E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Lykull Brendas Bekenntnisse
1. Auflage 2022
ISBN: 978-87-28-48195-0
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-87-28-48195-0
Verlag: SAGA Egmont
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anita Eklund Lykull (geb. 1942) ist eine schwedische Schriftstellerin. Bekanntheit erlangte sie vor allem durch ihre Jugendromane, in denen sie unverkrampft und mit viel Einfühlungsvermögen die Hürden des Erwachsenwerdens beschreibt.
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Eine Nonne kommt selten allein
Gott sei Dank war es wirklich Lizzie. Sie und ich hatten uns vor Ewigkeiten kennen gelernt, als wir in »Tante Gudruns Ballettschule« angemeldet worden waren. Barbro hatte gelesen, dass durch das Tanzen kleine – und bereits beunruhigend fette – sechsjährige Mädchen zu schlanken Gazellen werden könnten. Aber da lag sie absolut falsch. Ich entwickelte Muskeln und sah noch breiter aus. Eine kleine Sumoringerin in hellblauem Tüll. Lizzie dagegen war wie geschaffen für die wunderbare Welt des Balletts. Groß, dünn wie ein Regenwurm, mit eleganten Armen und Beinen.
Wir kannten uns nicht von Anfang an, wurden aber sehr schnell unzertrennlich, wie es heißt. Dabei half natürlich auch, dass wir nicht weit voneinander entfernt wohnten. Ich kann mich seit dem Augenblick an sie erinnern, als sie mich davor rettete, in der erniedrigenden Rolle des »Trollvaters« (wir hatten nicht genug Jungen) in Tante Gudruns selbst gemachtem Kinderballett »Abenteuer im tiefen Wald« tanzen oder genauer gesagt über die Bühne trampeln zu müssen. Lizzie richtete ihre hell-hellbraunen, ein wenig schräg stehenden Augen auf Tante Gudrun und hauchte: »Kapierst du nicht, dass sie das nicht will! Brenda will doch die Elfe Federleicht tanzen, Mensch!«
Und endlich begriff Tante Gudrun. Mit schlecht verhohlenem Widerwillen überließ sie mir die graziöse Rolle, die sie für einen ihrer Lieblinge reserviert hatte. Es gehört zu der Sache dazu, dass meine Freundin – als Rache für diese Frechheit – dazu verurteilt wurde, eine schüchterne Waldmaus darzustellen, die sich meistens unter einer zwei Meter hohen, schlecht designten Anemone aus weißem Kunststoff verstecken musste. Aber da wir es lustig fanden, zusammen umherzuwuseln, erweiterten wir die Choreographie während der Vorstellung. Dachten uns neue Schritte und Drehungen aus. Und ich trug ein selbst komponiertes Liedchen vor.
Ich habe nämlich immer schon gern gesungen. Eigentlich ist das bisher so ungefähr das Einzige, was ich gern tue, wenn ich ganz ehrlich sein soll. Singen und essen. Essen und singen. Die absoluten Höhepunkte des Lebens.
»Hallo, ich bin’s. Wie steht’s?«, fragte Lizzie kurz. Keine redet so kanonenschnell wie sie. Viele Leute verstehen nicht, was sie sagt, aber ich habe lange Übung. Mein Gehirn kann sozusagen hinzufügen, wo etwas fehlt.
»Wie es steht, tja, ich weiß nicht: leicht verzweifelt, möchte ich meinen. Ich finde wie immer keinen Bikini. Mein alter geht nicht mehr«, jammerte ich. »Da sieht man den Hintern. Weiß wie eine Riesenschneebeere leuchtet der durch die verschlissenen Fäden. Sie, die Frau im Laden, hat gesagt, ich sollte zu Heavy is fucking hot gehen, aber dieses Drecksloch soll machen, was es will. Da bade ich lieber nackt und die Leute trifft der Schlag. Und ich bezahle dann die Strafe für Erregung öffentlichen Ärgernisses.«
»Hmmm, ich kann ja einen für dich nähen. So schwer kann das doch nicht sein. Ich schneide ihn nach deinem alten zu. Und den BH beziehen wir neu oder so. Also, keine Panik, dieses Problemchen kriegen wir in den Griff, Brenda.«
Wie immer war Lizzie die pure Optimistin. Bisher war ihr nichts so recht gelungen, was sie für mich genäht hatte. Meine Freundin ist nicht gerade ein Nähgenie. Aber diesmal könnte es doch vielleicht ... Ich ging dankbar auf ihren Vorschlag ein.
»Klasse, aber glaubst du wirklich, du schaffst das? Und wann kommst du eigentlich wieder?«
Lizzie hatte einen Ferienjob in einem christlichen Sommerlager bei Varberg. So eine Freizeit, die ihre Kirche (also der Pastor) für Leute arrangiert hatte, die nächstes Jahr konfirmiert werden sollten. Vorbereitendes göttliches Training.
»Du, ich hab vor, mir am Freitag freizunehmen. Hier ist alles zum Kotzen ungerecht. Melker, der sozusagen verantwortlich sein soll – der kleine Arsch –, verpennt jedes Frühstück. Kater, natürlich. Die andere Frau und ich müssen die ganze Zeit wie die Sklavinnen schuften, wirklich die ganze Zeit. Aber als vorige Woche Elterntag war, wer stand da frisch gewaschen und gescheitelt da und lächelte wie ein Honigkuchenpferd? Reißt alles Ansehen an sich? Melker! Manchmal verabscheue ich die ganze Männergesellschaft, Brenda. Mein Entschluss steht fest. Ich will Nonne werden. Jetzt weiß ich es ganz sicher.« Diese Sätze, ohne Atempause, sprudelten aus Lizzies großem, aber wie ich zugeben muss, hübschem Mund.
