Dunkelheit rückte näher.

Max würde sie nicht in eine Welt zurückzwingen, die ihr Angst machte. Aber sie versteckte sich schon sehr lange. Immer häufiger fürchtete sie, es wäre zu spät. Wie auch immer sie...


Link, Elke
Elke Link, geboren 1962 in Erlangen, hat in München und Canterbury studiert. Sie lebt in Berg am Starnberger See, wo sie zeitgenössische und klassische Literatur aus dem Englischen und Amerikanischen übersetzt. Für ihre Übersetzung des Romans „Silas Marner“ von George Eliot erhielt sie gemeinsam mit Sabine Roth 1997 den Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur.

Lewis, Luana
Luana Lewis ist klinische Psychologin und Autorin zweier Sachbücher. Sie verfasst regelmäßig Artikel für Zeitungen, Magazine und Zeitschriften und hat einen Abschluss in Kreativem Schreiben. Mit ihrem ersten Spannungsroman, »Lügenmädchen«, hatte sie auf Anhieb großen Erfolg.



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