E-Book, Deutsch, Band 1, 336 Seiten
Longworth Tod auf Schloss Bremont
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-8412-0381-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Provence-Krimi
E-Book, Deutsch, Band 1, 336 Seiten
Reihe: Verlaque und Bonnet ermitteln
ISBN: 978-3-8412-0381-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tod in der Provence.
Etienne de Bremont, ein bekannter Dokumentarfilmer, stürzt nachts aus dem Dachfenster des unbewohnten Familienschlosses in der Nähe von Aix-en-Provence in den Tod. War es ein Unfall, ein Selbstmord oder gar Mord? Schnell gerät François de Bremont, der tief verschuldete Bruder des Toten, in Verdacht. Der junge und charismatische Untersuchungsrichter Antoine Verlaque, der in dem Fall ermittelt, bittet seine Ex-Geliebte, die Juraprofessorin Marine, um ihre Unterstützung, denn sie kennt die Familie Bremont seit ihrer Kindheit. Marine hilft Antoine jedoch nur ungern, denn noch immer hat sie Schmetterlinge im Bauch, wenn sie ihm begegnet ...
Mary L. Longworth lebt seit 1997 in Aix-en-Provence. Sie hat für die »Washington Post«, die britische »Times«, den »Independent« und das Magazin »Bon Appétit« über die Region geschrieben. Außerdem ist sie die Verfasserin des zweisprachigen Essay-Bandes »Une Américaine en Provence«. Sie teilt ihre Zeit zwischen Aix, wo sie schreibt, und Paris, wo sie an der New York University das Schreiben lehrt.
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2. Kapitel
Die Glocken von Saint-Jean-de-Malte hatten wie jeden Morgen um 7.50 Uhr zu läuten begonnen. Früher sollten sie die Kirchgänger daran erinnern, dass sie noch zehn Minuten hatten, um pünktlich zur Messe zu erscheinen. Für Marine waren sie das Signal, sich auf den Weg zu machen, um rechtzeitig in der Universität oder wenn ihr Unterricht später begann, in ihrem Lieblingscafé zu sein.
Als das Geläut endlich verklungen und Marine angezogen war, öffnete sie ihr Schlafzimmerfenster. Ein Windstoß fuhr herein und wirbelte die Blätter der Zeitung durch den Raum, die sie gerade gelesen hatte. Sie beugte sich hinaus und befestigte die Läden an der Außenwand. Der Wind flaute wieder ab, und sie schaute zu den vier Steinfiguren hinauf, die hinter den Ecken des mittelalterlichen Turmes von Saint-Jean-de-Malte hervorlugten. Nur mit ihren Hinterpfoten hielten sie sich an der Kirche fest und fuhren mit ihren Leibern zum Himmel auf, als wollten sie jeden Augenblick aus ihrer Halterung springen. Manchmal machte sich Marine Sorgen um sie, besonders bei Mistral, der um Mitternacht wieder eingesetzt hatte. Achthundert Jahre hingen die Wasserspeier nun schon dort, aber in einem Augenblick konnten sie fallen und als ein Häuflein Trümmer auf dem gepflasterten Platz liegen. Beruhigt, dass die Steinfiguren noch sicher befestigt schienen, sah Marine, dass ihre Nachbarin auf der anderen Seite des Hofes auch gerade Fenster und Läden geöffnet hatte. Bevor Marine sich zurückziehen konnte, hatte Philomène Joubert bereits über die fünfzig Meter, die sie trennten, und durch den pfeifenden Wind »Hallo, Mlle. Bonnet!« gerufen. Ohne eine Antwort von Marine abzuwarten, setzte Mme. Joubert oder Mme. Saint-Jean-de-Malte, wie Marine sie bei sich nannte, denn sie sang im Chor der Kirche, seit Marine ein kleines Mädchen war, ihren Morgenruf fort und hängte dabei geschwind ihre Wäsche an Drähten auf, die unter ihren Wohnungsfenstern gezogen waren.