Mit dem Nonnenkram hatte sie während unserer Freundschaft schon früh angefangen. Hier und da tauchte er im Gespräch auf und einmal hatte sie sogar in einem Kloster angerufen und sich erkundigt. Vermutlich hatte sie dort ihr Praktikum machen wollen, aber dabei kam nichts heraus. Das war, als ihr jüngster Bruder geboren wurde. Aber egal, jedenfalls bricht mir der kalte Schweiß aus, wenn sie sich über die Wonnen des Klosterlebens verbreitet. Es half auch nie, wenn ich zum Gegenangriff überging: »Aber Lizzie, diese Mädels streiten sich bestimmt auch. Mobben sich gegenseitig, da bin ich mir total sicher. Von Eifersucht wollen wir gar nicht mal reden. Glaub bloß nicht, dass die alle in trauter Eintracht leben oder wie das heißt. Hast du nicht gelesen, dass ein Hahn dreihundert Hennen in gute Laune versetzen kann? Orte mit nur einem Geschlecht sind einfach nicht gut!« – »Hennen?! Du hörst zu sehr auf böse Zungen, Brenda«, knurrte sie und dann redete sie über irgendein Buch, das sie gerade gelesen hatte.
Diesmal ignorierte ich die Nonnengefahr. Ging unmerklich über zu meinem Job. Ich sagte, dass ich versuchen wollte mir nach dem Mittagessen freizunehmen. Der Besitzer des Leonardo (und von neun anderen in der ganzen Innenstadt verteilten Pizzapalästen) könnte sicher eine Vertretung aus dem Ärmel schütteln. Er hatte immer Verwandte, die sich etwas dazuverdienen wollten. Diesmal würde ich einen Besuch bei der Frauenärztin vorschützen. Auf der Schule hatte ich ab und zu eine Pilzinfektion angegeben, wenn ich schwänzen wollte – im vergangenen Herbst. Im Frühjahrshalbjahr hatte ich mich zusammengerissen. Spürte, dass bald alles ein für alle Mal zu Ende sein würde, yeah. Brenda Brisling gehört zu den Einwohnerinnen des Landes Schweden, die sich nie und nimmer auf einem Klassentreffen sehen lassen werden. Ich habe vor, dieses ganze triste Kapitel meines Lebens zu vergessen.
»Okay, dann bin ich so gegen halb zwei bei dir.«
»Aber du, wir haben doch keine Nähmaschine. Die hat voriges Jahr den Geist aufgegeben und ich glaube nicht, dass Barbro sie zur Reparatur gebracht hat.«
»Ja, hm, alles klar, aber zu Hause herrscht so ein Chaos«, sagte sie ohne Atem zu holen. »Meine Mutter hat den Sommer über doppelt so viele Kinder bei sich. Wie immer erbarmt sie sich der großen Geschwister ihrer Tageskinder. Ich werde bei dir alles zuschneiden und stecken, nähen kann ich dann ja abends zu Hause, wenn die Lage sich beruhigt hat. Jetzt muss ich aber los. Muss das Programm für heute Abend vorbereiten. Oi, da ist offenbar gerade jemand hingefallen. Alvar, hallo, Alvar, im Medizinschrank liegen große Pflaster, ich bin gleich bei euch.«
Im Hintergrund waren wütendes Geschrei und Lizzies beruhigende Schnatterstimme zu hören.
»Okay, ich hol dich am Bahnhof ab, wenn ich es schaffe.«
»Hmmm. Was hast du heute Abend vor, Brenda?«
Plötzlich verlangsamte sie auf Normalgeschwindigkeit. Ich hörte ihren Atem vom anderen Ende der Leitung her.
»Nichts Besonders. Zuerst esse ich ein dickes Butterbrot. Später werde ich zwei Pizzen genießen. Und ich glaube, danach sehe ich mir das Cats-Video an. Oder vielleicht Das Phantom der Oper. Vermutlich beide, wenn ich nicht vorher einschlafe. Ich singe sicher ein wenig, wie immer, ich spiele ... du weißt schon.«
»Oookay.« Sie hörte sich an, ja, wie hörte sie sich an? Nachdenklich, aber nicht mitleidig. Das ist das Gute an meiner Freundin. Ihr Mangel an Mitleid. Das Leidtun-Syndrom, an dem meine Stiefmutter so sehr leidet – das tut weh. Richtig weh.
Mein Vorrat an Musicalvideos ist inzwischen ziemlich umfassend. Ich habe auch allerlei alte Raritäten finden können. Papa hatte zum Beispiel eine Originalaufnahme von Jesus Christ Superstar aus den sechziger Jahren. Er hat heimlich bei der ersten Vorstellung im Scandinavium mitgedreht. Einmal, als er in guter Laune war, ich glaube, er hatte gerade ein Wettangeln gewonnen, konnte ich sie ihm abschwatzen.
»Aber dann hast du ja ein volles Programm!«
Bei Lizzie hörte sich das an wie ganz normale Beschäftigungen an einem Mittsommerabend.
»Sicher, ich singe und esse abwechselnd. Die Oma von nebenan ist nicht da. Da kann ich so laut sein, wie ich will. Und du weißt ja, ich habe große stimmliche Reserven.«
Viel zu große, dachte ich. Meine Stimme war daran schuld, dass ich während der ganzen...