Álvarez | Das Flüstern der Seelen | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 558 Seiten

Álvarez Das Flüstern der Seelen

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-4592-3
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 558 Seiten

ISBN: 978-3-8387-4592-3
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



EINE AUSSERGEWÖHNLICHE GABE, EINE REIHE UNGEKLÄRTER VERBRECHEN UND EINE LIEBE ZWISCHEN ZWEI WELTEN.

London 1888: Die kleine Annabel wächst auf dem Friedhof Highgate auf, schläft in einem Sarg und rechnet damit, dass ihr Herzleiden ihrem kurzen Leben bald ein Ende setzen wird. Vielleicht ist dieses Dasein zwischen Leben und Tod schuld daran, dass sie mit Geistern in Kontakt treten kann.

Zehn Jahre später ist Annabel zum gefragtesten Medium Englands geworden, selbst Königin Victoria hat ihre Dienste schon in Anspruch genommen. Doch ihre Gabe ist gefährlich: Annabel deckt dunkle Geheimnisse auf und wird von Scotland Yard verfolgt. Einzig der Geist von Lord Victor Rosenfield steht ihr bei...

Álvarez Das Flüstern der Seelen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Kapitel 2


Der Tod war zu Rosalie Lovelace nicht gnädiger als das Leben. Gut möglich, dass jener Dämon, den alle Welt unter dem Namen Jack the Ripper kannte, niemanden mehr ermorden würde, aber das machte die sechs Frauen aus Whitechapel, auf die er sich mit seinen Messern gestürzt hatte, auch nicht wieder lebendig. Rosalie würde kein Grab in Highgate erhalten, so wie sie auch kein Haus in Covent Garden, Kensington, Berkeley Square oder Elystan Street gehabt hatte. Ein einsames Holzkreuz mit der Inschrift 15510 auf dem Friedhof von Plaistow würde der einzige Hinweis darauf sein, wo sie begraben lag. Und besuchen würden sie lediglich die Prostituierten aus den Vorstädten, ehemalige Weggefährtinnen, und ab und zu auch Heather, die Annabel aber nicht ein einziges Mal mitnahm. Das Mädchen war von der plötzlichen Erscheinung seiner toten Mutter so sehr geschockt, dass es sich kaum aus dem Haus traute.

Heather sorgte dafür, dass Doktor Toole ihnen vier Tage nach der Beerdigung einen Besuch abstattete. Annabel hatte sich nicht aus ihrem Sarg gerührt. Sie trug noch immer das Kleid aus grauem Stoff, das ihre Tante ihr genäht hatte, lag zusammengekauert da und starrte die Tierchen an, die sie auf ihre improvisierte Schlafstätte gezeichnet hatte. Jede einzelne Krähe betrachtete sie, die auf dem Samt des Sargs in V-Formation flogen, immer wieder, während Doktor Tooles Worte sich in den Windungen ihrer Gehörgänge verloren. Es schien ihr wesentlich einfacher, den Bildern, die sie im Laufe der vergangenen zwei Jahre mit Buntstiften gezeichnet hatte, bis ins Unendliche zu folgen, als ihm zuzuhören, wie er Auskunft über ihr Herz gab.

»Wenigstens hat man mir versichert, dass du das Digitalis nimmst«, hörte sie Doktor Toole sagen, als spräche er von ganz weit weg, aus London, der Stadt, in deren Straßen sich Menschen mit Messern herumtrieben, um sich gegenseitig aufzuschlitzen. »Aber ich habe auch gehört, dass du jedes Mal einen Aufstand machst. Niemand hat je behauptet, dass Arzneien gut schmecken. Schließlich habe ich dir keine Süßigkeit verschrieben, sondern das einzige Heilmittel, das dich gesund erhält. Wenn ich mitkriege, dass du dich davor drückst, und sei es auch nur ein einzige Mal …«

Die Vögel streckten ihre Flügel aus. Annabel hatte sie mit einer Art roter Stacheln versehen, die Federn darstellen sollten. Als sie mit der Fingerkuppe darüber strich, musste sie an eine Haarbürste denken.

