E-Book, Deutsch, 126 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
Lutterer Gregory Bateson - Eine Einführung in sein Denken
4. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8497-8233-7
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 126 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
ISBN: 978-3-8497-8233-7
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
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Wolfram Lutterer, Dr. phil.; Studium der Soziologie, Philosophie, Erziehungswissenschaft und Architektur; Referent und Leiter von Workshops; seit 2019 Standortleiter der Uni/PH-Bibliothek der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Systemische Theorie, Lernen und Bildung, Kommunikations- und Wissenschaftstheorie, Coaching. Veröffentlichungen u. a.: 'Gregory Bateson - Eine Einführung in sein Denken' (4. Aufl. 2025).
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Forschung und Information Kybernetik, Systemtheorie, Komplexe Systeme
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaften: Forschung und Information Informationstheorie, Kodierungstheorie
- Mathematik | Informatik EDV | Informatik Daten / Datenbanken Informationstheorie, Kodierungstheorie
- Geisteswissenschaften Philosophie Sozialphilosophie, Politische Philosophie
Weitere Infos & Material
1 Ethnologische Forschung
Bateson unternimmt drei größere ethnologische Forschungsreisen. Die ersten beiden führen ihn nach Neuguinea, wo er das Volk der studiert, die dritte zusammen mit Margaret Mead nach Bali. Dort erstellen die beiden gemeinsam die erste umfangreichere fotografische und filmische Studie in der Ethnologie. Die Reisen haben zum Ziel, über das Studium fremder Kulturen Einblicke in die Prozesse sozialer Evolution und der Charakterbildung zu gewinnen.
1.1 NEUGUINEA: UNTER DEN KOPFJÄGERN
In den Jahren 1929 bis 1934 verbringt Bateson einmal sechs und einmal 15 Monate bei den , einem Kopfjägerstamm auf Neuguinea. Zuvor war er bereits für insgesamt 15 Monate bei zwei anderen Völkern in Neuguinea gewesen, den und den ; allerdings war es ihm dort nicht gelungen, Gewinn bringende Forschungsarbeit zu leisten. Dem ersten Aufenthalt bei den Iatmul folgt eine ausführliche Beschreibung des Stammes unter dem Titel (1932b u. 1932c).
Der zweite Aufenthalt, der zur Bekanntschaft mit Margaret Mead führt, hat nach einem längerem Ringen zum Resultat, eine Studie, die in ihrem vollen Titel einen ersten Eindruck des darin vollzogenen Spagats vermittelt: (1936a). Das Buch soll aus verschiedenen Blickwinkeln die Kultur der Iatmul analysieren und zugleich die Gültigkeit der dabei entwickelten Theorien überprüfen. Bateson selbst nennt dieses Buch später „plump und unbeholfen, in Teilen beinahe unleserlich“ (1958a, p. 281). Der britische Ethnologe Radcliffe-Brown, Mitbegründer des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus, bezeichnet dagegen Bateson in einer Rezension als „gewissenhaften und fähigen Denker“ und „sehr entschieden [als] ein empfehlenswertes Buch für nachdenkliche Leute“ (Radcliffe-Brown 1937).
Die Iatmul
Die Iatmul werden von Bateson als ein „feines, stolzes, kopfjagendes Volk“ (Bateson 1936a, p. 4) beschrieben, das in großen Dörfern mit 200 bis 1000 Menschen lebt. Auch heute siedeln die Iatmul noch am Sepik, einem breiten Fluss in Neuguinea, der ihnen sowohl als wichtigste Nahrungsquelle als auch als Transport- und Kommunikationsweg dient.
Von seiner ersten, sechsmonatigen Reise bringt Bateson das Eingeständnis mit, am Verständnis der Struktur ihrer Lebensführung gescheitert zu sein (1932c, p. 432). Sein erster Bericht über die Iatmul behilft sich mit klassischer Gliederung in Umgebung, Religion, Riten, Sozialverhalten und Mythen. Dies ergibt einen bunten Bilderbogen, mit dem er allem Anschein nach nicht sonderlich zufrieden ist.
Im Rahmen dieser Beschreibung wird allerdings das grundlegende Muster einer zweigeteilten Lebensorganisation theoretisch fruchtbar gemacht: Die beiden Geschlechter sind im täglichen Leben fast vollständig voneinander geschieden. Während sich die Frauen um Haushalt, Kinder und die Nahrungsversorgung kümmern, verbringen die Männer den Tag überwiegend in den für Frauen verbotenen Zeremonienhäusern oder organisieren groß angelegte Jagden.
Die Zweiteilung nimmt einen noch breiteren Raum ein: Die Dörfer sind strukturell in patrilineale und matrilineale Hälften geteilt, außerdem besteht eine Trennung von Generationen und Altersklassen, die sich in einer alternierenden Reihe vollzieht. So sind die Großväter ihren Enkeln mehr verbunden als Söhne ihren Vätern. Brüder sind überdies gewöhnlich untereinander bei Streitigkeiten dahin gehend verbündet, dass der erste und der dritte gegen den zweiten und vierten stehen. Auch die Musik kündet von Zweiheiten: Auf den großen Bambusflöten spielen die Männer jeweils paarweise. Nach ein, zwei Tönen ergänzt die stimmlich versetzte zweite Flöte die Töne der ersten. Konträr ist auch das Verhalten der Geschlechter. Während die Männer ein stolzes, prahlerisches und aggressives Verhalten zur Schau tragen, verhalten sich die Frauen ruhig und unauffällig.
