E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Limone Wie die Frauen von Borgo Propizio das Glück erfanden
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-492-96539-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-96539-2
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Loredana Limone stammt aus Neapel und ist Wahlmailänderin. Nach einigen erfolgreichen Kochbüchern veröffentlichte sie ihren ersten Roman »Wie die Frauen von Borgo Propizio das Glück erfanden«. Ihr Buch erhielt den Fellini-Preis für das beste Romandebüt und wurde in acht Sprachen übersetzt. »Ein Ort zum Verlieben« ist Loredana Limones zweiter Roman um den kleinen Ort Borgo Propizio und seine unvergesslichen Bewohner.
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1
Mariolina und Marietta
»Was ist denn das!«
Erstaunen. Missbilligung. Verwunderung.
Dies war die Reaktion der wenigen Leute, die an der Baustelle vorbeikamen und die Arbeiter am Werk sahen. In Borgo Propizio geschah nie etwas Neues, und wenn, dann erregte es keine besondere Neugier unter den Bewohnern. Sie vergaßen es rasch wieder oder es versank hinter einer Mauer der Gleichgültigkeit.
Hätte es jemand genauer wissen wollen, hätte er schnell herausgefunden, dass dort nicht mehrere Arbeiter beschäftigt waren, sondern nur ein einziger. Der allerdings kannte sich im Maurerhandwerk bestens aus, auch im Fliesenlegen, Zimmern, Klempnern und Anstreichen. Doch das konnten die paar Frauen, die an diesem Morgen über den Rathausplatz gingen und an dem Schaufenster vorbeikamen, das von innen mit Zeitungspapier verklebt war, nicht wissen.
Die Einzige, die etwas über den Grund der Baustelle wusste, war Mariolina vom Finanzamt der Gemeinde, die einzige Mitarbeiterin dort, seit mehrere Kollegen in Pension gegangen waren. Streng erzogen in den Dogmen des beruflichen Ehrenkodex, hätte sie sich eher die Zunge abgebissen, als preiszugeben, was aus dem Laden werden sollte. Und bei diesem Laden schon gar nicht.
Eine Ausnahme machte sie nur bei Marietta, ihrer Schwester, mit der sie alles teilte, angefangen bei dem alten Haus, in dem sie geboren waren. Beide hatten in ihrer Jugend so manchen Zug verpasst. Vielleicht hatten sie die Züge nicht einmal vorbeifahren sehen.
Nicht dass sie hässlich waren, wenn sie auch körperlich gegensätzlicher nicht hätten sein können. Mariolina, die Ältere, war ganz der Vater. Ihre Haut, ihr Haar und die Augen waren hell, ihr Gesicht zart; Marietta, die Jüngere, war dunkelhaarig und hatte die nussbraunen Augen und ausgeprägten Gesichtszüge ihrer Mutter. Die eine zierlich, die andere kräftig.
Dank der Großmütter (oder besser gesagt durch deren Schuld) Maria Angela Onorata mütterlicherseits und Maria Nova Ermelinda väterlicherseits, waren beide Schwestern auf den Namen Maria getauft worden, aber mit einem Blumennamen kombiniert, weil ihre Mutter Blumen so gern hatte: Viola die erste, Dalia die zweite. Doch sie wurden niemals Maria Viola oder Maria Dalia genannt.
Die beiden Schwestern waren gerade neun Monate auseinander. Nicht durch Zufall, sondern wegen des körperlichen Verlangens ihres Vaters, der einfach nicht warten konnte und dem sich die Mutter unterwarf, obwohl ihre empfindlichen Körperteile ihr wegen des Dammschnitts von der ersten Geburt noch wehtaten. Aus der großen Angst heraus, ihr Mann könne sie verlassen, war sie geradezu besessen von diesem Gedanken.
Tatsächlich wurden Mariolina und Marietta von ihrem unreifen und stürmischen Vater urplötzlich im Stich gelassen, als sie an der Schwelle zur Pubertät waren. Er war einer verführerischen Traumfrau gefolgt, der x-ten seiner Sammlung.
