E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Liepman Karlchen oder Die Tücken der Tugend
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-903184-00-8
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-903184-00-8
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heinz Liepman, geb. 1905 in Osnabrück. Dramaturg bei den Hamburger Kammerspielen, 1929 erschien sein Debütroman 'Nächte eines alten Kindes'. Da er sich politisch gegen den Nationalsozialismus engagierte, wurden seine Werke im April 1933 verboten. Zwei Monate später wurde Liepman im KZ Wittmoor inhaftiert, konnte aber nach Holland flüchten, wo er im Februar 1934 wegen 'Beleidigung des Staatsoberhauptes eines befreundeten Staates' zu einem Monat Haft verurteilt wurde. Juni 1935 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft. 1941 US-amerikanisches Exil, wo er von 1943 bis 1947 für die Time tätig war, als deren Korrespondent er schließlich nach Hamburg zurückkehrte. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth Lilienstein gründete er die Literaturagentur Liepman AG und konnte namhafte Autoren wie Norman Mailer oder F. Scott Fitzgerald dafür gewinnen. 1962 übersiedelte das Ehepaar Liepman in die Schweiz, wo Heinz für diverse Zeitungen arbeitete. 1964 erschien sein letzter Roman 'Karlchen oder Die Tücken der Tugend'. Heinz Liepman starb 1966 in seinem Ferienhaus in Agarone im Tessin. Die Literaturagentur Liepman AG besteht heute noch und hat ihren Sitz in Zürich.
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1
Dr. Freundlich, der Abteilungsarzt, kam in den Wachsaal und lächelte. Mit ausgestreckter Hand kam er auf Karlchen zu. Das alltägliche Ritual begann.
»Wie geht’s uns heute, Karlchen?«
»Danke, mir geht es gut, Herr Doktor.«
»Gut geschlafen?«
»Danke, ja.«
»Haben wir irgendwelche Wünsche, Beschwerden?«
»Danke, nein, Herr Doktor.«
Dr. Freundlich setzte sich auf das Fußende von Karlchens Bett. »Was ist los, Karlchen?«
»Nichts Besonderes, Herr Doktor …«, und noch bevor er den Mund geschlossen hatte, sah er den lauernden Blick. Dr. Freundlich merkte alles.
»An was haben wir jetzt gedacht, Karlchen?«
Karlchen zögerte. »Ja …«, sagte er.
»An was?«
»Ich werde ausbrechen, habe ich gedacht, Herr Doktor.«
»Ausbrechen?«
»Ausbrechen.«
»Ja, warum, um Himmels willen? Gefällt es uns nicht bei uns? Haben wir irgendwelche Wünsche, Beschwerden?«
»Danke, nein, Herr Doktor.«
Dr. Freundlich zögerte, kniff die Augen zusammen und visierte Karlchens Gesicht, die verwaschenen hellen Augen, die stoppligen Kinderwangen, die kleinen Pickel und Runzeln, den ahnungslosen Mund. Er suchte in seinen Schubladen nach einer Frage, die Karlchens unerwartete Antwort einordnen und registrieren könnte; schließlich fragte er: »Verdauung in Ordnung?«
»Ja, Herr Doktor, danke.«
»Und nichts geträumt?«
»Das übliche, Herr Doktor.«
Dr. Freundlich legte seine Hand auf Karlchens. »Nun wollen wir mal vernünftig miteinander reden, wir zwei. Wir sind doch ein intelligenter Bursche – und dann reden wir so dumm. Hier kann man nicht ausbrechen, das wissen wir doch. Und warum sollten wir? In ein paar Wochen werden wir entlassen …«
»Das sagen Sie mir seit drei Monaten, Herr Doktor. Sie hatten mir gesagt im Mai. Und jetzt ist Juni.«
»Wir müssen noch ein paar Wochen Geduld haben, Karlchen. Ich kann Sie noch nicht entlassen. Wir sind gefährdet.«
»Wer gefährdet mich denn, Herr Doktor? Mir tut doch keiner was. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen: ich habe doch was Besonderes geträumt. Von der Chausseestraße.«
»Chausseestraße? Was ist denn das?«
»Eine Straße.«
»Das verstehe ich. haben wir geträumt?«
»Ich ging durch die Chausseestraße. Ich kam an einem Blumengeschäft vorbei. Es war ein heißer Tag. Es roch nach Staub und nach Schweiß. Die Straßenbahnen klingelten, und da waren viele Leute. Der Blumenladen sah kühl aus, mit gelben Rosen für Beerdigungen und Nelken für die Damen zum Anstecken, weiße. Ich sehe mir Blumen gern an; ich blieb stehen, Blumen widersprechen einem nicht, sie fressen einen nicht, sie tun einem nichts, sie riechen wie so ein Mädchen, noch nicht ganz fertig zu gebrauchen, aber bald. Da saß an der Registrierkasse eine junge Dame in einem rosaroten Pullover. Nylon-Fältchen unter den Kniekehlen. Passiert ist nichts weiter in dem Traum. Ich wachte auf, und da dachte ich, jetzt muß ich weg aus der Anstalt. – Wollen Sie mich nicht vielleicht doch entlassen, Herr Doktor?«
»Geht doch noch nicht, Karlchen. Hier sind wir sicher, aber draußen, da sind wir gefährdet.«
»Draußen, wer sollte mir da was tun? Ich tu doch keinem was …«
»Das können wir nicht so übersehen, Karlchen. Das weiß ich besser. Draußen sind wir gefährdet, und zwar darum, weil wir für uns selbst gefährlich sind und darum auch für die anderen. Wir kennen doch unsere Erlebnisse, Karlchen, wir zwei – Sie und ich.«
Karlchen wurde bockig. »Das war damals doch nur, weil ich keinen Vater hatte. Jetzt bin ich erwachsen. Wenn Sie mich nicht entlassen, Herr Doktor, dann büxe ich aus, ruck-zuck. Wenn Sie mich nicht entlassen, wo Sie es versprochen haben, für Mai, und jetzt ist Juni, dann hau ich ab, dann hält mich keiner mehr hier.«
Die Ärzte argumentieren nie mit den Patienten. Dr. Freundlich war noch bei Karlchens Traum. Es sollte ihm etwas dazu einfallen, aber es fiel ihm nichts ein.