»Ich sehe schon, du willst nicht mit mir reden.« Als Doktor Toole sein Jackett auf das Podest legte, raschelte es an ihrem Ohr. »Wir sind heute Morgen wohl etwas launisch, was? Oder soll ich dich lieber allein lassen, damit du in Ruhe weinen kannst?«

Sie schwieg. Ein Flügel der Krähe, die den anderen vorausflog, war durch die Berührung ihrer Finger verwischt. Den muss ich noch mal zeichnen, dachte Annabel, schließlich ist das die Mutterkrähe. Wer soll den anderen sonst sagen, wohin sie fliegen müssen?

»Deine Tante Heather hat mir berichtet, dass du kaum einen Bissen anrührst.«

Sie betrachtete weiterhin den Flügel. Essen war nicht wichtig. Sie hatte schon immer wenig gegessen.

»Ich hatte dich für klüger gehalten«, versuchte Doktor Toole ihr zu schmeicheln. Annabel hatte große Lust, mit der Zunge zu schnalzen, denn sie war klug genug, um zu begreifen, worauf er hinauswollte. »Reifer. Wie gesagt, ich verstehe deinen Schmerz, ich verstehe, dass du um deine Mutter trauerst, und das sollst du auch. Aber wenn wir nicht auf dein Herz aufpassen …«

»Ich trauere nicht«, murmelte Annabel. »Oder sehen Sie, dass ich schwarze Sachen anhabe?«

Doktor Toole seufzte. Draußen vor der Kapelle sangen die Totengräber A Violet From Mother’s Grave, während sie kraftvoll die schwere Erde aushoben. Die ersten Zeilen des Lieds taten Annabel so weh, dass sie sich noch stärker zusammenkauerte. Doktor Toole blickte sich um, ohne aufzustehen.

»Sie gehen jetzt besser, Milord.« Der Ton seiner Stimme verriet, dass er über die Schulter hinweg mit jemandem sprach. »Unser Sorgenkind ist heute so dickköpfig, dass Sie nur Ihre Zeit vergeuden.«

Plötzlich reagierte Annabel. Unter ihrem Arm hindurch sah sie noch einen schwarzen Haarschopf und gerade Schultern durch die Tür verschwinden. Sie war so sehr in ihre Betrachtung der Krähen versunken gewesen, dass sie die Anwesenheit eines Dritten nicht bemerkt hatte. Sie sah Doktor Toole an.

»Wer war das?«

»Ist nicht so wichtig«, erwiderte Toole ungerührt. »Aber ich freue mich, dass du dich endlich dazu durchgerungen hast, mich anzusehen. Ich muss dich nämlich untersuchen, ob dir das passt oder nicht, kleines Fräulein. Du hast etwas Schlimmes erlebt, da wäre es nicht verwunderlich, wenn dein Herz … Jedenfalls würde deine Mutter nicht wollen, dass du so schnell zu ihr kommst.«

Annabel antwortete nicht. Sie machte es sich so gut wie möglich in ihrem Sarg bequem und starrte zu den verwitterten Dachbalken, während Doktor Toole ihr das Stethoskop an die Brust hielt. Sie hatte eine Heidenangst vor dem Stethoskop. »Dieses Ding saugt die Seele weg, wenn man es direkt aufs Herz drückt«, sagte sie immer zu Heather, wenn der Arzt wieder weg war. Mehrere Wochen lang war sie wie besessen von dem Gedanken, dass der arme Geoffrey Toole, der noch nie einer Fliege etwas zuleide getan hatte, sich nachts daran ergötzen könnte, den Klagen der Menschen zu lauschen, die in der kleinen Silberkapsel des Stethoskops eingesperrt waren. »Was geht nur in deinem Kopf vor, Kind«, hatte Heather einmal erwidert. »Wie kann man nur mit sechs Jahren schon so gruselige Gedanken haben? Daran ist nur Highgate schuld! Ich hab’s ja schon immer gesagt!«

Für Annabel war nicht Highgate daran schuld, dass dieser Doktor Toole die Seelen seiner Patienten raubte. Sie sah da keinen Zusammenhang, und selbst wenn, wäre es ihr egal gewesen, so wie ihr inzwischen alles egal war.

Sie zog an ihrem Hemd.

