Littell | Eine alte Geschichte. Neue Version | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Littell Eine alte Geschichte. Neue Version

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26306-2
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-446-26306-2
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Mann kommt nach Hause, badet seinen kleinen Sohn, liebt seine Frau und verlässt dann das Idyll. Er läuft durch einen Gang, bis er eine Türklinke sieht und den Raum dahinter betritt. Als Getriebener, in wechselnden Identitäten, mal Mann, mal Frau, hetzt er durch ein Labyrinth immer neuer Szenerien. Jede Tür führt in neue Abgründe, geprägt von Sex, Macht und Gewalt, aus denen sich der Erzähler jeweils durch einen Sprung in klares Wasser rettet, bis aus dem Herumirren eine Suche wird - doch nach was?
Jonathan Littell hat sein Buch ' Eine alte Geschichte' neu- und fortgeschrieben. Er erspart seinen Lesern nichts. Doch genau darum geht es Littell: Er gestattet uns nicht zu vergessen, dass nichts ungeheurer ist als der Mensch.

Jonathan Littell, 1967 in New York geboren, wuchs in Frankreich auf. 2006 wurde er mit seinem Welterfolg 'Die Wohlgesinnten' bekannt. Zuletzt (2016) erschien sein Dokumentarfilm 'Wrong Elements' über ehemalige Kindersoldaten der Lord`s Resistance Army in Uganda.
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I