»Gut, gut, Karlchen«, sagte Dr. Freundlich zerstreut, unentwegt lächelnd, »darüber sprechen wir noch, wenn es soweit ist. Interessanter Traum, der mit dem Blumengeschäft. Wird uns sicher weiterhelfen. Träumen, Karlchen, das bringt uns weiter.«
Aber als Karlchen dann soweit war mit dem Ausbrechen, Montag nacht, da war Dr. Freundlich nicht da. Er, der immer alles wußte, hatte nicht gemerkt, daß es Karlchen ernst gewesen war. Er konnte nicht noch mal mit Karlchen darüber reden.
Es war spät geworden, nach elf, es ging ja nicht früher. Nun ist Karlchen im Park, die Bäume rauschen, fern tutet es vom Hafen. Vielleicht haben sie es gemerkt, daß ich weg bin, und nun warten sie irgendwo auf mich im Dunkeln. Es ist eine gute Nacht, sanft und still, es riecht nach Regen, und über der ganzen Stadt hängt der Himmel hoch, schimmernd, unbeteiligt. Niemand ist hier, niemand wartet auf mich. Der Himmel, der verrät mich nicht, der verrät niemanden außer denen, die sich auf ihn verlassen, und die sind selbst schuld. Laß den Himmel in Ruh, und er läßt dich in Ruh …
Bisher war es verhältnismäßig einfach, alles ging wie von selbst. Schwierig war es nur gewesen, die Kleider zu bekommen.
Nachmittags um fünf, wenn die Patienten des Wachsaals von ihrem Spaziergang durch den Park zurückkommen – zwei Pfleger vorn, zwei Pfleger hinterher –, dann müssen sie ihre Kleider abgeben. Die Pfleger schieben die fahrbaren Garderobenständer in den Saal. Die Patienten ziehen sich aus, hängen ihre Anzüge und ihre Unterwäsche auf die Bügel und die Bügel an den Garderobenständer. Sie ziehen die kurzen, hinten geschlitzten Krankenhausnachthemden über – das begreifen sie alle, die stumpfen und auch die erregten und alle in der Wolke ihres kranken Männergeruchs, und dann rollen die Pfleger die Garderobenständer aus dem Saal, hinter die verschlossene Abteilungstür, in den Korridor, und da stehen sie dann den ganzen Abend und die Nacht und flüstern und stinken.
An diesem Montagnachmittag hatte Karlchen sich blitzschnell als erster ausgezogen, er hatte seine Sachen schon über den Bügel und an den Ständer gehängt, als die anderen gerade anfingen, sich auszukleiden. Als dann die Männer, die Nachthemden über den mageren, haarigen Beinen, sich um ihn drängten und schoben, und die beiden Wärter an der anderen Seite des Wachsaals miteinander plauderten, da hatte er seinen Bügel ruhig, ohne Hast, wieder heruntergenommen vom Ständer und die Kleider unter die Decke seines Bettes gesteckt. Keiner der Pfleger sah ihn, und falls einer der Patienten ihn bemerkte, so verstand er nicht, was Karlchen da tat, oder falls er es verstand, dann sagte er nichts. Wenn man nicht muß, dann redet man nicht ungefragt im Wachsaal.
Um neun Uhr abends, als die Männer schon eine halbe Stunde in ihren Betten lagen, stumpf, ausgeronnen alle Gedanken und Gefühle – entweder weil sie so waren oder weil man ihnen Spritzen, Pillen, Zäpfchen, Pulver, Einläufe, Tropfen gegeben hatte, damit sie über Nacht so seien –, um neun Uhr, da werden die Tagespfleger abgelöst und der Nachtmann kommt, Herr Brause, ein schwerfälliger Schrank von einem Mann, der seit hundert Jahren Nachtdienst macht und der an alles, was da passieren kann, gewöhnt ist. Schon um zehn sitzt er da, schlafend mit schweren Augenlidern, auf seinem Stuhl neben der Nachtlampe. Er erwacht auf die Minute genau jede Stunde, wenn er die Kontrolluhr stechen muß, und dann schläft er sofort weiter. Und von jedem ungewohnten Geräusch, das nicht in den Wachsaal gehört, und sei es auch noch so leise, erwacht er.
Karlchen hockt auf dem Linoleumboden, dem schmalen Raum zwischen seinem Bett und dem des Nachbarn, in dem dunklen Tümpel, in den das Licht der Nachtlampe nicht fällt, und da kleidet er sich an. Ihm ist gut zumute, obwohl sein Herz hart klopft; endlich ist es soweit, und er ist so ausgekocht. Er versteht es, seine Bewegungen und ein gelegentliches Rascheln einzuordnen in die kleinen Geräusche des Saales: das Atmen und das Röcheln, das Schnauben und das Schnarchen und das sich ruhelos Umherwälzen. Dann auf den Socken hinter das dritte Bett von seinem, wo die Toilette ist – ohne Tür natürlich und ohne Kette, damit nichts passiert, keiner sich aufhängt oder sich die Pulsadern durchschneidet. Für die Spülung gibt es einen blanken Knopf; er drückt den Knopf, das Wasser rauscht gleichmütig, und da...




