E-Book, Deutsch, 146 Seiten
Reihe: Edition Blickpunkt
Lukas Roland Albrecht: Der Chef der Familie
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-95996-226-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Porträt eines ruhelosen Wirts
E-Book, Deutsch, 146 Seiten
Reihe: Edition Blickpunkt
ISBN: 978-3-95996-226-1
Verlag: Periplaneta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit fünf Jahren zapft er das erste Bier am Tresen, bekocht als Teenager in der NVA die Generäle des Warschauer Paktes. Obwohl alles andere als linientreu, arbeitet er sich im Berliner Palast der Republik vom einfach Kellner zum Gastronomischen Leiter an Honeckers Stammtisch hoch. Eine Karriere, die mit dem Fall der Mauer ganz plötzlich ihr Ende findet. Doch Roland Albrecht macht weiter, leitet ein Hotel für die Treuhand, gründet mit Frau und Sohn mehrere Restaurants, darunter das legendäre Zander, für Presse und Kritiker die beste Küche östlich der Spree.
„Der Chef der Familie“ ist die Geschichte eines Mannes, der immer einen Weg findet, sich selbst zu verwirklichen, ob im DDR-Sozialismus oder im Raubtierkapitalismus des Westens. Und der sich dabei nur von einer Sache leiten lässt: seiner unstillbaren Lebensgier.
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Aperitif
Frühling 2007. Ich bin 22 Jahre alt und nach Berlin gezogen, weil ich ein bedeutender Filmregisseur werden will. Ich weiß, dass das deutsche Kino ein Problem hat, dass es zahnlos und kleinmütig ist, und ich weiß auch, dass ich die Wende bringen kann, wenn man mich lässt. Was ich derweil nicht weiß, ist, wovon ich die nächste Miete bezahlen soll. Als ich 2005 in die Hauptstadt gekommen bin, war für meinen Unterhalt noch gesorgt. Zumindest während der ersten neun Monate, die ich als Zivi in einem Neuköllner Hospiz verbrachte. Die Krankenschwestern und Pfleger blieben in dieser Zeit mein einziger sozialer Kontakt. Es war mir ein Rätsel, wie ich Berlin knacken, wie ich mich dieser riesigen Stadt auch innerlich nähern sollte. Tag für Tag unternahm ich Streifzüge in den 5-Kilometer-Radius um meine Wohnung – Wedding, Mitte, Prenzlauer Berg – und setzte mich abends in die Kneipen auf der Kastanienallee. Doch ich blieb ein Tourist, lebte provisorisch und aus dem Koffer. Einen Raum meiner Zweizimmerwohnung nutzte ich gar nicht, im anderen gab es außer einer Matratze nur einen kleinen Fernseher mit Videorecorder. Den fütterte ich mit Kassetten aus der Videothek. Ich studierte die Gesamtwerke von Woody Allen, Fellini, Kubrick, und ich tat es mit einer hingebungsvollen Naivität. Als müsste allein das wiederholte Ansehen von Citizen Kane genügen, um sich das Handwerkszeug zum Filmemachen anzueignen. Im März 2006 hatte ich dann den ersten Kontakt mit dem Showbusiness. Ich fasste den Plan, an der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) zu studieren. Um sich dort bewerben zu dürfen, musste man allerdings sechs Monate praktische Erfahrung vorweisen können. Da ich keinerlei Kontakte zu einem Theater oder Filmschaffenden hatte, schien das gar nicht so einfach. Schließlich durfte ich als Regiehospitant beim Gastspiel eines österreichischen Regisseurs arbeiten, das im Kronprinzenpalais an der Prachtstraße Unter den Linden aufgeführt wurde. Ich war während der Probenzeit dafür verantwortlich, der 87-jährigen Eleonore Zetzsche ihren Text einzupauken. Im Grunde blieb meine Tätigkeit also die gleiche wie im Zivildienst, ich war Altenpfleger, nur dass ich diesmal eine Theaterlegende betreute. Als Urgestein