Liepman / Weinke | Das Vaterland | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

Liepman / Weinke Das Vaterland

Roman
11. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86532-900-4
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 280 Seiten

ISBN: 978-3-86532-900-4
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eines der wichtigsten Bücher der deutschsprachigen Exil-Literatur Hamburg 1933: Nach acht Wochen auf See kehrt der Dampfer Kulm in seinen Heimathafen zurück. Die sozial wie weltanschaulich ungleiche Besatzung des Schiffes findet sich in einem radikal veränderten Land wieder: Die Nationalsozialisten sind an der Macht und herrschen mit Gewalt und Willkür. Die Mannschaft muss sich dem brutalen neuen Gesicht Deutschlands stellen. Zwischen politischen Spannungen, persönlichen Konflikten und der Suche nach einem Platz in einer unbarmherzigen Gesellschaft entfaltet sich eine mitreißende Erzählung über Identität und den Kampf um das Überleben. Der Journalist und Schriftsteller Heinz Liepman (1905-1966) schilderte in packenden Episoden die Konfron- tation mit den neuen Machtverhältnissen. Liepman widmete seinen 1933 erschienenen Roman »den in Hitler-Deutschland ermordeten Juden«.

Heinz Liepman wurde 1905 in Osnabrück geboren. Seit Beginn der 20er-Jahre war er journalistisch tätig und lebte in Hamburg. Er musste nach der Macht- ergreifung fliehen und emigrierte über Frankreich und England in die USA. 1947 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er 1949 mit seiner Frau Ruth die literarische Agentur Liepman gründete. Er veröffentlichte viele Bücher, u. a. die Romane »Nächte eines alten Kindes« (1929) und »Das Vaterland« (1933). Liepman starb 1966 in Agarone / Tessin.
Liepman / Weinke Das Vaterland jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Hinter Cuxhaven, wo die Elbe in die Nordsee mündet, folgen – in weiten Abständen – drei Feuerschiffe. Sie leuchten nachts über die trübe, sanfte See, an ihnen ziehen die Schiffe vorbei mit sehnsüchtigen Lichtern, an Backbord rot und an Steuerbord grün. Die Nächte sind unendlich lang so kurz vor Hamburg und vor St. Pauli, die Mannschaft im Logis kann nicht schlafen; einer nach dem andern sackt leise aus der Koje, in die Hose, in die Stiefel und schleicht an Deck.

Das Logis ist finster; wenn der eine raus ist, erwacht der nächste, denkt: wie finster ist es hier, verdammt, morgen sind wir in St. Pauli; ich glaube, ich kann nicht mehr schlafen. Und er steht auf, zieht Hose an, Hemd, Stiefel und Jacke und schleicht an Deck.

Und dann stehen alle an Deck. Es ist immer noch stockdunkel. Die Sterne und der Mond sind stumm. Von der Brücke hören sie den Zweiten auf- und abgehen. Die Bugwelle rauscht. Sie lehnen sich auf die Reling und reden kein Wort. Das Meer leuchtet dunkel.

Morgen Abend sind wir in St. Pauli. Dies ist der Fischdampfer Kulm, 900 tons, kommend von See, Kapitän Schirmer. Wir sind am zweiten Weihnachtstag in See gegangen. Jetzt ist der 28. März. Morgen sind wir in St. Pauli – Meer, See, schwere, schwarze, geliebte! Morgen sind wir an Land und ich sehe nichts mehr von dir. Ich glaube, ich habe Heimweh nach dir, im Voraus.

»Elbe I«, sagt Arthur mit tiefer Stimme und es hört sich an, als wolle er noch was sagen. Wir alle schweigen. Wir sehen in Luv, dahin, wo der Wind herkommt, und wir sehen hinterm Horizont, in Sekunden wechselnd, ein wenig Erlöschen und Aufleuchten.

Mir ist nicht gut. Mein Herz klopft, ich höre es. Ich schließe die Augen: Heimat! Heimat! Deutschland! Geliebtes Mutterland, – Vaterland! Kindheit, Träume, Schlafen und Aufwachen. Liebe und Leiden, Schüchternheit und lärmendes Glück! Heimat! Heimat!

