Lucarelli Bestie
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99037-039-1
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-99037-039-1
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carlo Lucarelli, 1960 in Parma geboren, lebt bei Bologna. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Journalist, Regisseur und Fernsehmoderator. International bekannt wurde er durch seine Kriminalromane, die in viele Sprachen übersetzt, mehrfach preisgekrönt und verfilmt wurden.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Teil I
…
Ich erinnere mich nicht mehr, wie es geschah,
die Geschichte besagt, dass
ich nicht Belzebub, Odin und Manitù fand …
ich niemanden fand, der mir half!
Bandabardò,
Der Cursor funktioniert wie ein Radiergummi.
Er löscht den blauen Bindestrich und lässt einen weißen Strich übrig, der immer länger wird, langsam, entschlossen und stumm, ich kann mit den Kommandos nämlich noch nicht so gut umgehen und der Cursor bewegt sich stumm, während darunter, in Klammer, die Sekunden angezeigt werden.
Den schwarzen Hintergrund habe ich auf Vorschlag des Providers gewählt, die anderen Vorschläge erschienen mir unpassend, zu eindeutig – eine blaue Feder, rote Tinte, grüne Steine, Blumen –, unpassend und zu bedeutungsvoll. Am liebsten wäre mir eine weiße Seite gewesen, einfach eine weiße Seite, aber es gab keine, also kam nur Schwarz in Frage, eine schwarze Seite mit grauen Vierecken am Rand.
Oben in der Mitte, in Tahoma, Größe 20, mit weichen, langen Schleifen, steht der Titel: , grau auf schwarz, darunter, in weißen, flachgedrückten Buchstaben, Größe 12, der Untertitel Ohne Beistriche, alles in Kleinbuchstaben.
Es war einfach gewesen, den Untertitel einzufügen, genauso einfach, wie das Foto einzufügen. Ich hatte es mir schwieriger vorgestellt, ich richtete den Pfeil der Maus auf das Icon des Fotoapparats (Dateipfad anlegen, umblättern, Bilder einfügen, Ausrichtung und Größe wählen, hinzufügen, nein, zuerst das Kästchen ankreuzen, zum Beweis, dass man die Geschäftsbedingungen akzeptiert) und schon war es da, mitten auf der Seite.
Auf dem Foto ist ein Mann zu sehen, er sitzt auf einem Stuhl, einem Holzstuhl.
Er sitzt in einem Innenhof, auf Lehmboden, und neigt sich auf die rechte Seite – es sieht aus, als würde er auf zwei Stuhlbeinen balancieren und gleich umfallen –, einen Arm hat er abgewinkelt, als hielte er einen Schirm, und er beißt die Nägel der anderen Hand.
Es ist ein sehr altes Foto, eine an den Rändern vergilbte Buchseite, dunkle Fäden im Gewebe des Papiers, wie Falten, und auch das Bild mit dem dünnen schwarzen Strich rundherum ist porös und ausgeblichen wie eine Daguerreotypie. Und in der untersten Zeile der Bildunterschrift steht auch tatsächlich , auf Französisch, und der Mann auf dem Sessel ist auch kein Mann, sondern ein Junge, denn er ist erst , dreizehn Jahre alt.
Er sieht jedoch älter aus.
Und nicht nur wegen der vorne offenen Jacke mit den großen Knöpfen, wegen der langen Männerhose, nicht nur wegen des Scheitels, der die dichten Haare teilt.
Er sieht älter aus, weil es ein trauriges Foto ist.
Der Junge, der aussieht wie ein Mann, starrt geradeaus, nach unten, auf seine übereinander geschlagenen Beine, auf die Schuhe, die übereinander liegen wie Hände, die einander zum Gruß gereicht werden, aber er sieht sie nicht an, er schaut ins Leere. Er nagt am Nagel eines Fingers, wahrscheinlich des kleinen Fingers, und er runzelt die Stirn, die Augen versteckt unter den buschigen Augenbrauen.
Ich frage mich: Was sieht er an?
Ich frage mich, warum sieht er es so an?
Eigentlich dürfte er gar nicht traurig sein.
Die Bildunterschrift besagt eindeutig, dass Louis, so heißt der Junge, .
Er hat die Schlange noch nicht gesehen.
Sei ruhig (denke ich), noch ist nichts passiert, und berühre den Bildschirm mit den Fingerspitzen, berühre das traurige Foto, und ich weiß, dass ich nicht mehr lange Zeit habe, ich muss fertig werden, bevor die anderen kommen, aber ich sehe das Foto lange an, und ich lege die Hände auf den Mund, übereinander, während mir eine Gänsehaut über die Haut läuft, bis es fast wehtut.