Obwohl die beiden noch Kinder waren, tauschten sie die Rolle mit der Mutter und kümmerten sich um sie, hin und wieder beaufsichtigt von den Großmüttern, auch der Oma väterlicherseits, obwohl diese an der Sache nicht ganz unschuldig war.
Welche Demütigung, welche Schande! Die Mutter war bestürzt, dass ihr Mann sie verlassen hatte, obwohl sie doch immer für seine Bedürfnisse hergehalten und ohne Murren sogar die Rolle der betrogenen Ehefrau gespielt hatte! Jetzt flüchtete die Arme sich in das einstige Ehebett und verlor bald die Blüte der Jugend. Erst zwanzig Jahre später verließ sie es– in einem Sarg, der für die letzte Reise ins Paradies mit bunten Dahlien und weißen Veilchen geschmückt war. Dass sie nun dort oben war, stand für Mariolina und Marietta außer Zweifel.
Die Mama hatte den Töchtern wichtige Werte vermittelt. Vor allem Jungfräulichkeit. Dazu Ehrlichkeit, Sinn für Reinlichkeit und Pflichtbewusstsein. Und die Achtung der Zehn Gebote (allerdings blieb ein Zweifel darüber bestehen, ob das Vierte sie zum Ehren beider Eltern verpflichte oder ob der Vater ausgeschlossen sei, doch das war nicht wirklich wichtig, denn sie wussten nicht, was aus ihm geworden war). Ehre, wiederholte die Mutter immer wieder, Bescheidenheit, Sauberkeit und Tugend seien wichtiger als alles andere. Und die Ehe sei nichts anderes als eine Riesenenttäuschung. Sie war nicht in der Lage, ihren Töchtern etwas anderes beizubringen, und diese hatten sich so sehr danach gerichtet, dass sie mit fünfundvierzig und sechsundvierzig Jahren immer noch genau so waren, wie die Mutter sie zur Welt gebracht hatte.
Marietta machte das nicht viel aus, aber Mariolina litt darunter, und nur aus Angst, ihre Mutter könnte der Schlag treffen, rebellierte sie nicht dagegen. Zugleich wuchs in ihr ein unterdrücktes Verlangen nach sexueller Erfüllung.
Anders als Mariolina, die nach Beendigung der Hauswirtschaftsschule von der Gemeinde angestellt worden war und sich von der Pike auf hochgedient hatte – nicht ohne alle möglichen Ellbogen rechts und links ertragen zu müssen–, arbeitete Marietta zu Hause, und zwar mit der Häkelnadel. Dies war das Erbe ihrer Großmutter mütterlicherseits, die ihr diese Kunst beigebracht und ihr eingeschärft hatte, sie nur nebenbei auszuüben. Das Mädchen aber hatte Gefallen daran gefunden, und da es ihr sehr lag (während sie sich in der Schule als nicht besonders schlau erwiesen und nur mit Ach und Krach und dank dem Mitleid der Lehrer mit fünfzehn ihren Abschluss geschafft hatte), begann sie, Deckchen zu häkeln, als Dank für alle Frauen, die ihre depressive Mutter besuchen kamen und vergeblich versuchten, sie aufzuheitern.
Ja, es war vergeblich. Die Arme war so betrübt, dass nichts half. Aber das Vergnügen, einen schönen Früchtetee oder eine Tasse heiße Schokolade mit Sahne und dazu leckeres Sandgebäck oder ein schönes Stück feinen Rührkuchen zu genießen und dann noch die Aussicht, ein Häkeldeckchen zu ergattern – weiß, rosa oder naturfarben– und selbstgemacht, wie man sie nicht mehr findet, liebe Marietta, brachte die Frauen des Dorfes dazu, regelmäßig ihren Pflichtbesuch zu machen.