»Wat denn! Wat denn!«, höre ich Bull, unseren Berliner, sagen, aber er sagt es nicht schnoddrig und kess wie sonst, nein, er flüstert es vor sich hin, sagt es zu sich selbst: »Wat denn! Wat denn!« Und dann kommen mir wirklich die Tränen, das gute Schiff stampft durch das dunkle Meer und die Nacht, und am Horizont taucht das Licht der Heimat auf, Feuerschiff Elbe I: wir sind zu Hause!

Es pfeift von der Brücke, wir zucken zusammen, blicken hoch, es ist Nacht und wir sind auf der Kulm; es pfeift einmal, zweimal, das ist der Zweite, der da oben ruhelos die ganze Hundewache unter dem winzigen Licht auf- und abgeht; wir kennen das. Er hatte eine Braut zu Hause, Irene, sie ist einen Tag vor Weihnachten gestorben. Karl steht unbeweglich am Steuer, von ihm sehen wir nur den Schatten. Karl ist ein Philosoph, er sagt nicht, was er denkt. Jetzt pfeift es zum dritten Mal. Dreimal, also der Moses ist gemeint, Kucki; ja, verdammt, warum lässt denn der Zweite den Jungen nicht schlafen?

»Warum lässt der denn den Jungen nicht schlafen?«, fragt der Smutje mit seiner tiefen Stimme; ein Koch muss sich ja auch in alles mischen, nichts ist ihm heilig.

»Ick bin längst hoch«, sagt eine Kinderstimme und Kucki läuft zur Brücke, »morgen Abend in St. Pauli, Smutje!« Schon ist er oben.

»Frechdachs!«, sagt Arthur stolz, denn er ist Kuckis Beschützer. Dann wird’s wieder stumm an der Reling. Wir spüren nicht mehr die Nacht und nicht mehr das Rauschen der Bugwelle. Fern wird leise gesprochen, wohl auf der Brücke; jemand glast, automatisch zählen wir mit, eins, zwei, drei, vier, fünf; fünf Glasen. Und die Augen durchdringen den nächtlichen, weichen Wind und die Wellen der See. Fünf Glasen. Halb drei Uhr nachts. Heute Abend sind wir in St. Pauli.

Nun sehen wir Elbe I schon ganz deutlich.

Niemand spricht.

Wir hören den Moses von der Brücke kommen, zur Kajüte des Alten tappen, klopfen, klopfen, nochmals klopfen. Dann rührt es sich, ein breiter Lichtschein fällt aus der Kajüte bis zu uns, wir erwachen, blinzeln, drehen uns um.

»So, Elbe I!«, brummt der Alte; sein Donnerbass brüllt über das ganze Schiff und noch weiter. Unwillkürlich stehen wir gerade, und die Wellen stehen gerade, Hände an der Hosennaht, der Käppen ist ein lieber Gott, zumal unserer, Käppen Schirmer: sein Brüllbass könnte Tote erwecken. Er steht da, der kleine dicke Pfropf, im kurzen Nachthemd und mit wichtigem Gesicht, »Sag dem Zweiten, ich komme gleich«, fügt er hinzu, die Tür schließt sich und es ist wieder dunkel an Bord. Kucki turnt zur Brücke, wo der Zweite ruhelos auf- und abgeht.

Hinnerk, unser Kohlenzieher, wegen seiner Faulheit und weil er lieber Bonbons lutscht als Schnaps trinkt, Biene genannt, gähnt. »Noch ’ne Stunde kann man sich hinhauen«, sagt er, dreht sich um und verschwindet. Ist ja eigentlich wahr, noch ’ne ganze Stunde. Und einer nach dem andern gähnt, gähnt und haut ab.

