E-Book, Deutsch, 188 Seiten
Lyssewski Der Vulkan oder Die Heilige Irene
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95757-193-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 188 Seiten
ISBN: 978-3-95757-193-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dörte Lyssewski, geboren 1966 in Winsen, wurde als Schauspielerin bekannt. Nach zahlreichen Filmrollen und Engagements u. a. an der Schaubühne Berlin und am Schauspielhaus Zürich ist sie seit 2009 Ensemblemitglied des Wiener Burgtheaters. Sie erhielt viele Preise, zuletzt den Nestroy-Preis 2012. 'Der Vulkan oder Die Heilige Irene' ist ihre erste Buchveröffentlichung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1.
Noch vor zwanzig Jahren hatte es hier Schildkröten und Mantas, die gepanzerten und geflügelten Wächter der Bucht, gegeben. Der Motorenlärm der Boote hatte sie mit der Zeit vertrieben. Nun kamen nur noch von Zeit zu Zeit ein paar wenige, durch einfache Blutblasen angelockte Haie in die Kraterbucht, die von ein paar Freizeitfischern unter feigem Triumphgeheul sogleich getötet wurden. Eine Zeit lang vertrieben noch Schwärme riesenhafter Quallen die Menschen, indem sie ihnen, sobald sie ins Wasser drangen, die Leiber verätzten. Ansonsten war es unter Wasser ruhig geworden.
Der letzte Ausbruch des Vulkans lag ein halbes Jahrhundert zurück. Zuvor war er der Allesbestimmende gewesen, Jahrtausende hindurch eine Macht, Wucht und Dunkelheit verbreitend, dass selbst die fernen Gletscher im Norden ein Trauerflor überzog und die Eichen im irischen Hochmoor ihr Leben angesichts dieses vulkanischen Winters einstellten und aufhörten zu wachsen. Jahrhundertelang blieb die Insel verlassen.
Das Einzige, was jetzt noch zuweilen für ein wenig Unruhe auf dem mehrere hundert Meter tiefen, steil herabfallenden Meeresgrund sorgte, waren gelegentlich untergehende Schiffe, die ein paar Menschen mit sich in die Tiefe rissen, oder ein bei Sturm an den Felsen zerschellendes Fischerboot. Einmal gesellte sich sogar ein großes Passagierschiff dazu, das, wieder und wieder vom Kapitän mit Schwung auf die Felsen gerammt, hinabsank zu den dort bereits Versunkenen und den auf Felsvorsprüngen verborgenen, ausgedienten Bergwerken, die die langsam aus der Fähre schwebend herabsinkenden Passagiere noch mit einem erstaunten Blick streiften, bevor sie die Augen für immer schlossen. Seitdem waren ein Sommer und ein weiterer Winter vergangen und es schien schon wieder vergessen.
Hier konnten keine Menschen leben. Nicht mehr. Es gab nicht einmal ausreichend Trinkwasser. Einige wenige verfügten noch über Hausbrunnen. Der Bauch der Insel, dort, wo sie bewohnt wurde, war von riesigen Zisternen unterhöhlt. Für die eingeschleppte Tausendschaft von noch die Kargheit der Insel plündernden Reisenden wurde jeder Becher Wasser zum Waschen und Trinken mit Schiffen herangeschafft oder mühsam in kleinen Mengen entsalzt. Nicht nur das Wasser musste umständlich herantransportiert werden. Alles Überlebensnotwendige wurde am Hafen ausgeladen: Jeder Apfel, jede Kartoffel, sogar der Marmor, zum Bestatten der Toten und als Weggrund für die Füße der einfallenden Touristen. Jeder Stein, jeder Sack Zement zum Bauen eines Hauses, jeder Topf frischer Farbe. Die Insel war so verwüstet, dass es auf ihr kein Überleben gegeben hätte, würden nicht die Ebenen zersiedelt, Straßen gebaut, damit ein paar Tausend zahlende Reisende für wenige Stunden oder Tage herangefrachtet werden konnten, eine Normalität behauptend, die es so auf der Insel nicht mehr gab. Man baute sogar eigens eine Straße für ein Staatsoberhaupt aus einem fernen Land, das die Insel nur einmal befuhr und zufrieden wieder abreiste. Jetzt erinnerte nur noch ein verblichenes Schild, das vom ersten Stock des ausgedienten Hotels im Wind schwang, an das legendäre Defilee.
