E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Liebkind Kung-Fu Mama
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-492-99817-8
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-492-99817-8
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Petra Liebkind ist selbst eine 'Kung Fu Mama' und trainiert diese Kampfkunst seit über einem Jahrzehnt. Nochmal solange übt sich Gungl in Qi Gong und Meditation. Diese Kompetenzen lassen sie in der härtesten aller Disziplinen überleben: der Kindererziehung. Ursprünglich ist die Autorin gelernte Juristin, auch weil man dabei mit Worten jonglieren darf, vorzugsweise im Dienste der Gerechtigkeit. Oder im Dienste der Überzeugungsarbeit zum morgendlichen Aufstehen, Aufräumen oder Hausaufgabenmachen. Gemeinsam mit ihrer Familie lebt sie in Wien. Bislang sind drei Kriminalromane und einige Kurzgeschichten von ihr unter dem Namen Petra K. Gungl erschienen.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Schule & schmale Lippen
Das Leben war kein Rummelplatz, eher ein Klassenzimmer, aus dem der Lehrer nie rausging. Jeder Fehler wurde gnadenlos notiert und geahndet, so viel hatte Marlene Stern in ihren sechsundzwanzig Jahren auf Erden mitbekommen. Ihre Mantelschöße flatterten im Gegenwind, der die Augen tränen ließ. Es war zwar bereits März, aber davon schien sich das Wetter nicht beeindrucken zu lassen. Mit zusammengebissenen Zähnen raffte sie ihre Secondhand-Trophäe aus dem Caritas-Shop vor der Brust und lief weiter. Nicht, dass man ihrem Wintermantel das Alter ansehen würde – das war schließlich ihre Stärke: Secondhand-Klamotten umschneidern und aufpeppen, bis man sie für Designerperlen hielt. Trotzdem, für eine solche Südpolexpedition war sie untenherum zu leicht angezogen. An ihrem Arbeitsplatz galt die Regel: besser schick als schön warm. Zum Glück hatte sie wenigstens eine Wollmütze übergezogen und machte sich nichts daraus, wie ihre Haare nachher aussahen. Die trug sie sowieso meist in einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden – schon allein deswegen, um nicht ständig von älteren Damen mit Elizabeth Taylor verglichen zu werden. Dabei hatte sie mit der Diva nichts weiter gemein als das dunkle Haar und die hellblauen Augen. Keine fantastischen Kurven, keinen sexy Augenaufschlag. Nur dünne Beine und kein Geld.
Marlene hob den Blick, um die Entfernung zu ihrem Ziel abzuschätzen, und sah erleichtert Kinder aus dem Schulhaus drängen. Und da stand auch schon Elfriede Wurmser vor dem Schultor und strahlte im Kamelhaarmantel mit der schwächelnden Wintersonne um die Wette. Mit abnehmender Entfernung wurde sie größer und radioaktiver, während Marlenes Keuchen mittlerweile lauter als das vergnügte Quietschen der Kinder tönte. Mit ihrer Kondition stand es wirklich nicht zum Besten.
Lediglich einbeinige Asthmatiker kann ich noch abhängen, dachte sie resigniert und lief einen Takt flotter. Überdimensionale Schultaschen stoben kreuz und quer aus dem Gebäude, lebendige Angry Birds, die einander rempelten und als Ziel die wartenden Eltern anvisierten, fast als wollte die junge Brut ihre Erzeuger vom Trottoir katapultieren. So sah es jedenfalls aus der Entfernung aus. Tatsächlich wurde jedes einzelne Geschoss abgefangen, freudig umarmt, von der veganen Schultasche befreit und an der Hand abgeführt. O ja, Marlene hatte für ihren Sohn eine gute Schule ausgesucht und um seine Aufnahme gekämpft. Selbst diese »Tiger Mom« aus Amerika hätte das nicht besser hinbekommen! Schließlich war es nicht selbstverständlich, außerhalb des eigenen Wohnsprengels einen Schulplatz zu bekommen, noch dazu als Alleinerziehende. Im Kreis der wohlsituierten, ökologisch verantwortungsbewussten Eltern, die sich voller Elan für die optimale Entwicklung ihres Nachwuchses einsetzten, fühlte sich Marlene zwar wie eine Sardine unter Goldfischen, aber mit etwas schauspielerischem Talent gelang es ihr recht gut, die soziale Kluft zu kaschieren. Was für ein Pech, dass unter all den hoch motivierten Junglehrern ausgerechnet die einzige griesgrämige Lehrkraft der Schule die Klasse ihres Jungen übernommen hatte.