Eine Zeit lang ist es still. Das Schiff holt langsam das Feuerschiff auf. Oben auf der Brücke signalisiert der Zweite mit Licht-Morse, dass wir keinen Elblotsen brauchen. Schirmer ist nämlich zweiter Sohn eines Elblotsen; der ältere Bruder hat selbstverständlich den Beruf seines Vaters und hat seinen ältesten Jungen, der zurzeit auf einem Holländer als Jungmann fährt, eine knappe Stunde nach der Geburt als Elblotsen angemeldet und dann erst beim Standesamt. Unser Kapitän Schirmer hat als junger Bengel tausendmal mit seinem Vater auf Elbe I gesessen und auf ein Schiff gewartet. Wenn eines kam, waren sie in ihrem dünnen Boot über zum Einer gepullt, der Vater ist auf die Brücke gegangen, er hinterher, und sofort war der eigentliche Käppen des Schiffes ein hilfloses Baby, denn die Elbmündung und auch der Strom selber sind tückische Fahrwasser, und da ist so ein fremder Kapitän hilflos wie eine geschlachtete Kuh, selbst wenn sein Schiff so groß ist, dass er ein Fernrohr braucht, um zu sehen, ob der Ausguck auf der Back auch nicht schläft; da hilft nur ein Elblotse, dessen Vater, Großvater und Urahn auch schon Elblotsen waren.

Käppen Schirmer braucht also keinen Elblotsen, das Schiff läuft ohne Stopp an Elbe I vorbei und schon sieht man am dunklen Streifen des Horizonts das Licht von Elbe II. Inzwischen ist es zwanzig vor vier geworden, Karl glast, der Moses weckt die neue Wache, dann muss er die Flaggen aufziehen und er freut sich darüber, denn er weiß, dass der Alte sich immer wieder ärgert, wenn er die Heckflagge sieht – der Alte ist Patriot, und deshalb mag er die republikanischen Reichsfarben nicht. Schwarz-weiß-rot, gut! Aber die Gösch, die verdammte mit den Farben Schwarz-Rot-Gold, das ist eine Sauerei.

Käppen Schirmers Vater, der Elblotse, hat einmal die alte Vorkriegs-»Deutschland« die Elbe raufgelotst, und da war der Kaiser an Bord. Wilhelm hatte dem alten Schirmer die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Wie heißen Sie, Mann?«

Der alte Schirmer war ganz blass geworden und konnte nur stammeln: »Elblotse Schirmer, gedient im 31. Infanterieregiment, Bahrenfeld, 1870-71, zweimal verwundet.«

Da hatten, so erzählte der alte Schirmer manchmal sonntags nach der Kirche, Seiner Majestät Augen geleuchtet, und er hatte geantwortet: »Recht so, Schirmer! Elblotse sind Sie! Da haben wir beide ja einen ähnlichen Beruf. Na, kommen wir auf Grund?«

»Niemals!«, schrie der alte Schirmer, im Innersten erschüttert, und in diesem Augenblick gab es einen Ruck, ein scheußliches Klirren; drei Minuten hatte der alte Schirmer nicht aufgepasst und schon war das Schiff auf den Hörner Sand aufgelaufen und konnte erst vier Stunden später, als die Flut kam und vier Schlepper von Fairplay, loskommen.

Und so kam es, dass, als zehn Jahre später, im Herbst 1918, die Nachricht von des Kaisers Flucht nach Holland durchsickerte, der alte Schirmer sich auf dem Dachboden seines Hauses aufhängte; er fühlte sich für das auf »Grund geratene« Deutschland verantwortlich.

Deshalb hasste Schirmer die republikanische schwarzrot-goldene Gösch in der schwarz-weiß-roten Handelsflagge.

Es glaste achtmal. Der Berliner erschien auf der Brücke und übernahm von Karl Kurs und Ruder. Etwas später tauchte auch der Erste, Herr Petersen, auf. Er rief Karl nach, er solle mal nachsehen, ob der Smutje schon in der Küche wäre, dann solle der ihm einen heißen Kaffee bringen. Herr Petersen war Antialkoholiker, streng, mürrisch, tüchtig und unbeliebt.

»Und mir ’nen steifen Grog«, rief der Alte hinterher.

Karl ging den Koch wecken. Er rüttelte ihn, kitzelte ihn, aber Jacobsohn blinzelte kaum, wurde schließlich wütend: »Hau ab, du ranzige Wurst, ich penne bis sechs.« Karl brüllte ihm seinen Auftrag zu, aber Arthur schnarchte weiter.