Mein Kopf brach durch die Oberfläche, der Mund öffnete sich, um nach Luft zu schnappen, während die Hände unter einem prasselnden Tropfenregen den Beckenrand suchten, im Zupacken übertrug sich die Kraft meines Schwungs auf die Schultern, und mein triefender Körper hob sich aus dem Wasser. Einen Augenblick balancierte ich auf dem Beckenrand, betäubt vom gedämpften Widerhall der Schreie und Wassergeräusche und verwirrt vom Zersplittern meines Körperbilds in den großen, das Becken umgebenden Spiegeln. Zu meinen Füßen bildete sich eine rasch größer werdende Pfütze; als ein Kind dicht an mir vorbeilief, wäre ich fast wieder rückwärts ins Wasser gefallen. Ich fing mich, nahm Badekappe und Schwimmbrille ab, und mit einem letzten Blick über die Schulter auf die schimmernde Linie meiner Rückenmuskeln verließ ich die Halle durch die Schwingtür. Abgetrocknet und mit einem grauen seidigen Trainingsanzug bekleidet, der angenehm auf der Haut lag, trat ich auf den Flur. Ohne zu zögern entschied ich mich an einer Weggabelung, dann an einer weiteren, hier war es ziemlich dunkel, in dem ungewissen Licht waren die Wände kaum zu erkennen, ich begann zu laufen, mit kleinen Schritten wie beim Joggen. Zu beiden Seiten glitten die Wände eintönig und grau an mir vorbei, gelegentlich glaubte ich, eine Öffnung zu erkennen oder zumindest eine etwas dunklere Fläche, ich konnte mich dessen beim besten Willen nicht vergewissern, manchmal streifte ich auch mit dem Stoff meiner Jacke die Mauer, woraufhin ich mich wieder zur Mitte des Gangs orientierte, der offenbar eine Biegung machte, leicht, fast unmerklich, gerade ausreichend, um die Gleichmäßigkeit des Laufens infrage zu stellen, ich begann schon zu schwitzen, dabei war es weder warm noch kalt, ich atmete regelmäßig, sog bei jedem dritten Schritt abgestandene Luft ein, bevor ich sie fast pfeifend wieder ausstieß, Ellenbogen dicht am Körper, um nicht gegen die Mauern zu stoßen, die sich mal entfernten und mal näherten, als verliefe der Gang jetzt in Schlangenlinien. Vor mir war nichts zu erkennen, ich bewegte mich aufs Geratewohl vorwärts, die Decke über meinem Kopf war nicht zu sehen, vielleicht lief ich schon an der frischen Luft, vielleicht auch nicht. Als mich ein heftiger Schlag am Ellenbogen traf, zuckte ich zusammen, rieb mir mechanisch die schmerzende Stelle und wandte mich um: Aus der grauen Fläche der Wand ragte ein glänzender Gegenstand. Ich packte ihn, es handelte sich um einen Griff; als ich mich gegen sie lehnte, öffnete sich die Tür und zog mich mit sich. Still und friedlich umgab mich ein vertrauter Garten: Die Sonne schien, Lichtflecken übersäten die ineinander verschlungenen Blätter des Efeus und der sauber beschnittenen Bougainvilleen auf ihren Spalieren, ein Stück weiter kamen die verflochtenen Stämme der alten Glyzinie aus der Erde; sie bedeckte die hohe, wie ein Turm vor mir aufragende Fassade des Hauses mit ihrem Grün. Es war heiß, und ich wischte mir mit dem Ärmel den Schweiß ab, der mir über das Gesicht lief. An der Seite, teilweise von dem Gebäude verborgen, zeigte sich die spiegelnde Fläche eines Pools oder Schwimmbeckens, ein blaues Viereck, von einem Kalksteinrand umgeben, die helle Fläche von weißen Streifen durchzogen und halb im Schatten der langen, gebogenen Wedel einer untersetzten, massiven Palme. Zu meinen Füßen tauchte eine Katze auf und rieb sich mit aufgerichtetem Schwanz an meinen Waden. Ich schob sie mit der Fußspitze zurück, und sie schlüpfte durch die halbgeöffnete Tür. Ich folgte ihr. Durch eine halbgeöffnete Tür am Ende des Flurs drangen eine Reihe merkwürdiger Geräusche an mein Ohr, mehr oder weniger kräftige Explosionslaute, unterbrochen von Zischgeräuschen: Offenbar spielte das Kind schon wieder Krieg, indem es seine Bleisoldaten in einer Orgie von Schüssen und Explosionen einen nach dem anderen umwarf. Ich überließ es seinem Spiel, stieg die Wendeltreppe hinauf, die ins Obergeschoss führte, und hielt auf dem Treppenabsatz einen Augenblick inne, um den ironischen, ins Leere gehenden Blick der Dame mit dem Hermelin zu betrachten, von der dort eine große, gerahmte Reproduktion hing. Die Frau befand sich in der Küche; als sie meine Schritte hörte, legte sie das Messer nieder, wandte sich mit einem Lächeln um und schmiegte sich zärtlich an mich. Sie trug ein hübsches, leichtes Kleid in Perlgrau, ich liebkoste ihre zarte Hüfte durch den Stoff, dann vergrub ich mein Gesicht in ihrem rotblonden Haar, das sie zu einem kunstvoll zerzausten Knoten hochgesteckt hatte, und sog seinen Duft ein, diese Mischung aus Heidekraut, Moos und Mandeln. Sie lachte leise und löste sich aus meiner Umarmung. »Ich mache gerade Abendessen. Gleich bin ich so weit.« Sie streichelte mir mit den Fingerspitzen übers Gesicht. »Der Kleine spielt.« — »Ja, ich weiß. Ich habe ihn beim Reinkommen gehört.« — »Kannst du ihn baden?« — »Natürlich. Hast du einen schönen Tag gehabt?« — »Ja, ich habe die Fotos geholt, sie liegen oben auf der Kommode. Ach, noch etwas: Es gibt ein Problem mit den elektrischen Leitungen. Die Nachbarin hat angerufen.« — »Was wollte sie?« — »Offenbar hat es eine Überlastung der Leitungen gegeben, das führt bei ihnen zu Stromausfällen.« Ich wurde wütend. »Die spinnt. Ich habe die Leitungen zweimal von einem Elektriker nachsehen lassen.« — Sie lächelte. Ich wandte mich ab und ging wieder die Treppe hinunter. Der Schlachtenlärm war verstummt. Bevor ich die Tür öffnete, ging ich ins angrenzende Badezimmer, um das Wasser einlaufen zu lassen, und überprüfte die Temperatur, damit es nicht zu heiß war. Dann betrat ich das Kinderzimmer. Der Kleine trug nur ein T-Shirt; mit nacktem Po saß er in der Hocke und filmte mit einer kleinen Digitalkamera die Katze, die, vor- und zurückspringend, ihren Spaß daran hatte, mit schnellen Pfotenhieben die Bleisoldaten mit ihren Lanzen und Karabinern umzuwerfen, die der Junge sorgfältig auf dem großen Perserteppich aufgereiht hatte. Einen Augenblick lang betrachtete ich ihn wie durch eine gläserne Wand. Dann ging ich zu ihm und gab ihm einen Klaps auf den Po: »Ab ins Bad, es ist Zeit.« Er ließ die Kamera fallen, warf sich in meine Arme und kreischte vor Freude. Ich hob ihn auf und trug ihn ins Badezimmer, wo ich ihn auszog und ins Wasser setzte. Sofort begann er, mit den Händen ins Wasser zu schlagen, lachend spritzte er die Wände nass. Ich stimmte in sein Lachen ein, wich aber gleichzeitig zurück, lehnte mich an die Tür und sah zu, wie er vollständig untertauchte.