»Kann ich auch mal hören?«

»Ich glaube nicht, dass dich das beruhigen würde«, murmelte Toole.

Er nahm die Stöpsel aus den Ohren und betrachtete Annabel so aufmerksam, dass sie schon fürchtete, er wolle so lange mit verschränkten Armen dastehen, bis sie tot war.

»Dein Puls ist wie immer«, sagte er verwundert. »Nicht die kleinste Unregelmäßigkeit. Wenn du weiterhin fleißig dein Digitalis einnimmst, spricht nichts dagegen, dass dein Zustand sich nicht verändert. Schau nicht schon wieder so.« Annabel hatte ihr kleines Näschen gerümpft. »Du weißt doch, dass es nur zu deinem Besten ist. Sag deiner Tante, sie soll dir Toastbrot mit Honig machen, wenn du deine tägliche Dosis schlucken musst, dann geht’s schon.«

Das infernalische Gerät noch immer in der Hand, hatte er sich so weit über den Sarg gebeugt, dass Annabel, vor allem auf seiner Nase, jede einzelne Pore erkennen konnte und in der Nase die sorgfältig gestutzten Härchen; und sogar die Fältchen um die Augen, die so dunkel waren wie von Heather. Wie immer roch der Doktor nach Talkpuder. Keiner der Totengräber roch so.

Noch bevor ihm bewusst wurde, was sie da machte, flüsterte sie:

»Glauben Sie an Gespenster, Doktor Toole?«

Die dunklen Augenbrauen des Arztes bogen sich nach oben wie zwei Accents circonflexes. Er schien ernsthaft über ihre Frage nachzudenken.

»Ich glaube, dass jeder sein eigenes Gespenst hat.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Annabel verwundert.

So etwas hatte sie noch nie gehört. Gab es so viele Gespenster?

»Jeder Mensch hat seine eigenen Sorgen«, erklärte der Arzt, während er die Kabel um das Stethoskop wickelte, »seine eigenen fixen Ideen, Ängste und Träume. Der menschliche Geist ist ein wunderliches Ding, mein Kind.« Er legte das Stethoskop in seinen Arztkoffer. »Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir unsere Ängste auf Menschen projizieren, die nicht mehr bei uns sind. Und dann kann es passieren, dass wir sie leibhaftig vor uns sehen. Das sind aber keine Gespenster, Annabel, das ist unser eigener Wahn.«

So merkwürdig es dem Doktor auch erscheinen mochte, aber seine Erklärung beruhigte Annabel keineswegs. Wahn? Wenn ein Gespenst zu sehen bedeutete, dass man nicht ganz richtig im Kopf war, war dann nicht die halbe Menschheit verrückt? Und wenn sie an die vielen Horrorgeschichten dachte, die sie gelesen hatte, allesamt aus der Bibliothek in der Chester Road, die Heather so eifrig aufsuchte: War es womöglich so, dass die Helden nur fantasierten, dass sich die Autoren das alles nur ausdachten? Verzagt sah sie Doktor Toole mit ihren grünen Augen an.

»Finden Sie, dass ich allmählich verrückt werde?«, flüsterte sie.

»Aber nein«, antwortete der Doktor und lächelte. Dann gingen seine Mundwinkel wieder nach unten. »Dein Geisteszustand ist nicht das Problem, fürchte ich.«

Annabel erwiderte nichts. Sie machte sich nicht die Mühe, in Frage zu stellen, was Doktor Toole gerade gesagt hatte, dafür tat ihr der Kopf zu sehr weh. Sie murmelte nur »Bis bald«, als der Arzt, nachdem er ihr mit einer gewissen Zärtlichkeit durchs Haar gefahren war, aufstand, seinen Koffer und sein Jackett nahm und das Zimmer verließ. Das Klappern seiner Schuhe auf den Treppenstufen hallte schmerzhaft zwischen ihren Schläfen wider.

Sie seufzte und wollte nur noch eines: sich so lange in ihrem Sarg zusammenrollen, bis die Sonne hoch am Himmel stand, die Stiche in Kopf und Brust verschwunden waren und die Erinnerung an das Holzkreuz mit der Nummer 15510 in Plaistow sie nicht mehr quälte. Gerade wollte sie die Augen schließen, als...



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.