Macfarlane / Schalansky | Berge im Kopf | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 318 Seiten

Reihe: Naturkunden

Macfarlane / Schalansky Berge im Kopf

Die Geschichte einer Faszination
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7518-0207-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Die Geschichte einer Faszination

E-Book, Deutsch, 318 Seiten

Reihe: Naturkunden

ISBN: 978-3-7518-0207-9
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gipfel zu besteigen ist eine kulturelle Erfindung, die vor dreihundert Jahren begann und nicht nur spektakuläre Blicke in jähe Abgründe bot, sondern auch in die nicht minder schwindelerregende Vergangenheit der Erde. In der Romantik wandelten sich die Berge endgültig vom gemiedenen Ort des Schreckens zu einem der Anziehung. Die vermeintliche Heimat von Drachen wurde zum begehrten Ziel menschlichen - vor allem männlichen - Forscherdrangs. Ob Naturwissenschaftler oder Abenteurer, ob Philosophen oder Poeten, sie alle versprachen sich in den eisigen, sauerstoffarmen Höhen unvergleichliche Erfahrungen und Erkenntnisse, für die es sein Leben zu riskieren lohnt: der Sog von Macht und Angst, das Gefühl von Erhabenheit und das Erleben fragiler Schönheit. In seinem preisgekrönten Debüt, das ihn schlagartig bekannt machte, folgt Robert Macfarlane den Vorstellungswelten der bisweilen fatalen Faszination, die Auftürmungen von Granit-, Basalt- und Kalksteinschichten bis heute in Menschen auslösen, sodass sie nichts anderes mehr als Berge im Kopf haben. Wie kein Zweiter weiß Macfarlane, das eigene Erleben mit dem Gelesenen zu verbinden. Anschaulich und ebenso belesen wie lebendig verbindet er die eigenen Klettererfahrungen mit den Berichten legendärer Bergaufstiege, wie beispielsweise dem Versuch George Mallorys am Mount Everest, von dessen Höhen dieser 1924 nicht wiederkommen wird. Drei Jahre vor seinem Tod schreibt er an seine Frau Ruth: 'Der Everest hat die steilsten Grate und die furchtbarsten Abgründe, die ich je gesehen habe. Liebling - ich kann dir nicht beschreiben, wie sehr er von mir Besitz ergriffen hat.'

Robert Macfarlane, 1976 in Nottinghamshire geboren, lehrt Literaturwissenschaft in Cambridge, ist Essayist und Kritiker und gilt als wichtigster britischer Autor des Nature Writing. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bislang Karte der Wildnis, Alte Wege und Die verlorenen Wörter erschienen. Letzteres wurde mit dem BAMB Beautiful Book Award 2017 sowie als Hay Festival Book of the Year und als The Sunday Times Top Ten Bestseller ausgezeichnet.     Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum 'Schönsten deutschen Buch' gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.
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Weitere Infos & Material


1


BESESSENHEIT


»Ich dachte an die grenzenlose Leidenschaft, die Männer dazu bringt, beängstigende Aufstiege zu unternehmen. Nichts kann sie davon abhalten, […] ein Berg kann dieselbe unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben wie ein Abgrund.«

THÉOPHILE GAUTIER, 1868

Ich war zwölf Jahre alt, als ich im Haus meiner Großeltern im schottischen Hochland erstmals auf eine der großen Bergsteigergeschichten stieß: , ein Bericht über die britische Expedition von 1924, bei der George Mallory und Andrew Irvine in Gipfelnähe verschwanden.

Wir verbrachten den ganzen Sommer in diesem Haus. Mein Bruder und ich durften überall hingehen, außer in das Arbeitszimmer meines Großvaters, das sich am Ende des Flurs befand. Wenn wir Verstecken spielten, kroch ich oft in den großen Schrank in unserem Zimmer. Er roch stark nach Kampfer, und auf dem Schrankboden lagen überall Schuhe herum, sodass es schwierig war, aufrecht zu stehen. Auch der Pelzmantel meiner Großmutter hing darin; er war von einer Plastikfolie umhüllt, um die Motten fernzuhalten. Es war ein seltsames Gefühl, die Hand auszustrecken, um den weichen Pelz zu berühren, und stattdessen den glatten Kunststoff zu spüren.