Während der Mahlzeit saß das Kind plappernd zwischen uns und berichtete von seinen Schlachten. Zerstreut lauschte ich seiner Erzählung und genoss den kühlen Wein und die in Knoblauch gebratenen Langostinos. Auch die Frau, das zarte Gesicht von den blonden Strähnen umrahmt, die sich aus dem Knoten gelöst hatten, lächelte und trank. Schließlich schwieg das Kind und machte sich verbissen über einen Langostino her, wobei es versuchte, eine der Scheren mit seinen kleinen Milchzähnen aufzubrechen; ich tupfte mir mit der Serviette den Mund ab und strich ihm mit den Fingerspitzen über das Haar, das blond war wie das seiner Mutter. Als der Kleine aufgegessen hatte, räumte er rasch ab, verschwand in Richtung Treppe und wischte sich seine fettigen Finger am Pyjama ab, wofür ich ihn liebevoll tadelte. Ich räumte den Rest ab, während die Frau hinunterging und ihn ins Bett brachte; sorgfältig wusch ich mir die Hände, bevor ich zurückkehrte, um den Wein auszutrinken. Auf der Stereoanlage lag eine CD-Box — eine neuere Einspielung von Don Giovanni; ich legte die dritte CD ein, setzte mich an das große Fenster und betrachtete, während ich in einen kleinen roten Apfel biss, den ich mir aus einer Schale genommen hatte, das safrangelbe Abendlicht auf dem Grün des Gartens. Der Komtur war im Begriff, zum Souper zu erscheinen, und ich dachte über den tieferen Sinn dieser bedrohlichen und so überaus moralischen Figur nach. Vor allem wollte er dem rebellischen jungen Mann sein Gesetz aufzwingen; aber hatte dieser ihn nicht zu Beginn des ersten Aktes mit seinem Degen durchbohrt? Offenbar hatte das nichts genutzt, denn der Komtur kam ja zurück, noch monumentaler und mörderischer als zuvor, der Spielverderber schlechthin. Als das Ende nahte, wehrte sich der Jüngling hartnäckig, durchtrieben und verstockt, nicht gewillt, sich diesem toten, überholten, erstickenden Gesetz zu beugen, und wenn es ihn das Leben kostete. Draußen war es Nacht geworden, ich legte das Kerngehäuse ab, um im Wohnzimmer eine Lampe nach der anderen einzuschalten. Dann goss ich mir noch ein Glas Wein ein. Schon endete die Disc in einem kleinen buffonesken Finale, das klang, als wolle sich der unbelehrbare Galgenstrick mit einem spöttischen Lachen verabschieden. In meinem Mund mischten sich die holzigen Noten des Weins mit dem...


Littell, Jonathan
Jonathan Littell, 1967 in New York geboren, wuchs in Frankreich auf. 2006 wurde er mit seinem Welterfolg "Die Wohlgesinnten" bekannt. Zuletzt (2016) erschien sein Dokumentarfilm "Wrong Elements" über ehemalige Kindersoldaten der Lord`s Resistance Army in Uganda.

Kober, Hainer
Hainer Kober übersetzt seit vielen Jahren vorwiegend Sachbücher, u. a. von Stephen Hawking, Oliver Sacks, Antonio Damasio und Thomas Halliday.



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