des Berliner Ensembles war Frau Zetzsche noch von Bertolt Brecht persönlich inszeniert worden. Nach Probenschluss führte sie mich aus, lud mich im mondänen Ganymed zum Essen ein, wo sie einen eigenen, mit Messingschild gekennzeichneten Stammplatz neben dem Eingang hatte. Noch beeindruckender als diese Grand Dame war für mich der naturgewaltige, oft despotische Regisseur. Bis zum Beginn der öffentlichen Aufführungen waren fast alle Praktikanten gefeuert worden oder freiwillig gegangen. Jeden Tag zitterte ich um seine Unterschrift auf meiner Praktikumsbestätigung, ein Dokument, dem ich in meiner Dummheit heilige Bedeutung beimaß. Er würde mir erst Jahre später verraten, dass für jemanden, der Regisseur werden will, Regeln nichts gelten, dass ein echter Filmemacher sich einfach nimmt, was er will. Aber diese Geschichte wird woanders erzählt. Wenn es mir in diesem hektischen Theateralltag gelang, eine kurze Essenspause einzulegen, ging ich zu einer Imbissbude unweit des Kronprinzenpalais. Sie stand vor einer gigantischen Baustelle, auf der jedoch kein Gebäude errichtet, sondern abgetragen wurde. Ein DDR-Relikt, groß wie ein Kreuzfahrtschiff: der ehemalige Palast der Republik. Für mich nur eines von vielen historischen Gebäuden. Nach der letzten Vorstellung stellte der Regisseur mir nicht nur die ersehnte Bestätigung aus, er zahlte mir auch ein unerwartetes Honorar. Dadurch war ich in der Lage, meine Berliner Wohnung zu kündigen und zu verreisen. Denn während der Produktion hatte ich mich mit der Bühnenbildnerin angefreundet und der Zufall wollte es, dass ihr nächstes Projekt ein HFF-Abschlussfilm war. Als ihr Assistent folgte ich ihr für die nächsten Monate an den Drehort in Halle-Neustadt. Ich lebte in dieser Zeit vom Rest meines Honorars, sowie dem mageren Assistentengehalt. Am Ende war gerade noch genug übrig, dass ich mir in Berlin eine Einzimmerwohnung mit Ofenheizung nehmen konnte. Die Miete betrug 183 Euro. Womit wir wieder am Ausgangspunkt dieser Einleitung sind. Frühjahr 2007, zurück in Berlin. Trotz meiner Erlebnisse fühle ich mich in der Stadt immer noch wie ein Fremdkörper. Doch obwohl ich nun endlich alle Voraussetzungen erfülle, um mich an der HFF bewerben zu können, haben mir die Monate als Handlanger eines Studentenfilmes sämtliche Illusionen geraubt. Als Ausgeburt eines verkopften, subventionierten Systems hatte der Jung-Regisseur jedes Gefühl für den Umgang mit Menschen verloren. Ein verweichlichter, bornierter Snob. Außerdem musste ich dabei zusehen, wie ein ursprünglich halbwegs passables Drehbuch durch die Einmischung unzähliger Redakteure – von Förderanstalten, Fernsehsendern, der Produktionsfirma – derart verwässert wurde, sodass der Film zu unerträglichem Schund verkam. Meine eigenen Filme will ich deshalb entweder auf eigene Faust machen, oder überhaupt nicht. In diesem Frühling bin ich also entschlossener als jemals zuvor. Doch leider vollkommen mittellos. Tagelang unternehme ich weitläufige Spaziergänge, stelle mir dabei vor, ich bekäme für jeden gezählten Pflasterstein einen Euro. Es ist mir schleierhaft, wo ich das Geld zum Leben hernehmen soll, geschweige denn das Budget für einen eigenen Film. Ich habe nichts studiert und keinen Beruf gelernt. Wie ich es auch drehe und wende: Ich werde mir einen Job suchen müssen. »Und hast du schon irgendwelche Erfahrungen in der Gastronomie?«, fragt mein Gegenüber mit leichtem Thüringer Akzent im ersten Bewerbungsgespräch. »Ich war letztes Jahr Regieassistent im Kronprinzenpalais. Da habe ich auch den Abwasch gemacht. Das war so ein Stück mit Galadiner in der Pause.