Es gibt eine besondere Zeremonie, die Bateson zunächst nur beiläufig erwähnt, und diese heißt . Naven ist eine spezifische Handlung, die der Bruder der Mutter eines Kindes vollzieht, wenn das Kind zum ersten Mal eine gesellschaftlich relevante Handlung durchführt. Die Spanne derartiger Handlungen reicht dabei vom erstmaligen Fangen eines Fisches bis zur ersten Tötung eines Menschen (bei Jungen). Entsprechend der Bedeutung der jeweiligen Handlung, wird das nur kurz in Gestalt einer Geste ausgeführt oder aber mit einem großem Fest gefeiert. Die -Zeremonie erweist sich später in dem gleichnamigen Buch Batesons als ein fundamentales Charakteristikum für die Organisation und den Zusammenhalt der Iatmul.
Neben der Kopfjagd, die zur Zeit des Besuchs von Bateson aufgrund von Verboten der Regierung nicht mehr praktiziert wurde, spielen Mythen eine zentrale Rolle. Jeder der zahlreichen Clans verfügt über eigene Mythen, in denen die gesamte erfahrene Welt sinnhaft verbunden wird. Diese Mythen sind strukturiert über die Namen der Ahnen eines Clans. Etliche der Männer scheinen über die Kenntnis mehrerer tausend Namen1 und damit über entsprechend hohen sozialen Status zu verfügen. Die Mythen jedes Clans sind geheim und dokumentieren über Namensverflechtungen Beziehungen zur gesamten Welt: Fische und Gebrauchsgegenstände ebenso wie die Ursprünge des Volkes und der Welt.
Anfang der Dreißigerjahre ist die Kultur der Iatmul jedoch im Niedergang begriffen. So sorgen aus der Ferne zurückkehrende Dorfmitglieder mit ihrem Hohn und ihrer Verachtung für die alten Sitten und Gebräuche für eine deutliche Desintegration. Den vorgefundenen Status quo konstatierend, spricht Bateson den Vorteil der Physiker, Chemiker und Biologen gegenüber den Sozialwissenschaftlern an. Sie alle verfügen über Möglichkeiten der Kontrolle über das untersuchte Material. Der Ethnologe dagegen stehe nicht nur allein in der Fremde, er müsse auch nehmen, was ihm geboten werde, und angesichts einer sterbenden Kultur so viel wie möglich ansammeln und damit zugleich die Rolle eines Anatomen, Physiologen und Genetikers übernehmen (1932c, p. 439 f.).
1.2 ERSTE STRATEGIEN
Angesichts derartiger Probleme nimmt Bateson Zuflucht zur Biologie. Diese bot sich ihm in besonderer Weise an: Er hatte anfangs, einer Familientradition folgend, Biologie studiert, bevor er dann in die Ethnologie überwechselte. Sein Vater William Bateson war ein bekannter Genetiker, der an der Wiederentdeckung der mendelschen Vererbungsgesetze mitbeteiligt war und auf den sogar der Begriff selbst zurückgeht. Von Kind auf war der nach Gregor Mendel benannte Gregory umgeben gewesen von Feldern mit Versuchspflanzen und Fragen nach Symmetrie und Vererbung, so berichtet Batesons Biograph David Lipset (1980, p. 28 f.).
Er versucht also, biologische Vorgehensweisen auf die Ethnologie zu übertragen. Als erste mögliche Analogie diskutiert er dabei die Unterteilung in und . Strukturen sind in der Biologie gewöhnlich unveränderliche Phänomene, Funktion steht für Veränderungen über eine gewisse Zeitspanne hinweg (Bateson 1932c, p. 440). Die Unterscheidung aber, was im ethnologischen Kontext als unveränderlich und was als sich verändernd anzusehen ist, ist nur schwer zu treffen. Daher erwies sich dieser Versuch der Analogiebildung als schwierig. Auf weiterer Suche nach passenden Analogien in der Biologie versucht er sich auch mit der Übertragung der Begriffe und .
Bateson attackiert bereits damals althergebrachtes Wissenschaftsverständnis. In einem Vortrag scheint er für seine Klassifikation der Iatmul als gerügt worden zu sein, weil deren Verhalten nicht allen der an Totemismus angelegten Kriterien gerecht werde. Er macht sich darüber lustig: Die Festsetzung und Auflistung irgendwelcher ausgewählter Merkmale sei einigermaßen lächerlich, weil stets willkürlich. Dadurch entstehe dann das ebenso lächerliche Ergebnis, dass man in dieser Denklogik die Iatmul aufgrund zu 75 % erfüllter Kriterien als in demselben Maße totemisch bezeichnen müsse.
Um von dieser Willkür wegzukommen, schlägt er vor, die drei biologischen Typen der in die Ethnologie umzusetzen: und (1932c, p. 447). Ihre mögliche Verwendung in der Ethnologie beschreibt er zwar in , weicht aber in von diesem Vorhaben wieder ab. Dort bleibt zwar die Dreiheit der Untersuchungsarten erhalten, doch stellt sie sich dort als eine Unterteilung in und dar. Dabei steht für die Untersuchung affektiver Beziehungen (emotional als folgerichtig angesehenes...