Dass aus der Häkelarbeit ein richtiger Beruf wurde, dafür sorgte eine wohlhabende Dame aus dem Dorf, die bald Oma werden sollte, mit der unerwarteten Bestellung einer Babydecke für die bald zur Welt kommende Enkeltochter– gegen Bezahlung. Marietta war nicht bewusst, welchen Wert dieser Auftrag hatte, und wollte zunächst kein Geld dafür annehmen. Sie wäre schon zufrieden gewesen, wenn die Dame ihr die Baumwolle gebracht hätte, doch die Kundin (was für ein seltsamer Ausdruck!) zahlte nicht nur sehr gut, sondern besorgte ihr weitere Aufträge von Freundinnen, die nicht im Dorf wohnten. In kürzester Zeit sprach es sich herum, dass es da jemanden mit einem besonderen Talent gab, und Marietta, die flink und mit den Händen sehr geschickt war, kam mit der Arbeit gar nicht mehr hinterher. Sie fertigte Tagesdecken, Kissenhüllen, Tischtücher, Bonbonschachtelnbezüge, Schals, Bettjäckchen, Gardinen, Topflappen– dies alles im Halbdunkel des mütterlichen Schlafzimmers, am Kopfende bei der Kranken, die immer mehr in Traurigkeit versank, auf einem Stuhl mit geflochtener Sitzfläche, der bessere Zeiten gesehen hatte. Bei weitem bessere.
Manche von Mariettas Kreationen waren im Schaufenster des feinen Ladens Fili fatati 1888 gelandet, der an der Hauptstraße der benachbarten Bezirksstadt lag. Einmal hatte sie ein bekannter Modeschöpfer angesprochen, der sie gern in seinem Atelier beschäftigt hätte, aber sie hätte weit weg ziehen müssen und lehnte ab. Nicht nur, weil die Mutter noch lebte (erst einen Monat später starb sie), sondern weil sie nie und nimmer ihre geliebte Schwester, das alte Haus und das Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, verlassen hätte.
Und hier alterte sie jetzt langsam vor sich hin.
Leider kommen nach den fetten Jahren immer magere und mit der Zeit sank die Nachfrage nach selbstgehäkelten Unikaten. Für Aussteuern waren solche handgemachten Dinge nicht mehr gefragt, weil die jungen Bräute lieber moderne Stücke in kräftigen Farben hatten, die man in die Waschmaschine stecken konnte und nicht zu bügeln brauchte. Als Geschenke für Taufen, Kommunionsfeiern und Hochzeiten wurden nutzlose Gegenstände in Einkaufszentren gekauft, die überall wie Pilze aus der Erde geschossen waren. Giftige Pilze.
Die Generation derer, die Traditionen pflegten, war so gut wie ausgestorben. Der Fortschritt, dieses gefräßige Ungeheuer, verschlang alles. Produkte aus China, die bekanntlich billiger waren, überschwemmten den Markt, und man fürchtete schon, die Bevölkerung dieses Landes würde irgendwann die ganze Welt erobern. Das sagten sie auch im Fernsehen, und Marietta war eine eifrige Zuschauerin.
Deshalb war Marietta, als Mariolina ihr vertraulich unter Schwestern von dem Laden erzählte, über die Maßen erstaunt.
»Nein so was!«, rief sie aus, und verfiel dann in tiefes Grübeln, bemüht, sich das Muster einer Tischdecke zu merken. Sie hatte sie im Schaufenster von Fili fatati 1888 gesehen, sie war einfach bezaubernd und sie würde dadurch sicher neue Arbeit finden.
Wenn die Dinge anders verlaufen wären, wenn die Mutter nicht krank geworden wäre, wenn der Tourismus einen Aufschwung erleben würde, wenn die Konjunktur (vielleicht hatte die damit nichts zu tun, aber sie hatte eine Sendung dazu im Fernsehen gesehen und das war sicher richtig)… So oder so, sie könnte diesen Schritt gehen. Wahrscheinlich brauchte sie dazu nur ein bisschen Mut und einen kleinen Kredit, den sie der Bank zurückzahlen würde.
Oh nein! Nicht der Bank! Das...