Lindenmeyer | Der Birnbaum im Pfarrgarten | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

Lindenmeyer Der Birnbaum im Pfarrgarten

Eine evangelische Gemeinde im Nationalsozialismus
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7025-8069-8
Verlag: Verlag Anton Pustet Salzburg
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)

Eine evangelische Gemeinde im Nationalsozialismus

E-Book, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

ISBN: 978-3-7025-8069-8
Verlag: Verlag Anton Pustet Salzburg
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Zwischen Kreuz und Hakenkreuz Das Archiv der Christuskirche in München ist über etliche Türen, verschlossene Räume und enge Treppenaufgänge zu erreichen. Drei unterschiedliche Schlüssel muss dabeihaben, wer sich in den dunklen Raum des Archivs irgendwo im Kirchengebäude begibt. Im Kirchenschiff ist es kalt. Im Winter frostig, im Sommer stickig. Die Luft schmeckt nach dem Verfall von Papier. Da und dort ein Spinnennetz. In der linken Ecke ganz hinten ein Schrank mit einer Flügeltüre. In vielen Fächern sind, rechts und links, die Akten abgelegt, in denen sich das Leben der Gemeinde der Christuskirche München im Nationalsozialismus widerspiegelt. Eine grundsätzliche Entscheidung ist notwendig: Wo beginnen? Wo enden? Sie fällt für die Zeit zwischen 1933 und 1945, mit manchem Griff auf die Jahre zuvor und manchem Ausblick auf die Jahre danach. Es ist ja nicht so, dass das selbst ernannte '1000-jährige Reich' aus dem Nichts kam und im Nichts endete. Es finden sich Dokumente von Mut und Verblendung, Anpassung und Widerstand - die Menschen selbst erzählen uns ihre Geschichten. Sie tun das in Worten, die im historischen Abstand vielleicht fremd anmuten. Trotzdem kommen wir ihnen nah, begreifen, wie schwer es war, unter der Knute der Diktatur Christ zu sein und Mensch zu bleiben, und erleben, wie doch in mutigen Momenten Menschlichkeit und Glaubensstärke aufstrahlen.

Christoph Lindenmeyer studierte evangelische Theologie in Erlangen, Heidelberg und München und war bis 2010 Leitender Redakteur im Bayerischen Rundfunk sowie Moderator in Hörfunk und Fernsehen. Christoph Lindenmeyer ist Honorarprofessor an der Universität Erlangen und Mitglied des Deutschen PEN-Zentrums. Zuletzt erschienen im Verlag Anton Pustet von ihm 'Rebeller, Opfer, Siedler. Die Vertreibung der Salzburger Protestanten'.
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1 | Kälte. Innen. Außen.


Über den Birnbaum gibt es eigentlich nichts zu berichten.

Er steht im Pfarrgarten am Dom-Pedro-Platz 5. Die herbstlichen Böen und der Feuersog der Luftangriffe auf München-Neuhausen fegten wahrscheinlich die vertrockneten, angesengten Blätter bis zur Braganzastraße und gegenüber an den Zaun in der Dom-Pedro-Straße. Den Winter, den Frühling, den Sommer und den einsetzenden Herbst hat er sicher gut überstanden. Die Erntedank-Festumzüge und die Aufmärsche der Nationalsozialisten.

Über diesen Birnbaum wäre also nichts zu sagen, außer dass es ihn in diesem Jahr 1945 immer noch gibt und dass ihn vielleicht jene Menschen besonders mögen, die unter seinen Ästen verweilten. Die evangelische Christuskirche ist eine Ruine, schon seit einem Jahr. Ausgebrannt: das Kirchenschiff mit dem Altar, die Orgel, die Empore. Der Dachstuhl zerstört. Die Haube des Kirchturms. Von innen ist die Sicht zum Himmel ungestört. Zwei Glocken des Kirchturms waren längst auf Befehl des NS-Beauftragten für den Vierjahresplan, Generalfeldmarschall und Reichswirtschaftsminister Hermann Göring, beschlagnahmt und abtransportiert worden: Und zwar durch die „Anordnung zur Durchführung des Vierjahresplans über die Erfassung von Nichteisenmetallen“ vom 15. März 1940, vom Evang.-Luth. Landeskirchenrat, die im vertraulichen Schreiben an die Pfarrämter und exponierten Vikariate der Evang.-Luth. Kirche in Bayern mit Nachdruck noch einmal bekannt gemacht worden war. Die Kosten dafür übernahm die Reichsstelle für Metalle. An den Glockenklöppeln bestand offensichtlich kein Interesse. Sie blieben zurück. Bis Dezember 1942 lag dem Pfarramt der Christuskirche keine Bescheinigung über die Beschlagnahme der „Metallspende“ vor, wie sie von den Behörden zugesagt worden war. Erst 1943 hatte die Reichsstelle für Metalle und in deren Auftrag die örtliche Kreishandwerkerschaft eine Empfangsbestätigung vorgelegt. Sie war immer wieder vergeblich angemahnt worden.