« »Aha.« »Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass ich eine sehr strikte Arbeitsmoral habe. Wenn ich etwas anfange, dann mache ich es auch richtig.« »Mhm.« Dass meine hochtrabenden Worte keine sichtbare Reaktion hervorrufen, verunsichert mich. Mein Gegenüber ist ein Mann um die Fünfzig. Ergrautes Haar, leicht untersetzt, ein kleiner Buckel, der von der Angewohnheit zu kommen scheint, die Umgebung stets über den Rand der lässig aufgesetzten Brille zu beobachten. Vor ihm liegen Zettel und Stift, doch er macht sich keine Notizen. Wir sitzen in seinem Restaurant in der Kollwitzstraße, die Tische sind noch nicht eingedeckt. »Die Märkte finden immer donnerstags und samstags statt«, sagt er dann. »Komm doch übermorgen einfach um halb acht vorbei, dann kannst du ja mal probearbeiten.« Eine Chance, mehr brauche ich nicht. Ich bin froh, dass sie mir gewährt wird, und beziehe das nun doch wieder auf mein resolutes Auftreten. Woher soll ich auch wissen, dass der Mann, dem ich gegenüber sitze, grundsätzlich großzügig mit seinem Vertrauen umgeht, seit vier Jahrzehnten schon, die er in zwei verschiedenen Welten verbracht hat? Im DDR-Sozialismus ebenso, wie im Raubtier-Kapitalismus des wiedervereinten Berlins? Sein Name ist Roland Albrecht, Sohn einer Frisörin und eines Kellners aus Thüringen, der sich zum Zeitpunkt meiner Geburt bereits zum Gastronomischen Leiter am Tisch Erich Honeckers hochgedient hatte. Das alles weiß ich natürlich noch nicht. Ich bin völlig mit meinem Ego und dem dazugehörenden Traum beschäftigt. Ich bin ein Kind. Meine linksliberale Identität ist zwar inzwischen dem Anspruch gewichen, Künstler werden zu wollen, trotzdem rümpfe ich noch immer die Nase über jede Form von Reichtum und alles, was ich für dekadent halte. Das gilt sowohl für das besagte Restaurant Zander, in dem mein Bewerbungsgespräch stattfindet, als auch für meinen eigentlichen Arbeitsplatz: eine Imbissbude mit dem illustren Namen Currywurst & Schampus. Dort soll ich fortan nicht nur den besagten Schaumwein verkaufen, sondern auch Pommes frites mit Trüffel-Mayonnaise und vergoldete Bratwürste. Die Ironie, dass mein neuer Chef diese Kombination auf der Karte Berliner Yuppie-Menü nennt, entgeht mir. Den ersten Arbeitstag auf dem Hackeschen Markt verbringe ich mit einem kleinen, wortkargen Sarden, sowie Heidrun, Rolands Frau, die den Service im Restaurant leitet und ebenfalls aus Thüringen stammt. »Noh«, sagt sie jedes Mal, wenn ich eine Frage stelle. Eine etwas befremdliche Art der Bestätigung. »Kann ich die Pommes jetzt in die Fritteuse geben? Ist das Öl heiß genug?« »Noh.« »Und wann kommen die ersten Kunden?« »So gegen zwölf.« »Soll ich dann auch abkassieren?« »Noh.« Vier Stunden lang reißt die Schlange vor unserem Tresen nicht ab. Die Kundschaft besteht in erster Linie aus den Angestellten der umliegenden Büros, auch aus vielen Touristen. Als Heidrun sieht, dass der Sarde und ich alles im Griff haben, hält sie sich fortan im Hintergrund. »Und wie bist du zu dem Job gekommen?«, frage ich meinen Kollegen nach Feierabend. »Isch bin ganz neu gewesen in Berlin, so wie du. An eine Abend isch bin einfach in Zander gegangen und abe gefragt: ›Hast du Arbeit?‹ Dann isch durfte zuerst anfangen in der Spülküche, manschmal auch Sven helfen beim Vorbereiten. Inzwischen isch bin schon seit einem halben Jahr Sous-Chef.« »Wer ist Sven?« »Der Sohn von Heidi und Roland.« In den folgenden Monaten habe ich...