Frau Wurmser fing indes einen besonders forschen Rabauken ab, der ihr mit seinem Geigenkasten gefährlich nahe gekommen war. Ehe ihn sein französisches Au-pair-Mädchen in Empfang nehmen konnte, musste er sich eine Standpauke über das ordnungsgemäße Verlassen des Schulgeländes anhören. Die nachströmenden Angry Birds stauten sich, es kam zum Gerangel. Erst, als die Lehrerin den Jungen mit der Geige entließ, entspannte sich die Lage wieder.
Einen molligen Jungen an ihrer Seite ließ Frau Wurmser allerdings die ganze Zeit über nicht los. Die Finger in den Griff der – nicht veganen – Schultasche gekrallt, hielt sie den Kleinen mit dem dunklen Lockenkopf streng bei Fuß. Marlene bahnte sich einen Weg durch die Menge, direkt auf die Lehrerin zu. Damit war sie in deren Radarbereich getreten und wurde von ihren geisterblassen Augen erfasst.
»Ich dachte, Sie kommen nicht mehr.«
Marlene zuckte vor der Autorität in Frau Wurmsers Stimme zurück. Als hätte sie ihre Ausbildung in den Siebzigerjahren bei den US-Marines absolviert, stand die reife Dame in strammer Haltung vor ihr, die Hühnerbrust raus, die Hacken der Gesundheitsschuhe eng beisammen. Leider war Marlene nicht sonderlich groß und musste von ihrer Position aus in die höhlenartigen Nasenlöcher der Lehrerin blicken.
»Die U-Bahn hatte eine Betriebsstörung«, rechtfertigte sich Marlene atemlos.
Der Junge riss sich von der Lehrerin los und warf sich in die Arme seiner Mutter.
»Steffi, wo ist deine Mütze?«, fragte Marlene und strubbelte ihm zärtlich den Haarschopf.
»Mami, wir hatten heute Turnen, und ich bin die Leiter bis ganz nach oben geklettert!«
»Bravo!« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und blieb dabei fast an einer Zuckerschicht kleben. Himmel, wo bekam der Kleine ständig die Süßigkeiten her?
Frau Wurmsers Lippen waren schmaler als ein Strich. »Wir warten seit vier Minuten«, sagte sie und sah demonstrativ auf die Uhr. »Pünktlichkeit ist mir sehr wichtig.«
»Tut mir leid.« Marlene holte tief Luft. Vier Minuten – Herrgott noch mal! Die Frau stand nicht im Schneesturm, bedroht von einem Rudel Wölfen. »Ich musste von der Arbeit weg, das Geschäft war voll«, sagte Marlene mit möglichst ruhiger Stimme. »Es ist wirklich ein Jammer, wenn die Nachmittagsbetreuung der Schule ausfällt.«
»Schon gut.« Die Hände vor der Brust gefaltet, blickte Frau Wurmser streng über den Rand ihrer Brille. »Da wären zudem die neuen Turnschuhe ihres Sohnes. Die haben die falschen Sohlen. Im Turnsaal sind nur helle Gummisohlen erlaubt.«
»Oh.« Marlene bekam sofort ein mulmiges Gefühl. Nicht, weil sie Angst vor der Lehrerin hatte, sondern weil sie ein weiteres Paar Schuhe kaufen musste. Keine guten Nachrichten.
»Im Übrigen waren wir heute bei der Schulärztin. Ihr Sohn hat Übergewicht, Frau Stern, aber das sehen Sie ja selbst. In Steffis Schultasche sind Ernährungsratgeber und Broschüren zu dem Thema. Bitte nehmen Sie das Problem ernst. Wollen Sie daran schuld sein, wenn Ihr Kind Diabetes bekommt?«
Marlene schloss die Finger fester um Stephans Hand, der nun mit eingezogenen Lippen zu Boden sah. Am liebsten hätte sie ihm die Ohren zugehalten, um ihm die Erniedrigung zu ersparen. War es für den Kleinen nicht schlimm genug, von den anderen Kindern verspottet zu werden?