Selbst die Friedhöfe wirkten verwaist. Es gab nicht viele, die hier starben. Oft waren die Friedhöfe tagelang ohne einen einzigen Besucher. Selten sah man eine Frau oder einen dunkel gewandeten Mann ein neues Grab schmücken. Das waren die einzig frischen Blumen, die man dort fand, denen nur ein paar, durch den Wind angesiedelte Wildblumen beigesellt waren. Sonst gab es nur Kunstblumen in zylinderförmigen Marmorvasen oder künstliche Kränze, die um Kreuze oder um kleine Vitrinen geschlungen waren. Trotzdem herrschte keine Stille auf dem Friedhof. Die Toten schienen sich fortwährend zu regen. Ihre Ruhestätten waren am Kopfende mit kleinen Marmorkästen versehen, die mit einer Schiebeglasscheibe, durch die das Licht fallen konnte, verschlossen waren. Die Glasscheiben gaben den Gräbern das Aussehen von Schaufensterauslagen. Das Klappern der leicht im Wind hin und her schwankenden Glasscheiben in der Marmorrinne war das einzige Geräusch, das das unaufhörliche und immerwährende Sausen und Rauschen des Windes in Höhen und Tiefen begleitete. Jedes Grab machte Lärm. Es gab jeweils zwei dieser Kästen. Der eine befand sich mit der Rückseite zum Betrachter für den Ölvorrat, für Feuerzeuge und Streichhölzer und zum Beherbergen der Korkendochte. Im anderen, dem Hauptschrein, standen Fotos der Verstorbenen, umgeben von Heiligenfiguren, Ikonen, sowie einer beigefügten, figurierten Todesursache und der das Leben des Verstorbenen prägenden Lieblingsbeschäftigung, beide oft ein unfreiwilliges, tödliches Paar. Man konnte einen kleinen Fischkutter neben kleinen roten Blechspielzeugautos finden, die wie die Steckenpferde von kleinen Jungen wirkten. Mal waren da kleine, in einer Plastikschachtel untergebrachte Knöchelchen, nicht einmal so groß wie von Hand oder Fuß eines Kindes, mäuseknochenklein. Einmal ein Becher, mit silberner Alufolie kelchgleich umwickelt, auf dem dekorativ eine Zigarette lag. Das Gesicht auf dem nebenstehenden Foto vergnügt auf den nicht angezündeten Glimmstängel herablächelnd. Nur die in die Höhe gebauten Grüfte der reicheren Inselbewohner blieben verschlossen. Durch ein schmales Sichtgitter am Eingang sah man die in die marmorne Wand eingelassenen Klappen, in denen die Toten wie in Wandschränken ruhten, unter ein paar sorgsam und achtlos zugleich abgestellten Kisten, grellfarbenen Plastikeimern und Besen zum Säubern. In einigen aufgesprungenen, verwahrlosten und zerbrochenen Marmorgräbern fanden sich leere Flaschen, ausgeblichene Fetzten alter Kunstblumenkränze oder wüst herumliegender Marmorbruch alter Gräber und Kreuze.
Jeder, der auf der Insel geboren wurde, kehrte irgendwann zurück. Die Knochen von vielen, die die Insel verlassen hatten und ihr Leben, abgesehen von den hohen Feiertagen in der Osterzeit, in der Ferne verbracht hatten, wurden dem Brauch nach drei Jahre nach ihrem Tod zuletzt doch zurückgebracht und auf den weiß ummauerten Friedhöfen bestattet. Die Insel hatte sie zurück.
Nur wenige wurden hier alt. Die meisten holten der Krebs, das Herz und noch immer viele das Meer. Charons Barke war der immer wieder in den Kästen auftauchende Kutter. Zwischen den Gräbern standen und lagen lehnenlose, verrostete Eisenstühle, auf denen niemand, weder Lebender noch Toter, je sitzen würde.
An der Rückseite vieler Friedhöfe rankte wilder Wein, dessen reife Trauben bis auf die Erde hingen. Wurzeltiefe, schattenspendende Eukalyptusbäume mit ihren dichten Blätterfransen schmiegten ihre Stämme an die gekalkten Mauern, zu deren Füßen sich von Plastikflaschen und Autoreifen umgebene Wildfeigen, die niemand aberntete, gesellten, wilde Margeriten, Pistazien-und Kapernsträucher, und flinke Echsen, die, vom Schritt eines Besuchers erschreckt, ins Papyrusgras oder die dichten Distelgewächse flüchteten.
Jetzt, in der Hitze des Sommers vernahm man kaum Hundegebell, noch seltener Eselsgeschrei, so wie im kühleren Frühling, in dem die Tiere die Kraft hatten, ihre Stimme zu erheben. Die Hunde lagen erschöpft, ermattet, wie tot, in Mauerschatten oder flohen kurz, wie gejagt, zum nächsten Haus. Andere schleppten sich von Schattenplatz zu Schattenplatz und warteten müde auf den Herbst.
Früher wuchsen hier Wein und Tomaten, auch Weizen und Gerste hatte es gegeben, womit die Menschen ihr Brot buken. Nur die zahlreichen verwaisten Mühlen allerorts zeugten noch davon. Ebenso die runden, erhöht liegenden, steinernen Stätten auf den Feldern in der Nähe der alten Häuser. Mythisch anmutende, stillgelegte Dreschplätze, auf denen die Esel mit ihren weichen Hufen nebeneinander im Kreis gezogen waren und der Wind ihnen die Spreu von den Körnern getrennt hatte. Auch gab es Lilien und Lianen.
Nachdem all das verschwunden war, blieb nur der karge Körper der Insel mit seinem Zeugnis gebenden, mannigfaltigen Gestein nutzlos liegen. Da nahm man ihm auch dieses.
Ein kluger Mann, ein Ausländer, kam daher und stellte fest, dass ein bestimmter Stein, den der Vulkan aus dem Inneren der Erde emporgeschleudert hatte, sich als besonders wasserfest erwies. Die Folge war, dass ganze Landstriche und Küstenblöcke abgetragen wurden und seitdem der Insel ein ganzes Stück fehlte. Der Gerissene schaffte Millionen Tonnen des Materials mit Schiffen auf einen fernen und heißen Kontinent. Auch dort musste wieder jeder Becher Wasser, mit dem die Arbeiter ihren Durst löschen wollten, aufwendig herbeigeschafft werden. Der Mann ließ das Gestein zu dem Bett eines künstlichen Wasserweges verarbeiten, der zwei Meere miteinander verbinden sollte und dessen Bau die Kraft von Millionen Menschen und Tausenden von Kamelen verschlang, Tausende in die Flucht trieb, Hunderttausende hinwegraffte und auch ihn, den Eindringling strafte. Noch vor der feierlichen Eröffnung ereilte ihn ein plötzlicher Tod. Man einigte sich auf ein Nierenleiden, auch wenn er selbst in seinen schmerzerfüllten und durchwachten Nächten von etwas anderem, Unheimlicherem gesprochen hatte, dem niemand hatte Glauben...