»Dieser Wind kann ja einem Glatzkopf die Haare wegblasen!«, rief sie und lachte herzlich dazu. Marine lächelte und wartete auf den nächsten Spruch, der unweigerlich kommen musste. »Allerdings bläst er nicht so heftig wie früher, als ich noch ein Kind war! Ich erinnere mich, dass meine Mutter mich die Rue de l’Opéra hinaufschieben musste, so stark war der Wind. Doch das Wetter ändert sich, wissen Sie. Klimawandel heißt das heute. Aber unsere Wäsche wird dabei immer noch trocken, nicht wahr, Mademoiselle?« Diesmal nickte Marine heftig und konnte rasch noch ein »« nachschieben, da war die alte Frau bereits mit ihrer Wäsche fertig, hatte ihr ein Abschiedswort zugerufen und ihre Fenster mit geübtem Griff zugeworfen. Mme. Joubert war offenbar noch nie aufgefallen, dass Marine selten Wäsche nach draußen hing. Statt dessen hatte sie einen Trockner aufstellen lassen, als ihre Wohnung renoviert worden war. Sie entschuldigte sich damit, dass sie keine Zeit habe, Wäsche aufzuhängen. In Wirklichkeit hasste sie Hausarbeit, fand es aber peinlich, ein Hausmädchen zu engagieren. Mme. Joubert dagegen war so gut organisiert, dass sie ihre Kleidung nach Sorten wusch. Heute war Nachthemd- und Pyjamatag. Das bedeutete, sechs Paar Männerpyjamas aus Baumwolle und drei oder vier fast durchsichtige weiße Nachthemdchen hingen akkurat in einer Reihe. Was war morgen dran? Wahrscheinlich die Geschirrtücher. Marine hatte nie richtig gelernt, wie man einen Haushalt führte. Sie glaubte, während andere Frauen alle Geheimnissee des Wäschewaschens, Bügelns und Möbelpolierens kannten, wisse sie als Einzige nichts von alledem. Mme. Jouberts System schien ihr ein Alptraum von Organisation zu sein. Hatte sie etwa sieben oder acht Wäschekörbe, für jede Sorte einen?
Marine schaute hinunter zu dem Mandelbäumchen, dessen Blüten sich gerade öffneten. Mit einem Seufzer der Erleichterung dachte sie daran, dass sie die Wohnung gekauft hatte, als die Preise noch annehmbar waren und Aix-en-Provence noch nicht als »das 21. Arrondissement von Paris« galt. Seit über zehn Jahren wohnte sie nun schon hier. Irgendwie verband sich für sie Antoine Verlaque mit diesem Ort, als habe er ebenfalls all die zehn Jahre hier verbracht und nicht nur eines. Er hatte diese Zeit genossen, da war sie ganz sicher. Nachdem sie sich sechs Monate lang getroffen hatten, war er mit dem größten Teil seiner Sachen hierhergezogen, hatte sein Loft auf der anderen Seite von Aix aber weiter behalten. Wenn die beiden auch nicht offiziell zusammenlebten, so hatten sie doch in diesem Appartement ein paar wundervolle Monate verbracht – ganze Sommerabende lang auf der Terrasse gesessen, verzaubert von dem beleuchteten Kirchturm, oder im Winter vor dem Kamin im Wohnzimmer gehockt, wo Antoine Zigarren rauchte, sie Armagnac miteinander tranken, über Rechtsfragen debattierten oder anderes taten. Er hat mir immer über den Bauch gestrichen, dachte sie, selbst wenn wir miteinander stritten.
Marine verwünschte sich selbst, diesmal hörbar und laut. Zu lange starrte sie schon in diesen Hof, und nun blieb weniger Zeit für einen Kaffee mit Sylvie und anderen Freunden im , ihrem Lieblingscafé, das den Namen dieses eleganten Wohnviertels aus dem 18. Jahrhundert trug. Sie griff nach Handtasche, Schlüsseln und Portemonnaie und stürzte zur Tür, nachdem sie noch einmal umgekehrt war, ihr Handy vom Ladegerät genommen und in die Tasche geworfen hatte. Als sie die Tür verschlossen hatte, hüpfte sie die drei Treppen bis zur Haustür hinunter und rief Sami, der jeden Morgen um 8.15 Uhr dort die Straße sprengte, einen Morgengruß zu. Der sagte hallo und kam mit dem Wasserschlauch ihren Absätzen gefährlich nahe, sodass sie kichernd davonlaufen musste. Das gehörte inzwischen zu ihrem morgendlichen Ritual, das beide immer wieder zum Lachen brachte, wofür sie dankbar war.