Karl musste lachen, wie er den Juden da liegen sah, angestrengt durch die riesige Nase röchelnd; er hat gar kein Gesicht mehr, wenn er die Augen zumacht, dachte er, nur noch Nase und Umgebung. Er zielte lang, dann boxte er Jacobsohn eine feine Tour auf den Bauch.

Der Koch riss die Augen auf, verdrehte sie, schrie: »Jetzt hast du mich knock out geboxt, du Corned Beef, du gestreiftes, jetzt bin ich ohnmächtig.« Und er schloss die Augen, wieder ganz Nase, und Karl, grinsend von einem Ohr bis zum andern, ging raus, tappte zur Brücke, meldete, dass der Smutje noch schlafe. Beim Runtergehen zum Quartier sah er, dass man eben Elbe II passierte.

Da blieb er stehen. Er stand vor dem Backaufbau vorn am Bug, es schien ihm, als sei er allein auf dem Schiff.

Karl atmete tief. Es wehte Morgenwind. Fern am blassen Horizont leuchtete etwas: Elbe III.

Es dämmerte. Irgendwo glaste es zweimal. Fünf Uhr. Der Klang...


Weinke, Wilfried
Wilfried Weinke, geb. 1955, promovierter Literaturwissenschaftler und Publizist. Kurator zeitgeschichtlicher Ausstellungen: u. a. »… eine künstlerisch begabte Persönlichkeit. Der Fotograf Max Halberstadt« (2021/22). Veröffentlichungen zur deutsch-jüdischen Geschichte Hamburgs, zur Fotografie im Exil und zu Exilliteratur: »Ich werde später vielleicht einmal Einfluss zu gewinnen suchen … Der Schriftsteller und Journalist Heinz Liepman (1905-1966) – Eine biografische Rekonstruktion« (2017), »Wo man Bücher verbrennt … Verbrannte Bücher, verbrannte und ermordete Autoren Hamburgs« (2017), »Justin Steinfeld. Ein Mann liest Zeitung« (2020), »Die Erinnerung wachhalten. Ulrich Bauche und sein Wirken in Hamburg« (2023).

Liepman, Heinz
Heinz Liepman wurde 1905 in Osnabrück geboren. Seit Beginn der 20er-Jahre war er journalistisch tätig und lebte in Hamburg. Er musste nach der Machtergreifung fliehen und emigrierte über Frankreich und England in die USA. 1947 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er 1949 mit seiner Frau Ruth die literarische Agentur Liepman gründete. Er veröffentlichte viele Bücher, u. a. die Romane »Nächte eines alten Kindes« (1929) und »Das Vaterland« (1933). Liepman starb 1966 in Agarone / Tessin.

Weinke, Wilfried
Wilfried Weinke, geb. 1955, promovierter Literaturwissenschaftler und Publizist. Kurator zeitgeschichtlicher Ausstellungen: u. a. »… eine künstlerisch begabte Persönlichkeit. Der Fotograf Max Halberstadt« (2021/22). Veröffentlichungen zur deutsch-jüdischen Geschichte Hamburgs, zur Fotografie im Exil und zu Exilliteratur: »Ich werde später vielleicht einmal Einfluss zu gewinnen suchen … Der Schriftsteller und Journalist Heinz Liepman (1905-1966) – Eine biografische Rekonstruktion« (2017), »Wo man Bücher verbrennt … Verbrannte Bücher, verbrannte und ermordete Autoren Hamburgs« (2017), »Justin Steinfeld. Ein Mann liest Zeitung« (2020), »Die Erinnerung wachhalten. Ulrich Bauche und sein Wirken in Hamburg« (2023).

Heinz Liepman wurde 1905 in Osnabrück geboren. Seit Beginn der 20er-Jahre war er journalistisch tätig und lebte in Hamburg. Er musste nach der Macht- ergreifung fliehen und emigrierte über Frankreich und England in die USA. 1947 kehrte er nach Hamburg zurück, wo er 1949 mit seiner Frau Ruth die literarische Agentur Liepman gründete. Er veröffentlichte viele Bücher, u. a. die Romane »Nächte eines alten Kindes« (1929) und »Das Vaterland« (1933). Liepman starb 1966 in Agarone / Tessin.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.