»Wir wissen das und …«, fing Marlene an, doch Frau Wurmsers Predigt war noch nicht vorbei.
»Außerdem hat er Senkfüße und ist kurzsichtig. Ich vermute einmal, dass Stephan die meiste Zeit mit Videospielen verbringt und kaum Bewegung hat. Und diese Haare! Das ist doch keine Frisur für einen Jungen.«
»Ich mag meine Haare«, warf Stephan mit hoher Stimme ein, wurde jedoch von den beiden Frauen ignoriert. »Bei meinem Papa sehen die genauso aus.«
»Das geht definitiv zu weit!«, platzte es aus Marlene heraus. Immer noch außer Atem vom Dauerlauf, nahm ihr die Empörung die Restluft.
Frau Wurmser hob beschwichtigend die Hand. »Frau Stern, ich bin doch auf Ihrer Seite«, begann sie mit veränderter Stimme. Ihre Brille rutschte am Nasenrücken tiefer, und der stechende Geruch von Kampferöl breitete sich aus. Marlene machte unwillkürlich einen Schritt zurück. »Eine alleinerziehende Mutter hat es natürlich schwer, da haben Sie mein volles Mitgefühl. Deswegen empfehle ich Ihnen dringend, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ehe Ihnen die Probleme über den Kopf wachsen. Glauben Sie mir, das habe ich alles schon erlebt. Das Jugendamt könnte Ihnen …«
Die Blicke der umstehenden Mütter waren Nadelstiche auf Marlenes Haut. Sie sah Henriette Gruber, die Mutter vom dünnen Anton. Sie trug wie immer ihren Lodenjanker aus rein pflanzlich gefärbter Wolle von eigenhändig geschorenen Schafen, die vom Biobauernhof stammte, wie sie vor Kurzem am Elternabend erfahren durfte. Angewidert starrte die Öko-Mutti auf Marlenes Plastiktragetasche. Als sie Marlenes Blick bemerkte, nickte sie mit einem Verlegenheitslächeln auf den Lippen und wandte sich ab.
Daneben stand eine Großmutter im geschorenen Nerz, damit der Pelz wie Plüsch aussah. Auch sie hatte mit hochgezogener Augenbraue das Gespräch verfolgt. Jetzt, beim Wort Jugendamt, klappte ihr Mund auf, und sie musterte Marlene samt Stephan von Kopf bis Fuß, als wären sie beide einer Notunterkunft entsprungen. Unvermeidlich blieb ihr Blick an Marlenes Hals hängen. Rasch zog Marlene den Schal höher, um das chinesische Drachen-Tattoo zu verdecken. Das fein gezeichnete Symbol zog oft die Blicke auf sich, was ihr für gewöhnlich nichts ausmachte. Der Drache war in leuchtenden Farben gestochen und ein wahres Kunstwerk. Jedoch spürte sie deutlich, wenn die Blicke geringschätzig ausfielen, so wie die von Frau Wurmser und den braven Muttis dieser Schule. Marlene reichte es, sie musste hier weg.
»Das wird nicht nötig sein«, fiel sie der Lehrerin ins Wort und blickte herausfordernd in Frau Wurmsers Geisteraugen. »Ich kann sehr gut für meinen Sohn sorgen. Oder wollen Sie mir wegen falscher Turnschuhe das Jugendamt auf den Hals hetzen?«
Ihr Kampfgeist war endgültig aus dem Koma erwacht. Ehe die Lehrerin antworten konnte, bereitete Marlene bereits ihren Abgang vor. »Morgen hat Stephan die richtigen Schuhe dabei. Schönen Tag noch, Frau Wurmser.«
Damit nickte sie ihrem Gegenüber zu und auch noch gleich den anderen Zuhörerinnen.
Sie fühlte ihre Blicke im Nacken, während sie Stephan an der Hand mit sich zog. Ein Schritt nach dem anderen, nicht rennen, dachte sie und konzentrierte sich auf eine gerade noch würdevolle Geschwindigkeit.
»Was hat...