Rasch ging sie die Rue Frédéric Mistral hinauf und hielt inne, wie sie es immer tat, wenn sie den Cours Mirabeau, Aix’ berühmte Hauptstraße, erreichte. Vor über hundert Jahren hatte man zu beiden Seiten Doppelreihen von Platanen angepflanzt, die im Sommer der Straße und den Gehsteigen Schatten spendeten. Aber jetzt war der Cours eine einzige Baustelle oder besser ein Abrissplatz, wie Sylvie, Marines beste Freundin, eine Fotografin und Kunsthistorikerin, zu sagen pflegte. Kaum waren die Bauarbeiter am oberen Ende fertig, begannen sie am unteren wieder das Pflaster aufzureißen. Dann überlegte es sich jemand im Rathaus anders, die Bauarbeiten unten wurden gestoppt, damit oben wieder begonnen werden konnte. So ging das nun schon vier Jahre lang. Einmal hatte Marine eine amerikanische Touristin zu ihrem Ehemann sagen hören: »Ich kriege einfach kein gutes Bild von dieser Straße, von welcher Seite ich es auch versuche!«
Marine wollte der Frau schon sagen, sie habe noch Glück, dass sie den Cours letztes Weihnachten nicht gesehen habe. Da hatte die neue Bürgermeisterin Yvette Tamain es einer Privatfirma, die ihrem Schwager gehörte, gestattet, längs der einen Straßenseite Holzbuden im elsässischen Stil zu errichten. Das wäre ja noch angegangen, hätte man dort weihnachtliches Kunstgewerbe verkauft wie auf dem Weihnachtsmarkt von Strasbourg. Aber eine Bude war kitschiger als die andere gewesen und voll von Tand, den man auf jedem beliebigen Fastnachtsmarkt finden konnte. Sylvie war fuchsteufelswild geworden, und Marine musste stets einige Schritte Abstand zu ihr halten, weil ihr die lästerlichen Beschimpfungen peinlich waren, die sie gegen die Bürgermeisterin ausstieß. Die Krone des Ganzen, die selbst Marine ein paar Kraftausdrücke entlockte, wenn auch nicht so laute und saftige wie die von Sylvie, war eine riesige orangefarbene Kinderrutsche aus Plastik, die am oberen Ende des Cours prangte. Sie verdeckte komplett die Sicht auf das wunderschöne Hôtel du Poët, ein aus dem berühmten goldfarbenen Stein erbautes Palais aus dem 16. Jahrhundert. Während Sylvie sich mit den Betreibern der Rutsche anlegte, blickte Marine mitleidig auf die Statue von König René, Aix’ berühmtem mittelalterlichem Herrscher, der, eine Weintraube in der Hand, weiter lächelte, weil er zum Glück nicht mitbekam, was die gute Bürgermeisterin Tamain mit seiner schönen Stadt anstellte.
An diesem Morgen kam Marine der Cours merkwürdig still vor. Die Bauarbeiter hatten ihr geräuschvolles Werk noch nicht begonnen, und es schienen auch weniger Autos unterwegs zu sein als sonst. Rasch lief sie über den breiten Boulevard, hielt ihren Rock fest, den der Wind aufblies, und war froh, als ihr Café in Sicht kam. Cafés säumten die Westseite der Straße, die in der Morgensonne lag. Gegenüber hatten sich Banken und Maklerbüros niedergelassen. Die eine Seite spendete Freude, die andere dagegen interessierte nur das Geld der Leute. Sie ging über die Terrasse des , stieß die schwere hölzerne Tür auf, und wieder nahm sie das Interieur des Cafés gefangen – die verrußten ockerfarbenen Wände, der schwarz-weiß geflieste Fußboden mit einem Hauch von Sägespänen, der lange hölzerne, mit verbeultem Messing verkleidete Tresen. – das war ihr morgendliches Vergnügen, selbst als sie mit Antoine zusammen gewesen war. Sie liebte diesen verräucherten geräuschvollen Raum, wo es nach Espresso roch und wo Menschen saßen, die die Gesellschaft anderer suchten, bevor sie an ihr Tagwerk gingen. Den Tag hier zu beginnen, das wusste sie, war ein Privileg derer, die flexible Arbeitszeiten oder das Glück hatten, in der Innenstadt von Aix tätig zu sein. Aber heute stimmte etwas nicht, das spürte sie sofort. Im Café ging es ungewöhnlich gedämpft zu – wie bereits draußen auf der Straße. Die Kellner sprachen leise mit den Gästen, anstatt sie anzublaffen, und ihre...