Ich weiß, wenn Musik anstelle des stummen Cursors wäre, würde ich mich immer schwächer, immer leerer fühlen, so leer, dass ich nach vorne kippen würde, bis meine Stirn die Tastatur berührte, mit aufgerissenem Mund, aus dem die restliche Luft strömen würde, spärlich, trüb und flüssig, meine Wange würde auf dem Plastik zerfließen, das Kinn würde auf dem Holz des Schreibtisches schmelzen, zur Seite fließen wie Wachs und auf den Boden tropfen.
Das passiert mir immer.
Ein plötzlicher, sehr kurzer Schwindel, eine kurze Benommenheit und dann teilt sich die Luft vor dem Gesicht und ich sinke hinunter, langsam, sehr langsam, bis mich etwas aufhält.
Das Blut rinnt nicht länger in den Adern und der ganze Körper wird groß, weich und schwer (glaube ich zumindest), kraftlos, nur noch ein Wimmern, nur der Wunsch, mich zusammenzuziehen, um das Feuchte, das ich in mir spüre, herauszupressen.
Es gibt jedoch keine Musik, nur den weißen Strich, nur die Schrift daneben, stumm über dem traurigen Foto. Louis hat die Schlange noch nicht gesehen, aber es geht ihm trotzdem schlecht, und jetzt nehme ich die Hände vom Mund und das Gesicht in die Hände und drücke mit den Handflächen auf die Augen, als ob ich sie in die Augenhöhlen hineinpressen möchte, und weine, schreie mit weit aufgerissenem Mund, wie damals, als ich mir beim Weinen zugesehen habe, mit nach unten gezogenen Augen- und Mundwinkeln, drei schwarze Löcher in der Mitte wie die Fenster einer Kathedrale, drei Ofenlöcher, drei finstere Höhlen, aus denen ein langes tränenloses Heulen dringt, das lange anhält (wie lange?).
Zum Glück hören mich die anderen nicht, und als ich aufhöre, ist mein Mund so trocken, dass es wehtut.
Jetzt vermeide ich es, das Foto anzusehen, und bevor ich alles online stelle, samt dem automatisch auftauchenden Datum (Donnerstag, 4. August 2010), tippe ich auf der Tastatur rasch das einzige, was ich hinzufügen kann.
Times New Roman, Größe 12.
Weiße Buchstaben auf schwarzem Hintergrund.
Sie hatte einen Traum, sie sah das verknautschte Gesichtchen eines kleinen Kindes, eines Babys, es plärrte unaufhörlich und laut, und daneben noch ein Gesicht, das genauso aussah, dieselben vor Anstrengung verzerrten Züge, geschwollen und rot, und mitten drin dieselben Schlitze, die geschlossenen Augen und der weit aufgerissene Mund.
Grazia sah von oben auf sie hinunter, sie stand unbeweglich am Rande des Bettchens, ein kochend heißes Milchfläschchen in der Hand, sie sah den Babys zu, wie sie plärrten und strampelten und mit den kleinen Fäusten ins Leere boxten, und sie erinnerte sich nicht mehr, welchem der beiden sie eben das Fläschchen gegeben hatte, denn sie sahen ganz genau gleich aus, eineiige Zwillinge. Sie dachte, wenn sie sich irrte und dem Baby das Fläschchen gäbe, das schon getrunken hatte, dann würde es übergehen wie ein volles Glas, und sie sah – nach wie vor im Traum – gewissermaßen als Vorwegnahme des Gedankens das weiße Rinnsal, das ihm aus den Mundwinkeln, den Augenwinkeln und der Nase lief wie ein Fluss weißer Tränen, und dabei verspürte sie Angst, Furcht, und davon wachte sie auf, denn das war kein Traum, sondern ein Alptraum.
Es war kein häufig wiederkehrender Traum. Sie hatte ihn einmal geträumt und dann nicht wieder, vor langer Zeit, aber jetzt fiel er ihr ein, während sie auf dem Rücken lag, mit gespreizten Beinen und den Knöcheln auf den gepolsterten Fußstützen am Fußende des Stuhls. Diese Stellung war ihr immer unangenehm gewesen, sie wackelte nervös mit den Zehen, bis der Gynäkologe, egal ob Mann oder Frau, sie endlich aufforderte, sich wieder anzuziehen. Früher, als sie noch ein Teenager gewesen war, hatte man sie geduzt, jetzt siezte man sie, aber das Gefühl war dasselbe geblieben.
– Fertig. Sie können sich wieder anziehen.
Grazia ließ die Beine sinken, setzte langsam die Fußsohlen auf den Boden, in der Erwartung, dass der Krankenhausboden kalt war, obwohl es draußen unerträglich schwül und drinnen aufgrund der Klimaanlage angenehm kühl war. Mit einem Taschentuch wischte sie sich das Gel vom Bauch und zog sich rasch wieder an, Jeans, T-Shirt, Bluse, und als sie hinter dem Paravent...