In der apokalyptischen Stadtlandschaft der einstigen „Hauptstadt der Bewegung“, dem jetzt völlig zerstörten München, steht also dieser Birnbaum im Jahr 1945, über den im Archiv des Pfarramts der Christuskirche keine Beschreibung vorliegt. Niemand hat ein Gedicht über den Baum geschrieben. Niemand einen Liedtext verfasst. Warum auch? Der Birnbaum ist vorhanden, hat vielleicht im Herbst Birnen abgeworfen. Es gibt unzählige Birnenarten, auch die , aber wir wissen nicht, ob am Baum Geißhirten- oder Williamsbirnen wuchsen, Sommer- oder Herbstbirnen oder auch Winterbirnen. So lange der Birnbaum im Pfarrgarten steht, spielt er keine Rolle. Vielleicht auch trägt er gar keine Birnen mehr. Vielleicht ist sein Astwerk längst morsch. Es gibt jetzt – weiß Gott! – ganz andere Probleme. Da interessiert sich doch niemand für einen Baum im Pfarrgarten.

Aber heute, am 26. November 1945, entdeckt Pfarrer Kutter, seit 1929 zunächst 3. Pfarrer in der Gemeinde, dass dieser Baum gefällt worden ist. Ein unglaublicher Vorgang, und jetzt wird er zum Streitobjekt zwischen dem 1. Pfarrer der evang.-luth. Christuskirchengemeinde, München-Neuhausen, Kirchenrat Ernst Kutter und dem gerade in die Stephanusgemeinde in Nymphenburg berufenen, bisherigen Seelsorger des 2. Pfarrsprengels, Kurt Frör. Darüber müsste nicht unbedingt berichtet werden. Wen geht dieser Streit vor Jahrzehnten schon etwas an?

Aber so ganz privat ist die Sache nicht. Denn der Streit um den Birnbaum zeichnet das Psychogramm von Persönlichkeiten, die ganz andere Sorgen haben, und er beschreibt die Not der Zeit. Die Nerven liegen blank. Die soziale und seelsorgerliche Lage in der Gemeinde kommt einem Notstand gleich. Der Schock über die Kapitulation des einstigen Großdeutschen Reichs ist bei vielen Menschen stärker als die Freude an der Befreiung, es ist kalt, es gibt zu wenig Heizmaterial, und die meisten Menschen hungern, auch in dieser Gemeinde. Die Namensliste der im Krieg und bei den Luftangriffen ums Leben gekommenen Gemeindeglieder wächst und wächst, andere sind noch immer vermisst. Niemand weiß, ob sie noch am Leben sind. Die Angst vor Denunziation und Verfolgung wandelt sich, sie bleibt, aber jetzt hat sie andere Motive. Die Arbeit in der Gemeinde ist kaum noch zu schaffen, die finanziellen Mittel sind knapp. Der Dauereinsatz gilt für die Pfarrer, die Mitglieder des Kirchenvorstands, die Diakone oder deren Vertreter, die Gemeindeschwestern und die vielen Helferinnen und Helfer in der Nähstube, im Besuchsdienst, in der Frauen- und Männerarbeit, in der Jugendarbeit der Pfarrgemeinde. Pfarrer Kutter organisiert und schreibt und organisiert und schreibt: an seine Gemeindeglieder in Kriegsgefangenschaft, so wie er ihnen immer zuverlässig Briefe und Literatur an die Front geschickt hatte, er schreibt an die US-Besatzungsbehörden, an die Familien von Gefallenen, an städtische Ämter, an seine vorgesetzten landeskirchlichen Institutionen, an Freunde, Mitarbeitende und Kollegen, an Handwerksbetriebe und Organisationen. Das Dritte Reich existiert nicht mehr, nur in vielen Köpfen wuchert es weiter, und die Bürokratie dieser frühen Jahre sorgt dafür, dass die Schreibmaschinen im Pfarramt fast ununterbrochen im Einsatz sind. Es ist – weiß Gott! – genug zu tun. Und trotzdem schreibt Pfarrer Kutter seinem Kollegen Kurt Frör einen Brief. Er ist empört. Er ist zornig. Denn es geht um diesen Birnbaum im Pfarrgarten, der nicht zum Privatbesitz zählt. Pfarrer 1 schreibt an Pfarrer 2:

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Zur Erinnerung: Pfarrer Kurt Frör, 2. Pfarrstelle der Christuskirchengemeinde, hatte keine Entscheidungsgewalt mehr in der Gemeinde der Christuskirche. Schon gar nicht über Arbeiten im alten Pfarrgarten. Doch Frör wehrt sich gegen solche Vorwürfe.

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So schreiben sich die Kollegen „mit amtsbrüderlichem Gruß“ ihren Ärger vom Leib. Am 30. November 1945 antwortet Ernst Kutter:

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