Der schönste Raum im Haus war der Wintergarten, den meine Großeltern das Sonnenzimmer nannten. Der Boden war mit grauen Steinplatten ausgelegt und immer kalt; zwei seiner Wände waren riesige Fenster. An eines dieser Fenster hatten meine Großeltern den Umriss eines Habichts geklebt, den sie aus schwarzem Karton ausgeschnitten hatten, der kleinere Vögel abschrecken sollte. Aber regelmäßig flogen welche gegen das Fenster und starben, weil sie das Glas für Luft hielten.

Es war zwar Sommer, aber dennoch war das Innere des Hauses von der kalten, mineralischen Luft des Hochlands erfüllt, und jede Oberfläche, die man berührte, fühlte sich kühl an. Beim Essen lag das massive Silberbesteck, das aus der Anrichte hervorgeholt wurde, schwer und kalt in unseren Händen. Abends, wenn wir ins Bett gingen, waren die Laken eisig. Ich kroch so tief hinein wie möglich und zog mir die Bettdecke über den Kopf, um einen Hohlraum zu erzeugen. Darin atmete ich so tief ein und aus, wie ich konnte, bis ich das Bett aufgewärmt hatte.

Überall im Haus gab es Bücher. Mein Großvater hatte gar nicht versucht, sie zu ordnen, und so standen sehr unterschiedliche Bücher direkt nebeneinander. Den Platz auf einem kleinen Regal im Esszimmer teilten sich neben und auch die beiden ledergebundenen Bände von John Stuart Mills . Es gab mehrere Bücher über Russland, deren Titel ich nicht ganz verstand, und Dutzende über Entdeckungsreisen und Bergsteigen.

Eines Nachts konnte ich nicht schlafen und ging hinunter, um mir etwas zum Lesen zu holen. Auf einer Seite des Flurs lag ein hoher Stoß aus aufeinander gestapelten Büchern. Etwa aus der Mitte des Stapels zog ich mehr oder weniger zufällig einen großen grünen Band heraus, wie einen Ziegelstein aus einer Mauer, und ging damit ins Sonnenzimmer. Im hellen Mondlicht setzte ich mich auf die breite, steinerne Fensterbank und begann zu lesen.

Das eine oder andere darüber wusste ich schon von meinem Großvater, der mir von der Expedition erzählt hatte. Aber mit seinen ausführlichen Beschreibungen, den 24 Schwarz-Weiß-Bildern und den ausfaltbaren Landkarten, auf denen so exotische Namen wie Östlicher Rongbuk-Gletscher, Dzongpen von Shekar und Lhapka La verzeichnet waren, war das Buch doch um einiges beeindruckender als sein Bericht. Beim Lesen wurde ich davongetragen bis in den Himalaja. Bilder stürmten auf mich ein. Ich sah die endlosen Steinwüsten Tibets, die sich bis zu den weißen Bergen in der Ferne hinzogen; ich sah die dunkle Pyramide des Everest, die Sauerstoffflaschen auf den Rücken der Bergsteiger, die sie wie Taucher aussehen ließen. Ich sah die mächtigen Eiswände am Nordsattel, welche die Männer mithilfe von Fixseilen und Leitern überwanden wie mittelalterliche Soldaten die Festungsmauern einer feindlichen Stadt, und schließlich das mit Schlafsäcken in den Schnee gelegte schwarze T bei Lager IV, das den Bergsteigern in den unteren Lagern, die mit Fernrohren die Gipfelregion beobachteten, anzeigte, dass Mallory und Irvine verschollen waren.

Eine Stelle ergriff mich mehr als alle anderen. Es war jene, in der Noel Odell, der Geologe der Expedition, jenen Moment beschreibt, in dem er Mallory und Irvine zum letzten Mal sah:

Auf einmal lichtete sich der Nebel über mir und der Gipfel wurde klar. Auf einem Schneefelde unter der vorletzten Stufe zur Gipfelpyramide erspähte ich einen schwarzen Punkt, der sich der Felsenstufe näherte. Ein zweiter folgte, während der erste den Vorsprung erkletterte. Leider zog sich der Vorhang wieder zu …1

Immer wieder las ich diese Stelle und wünschte mir nichts sehnlicher, als einer dieser beiden winzigen Punkte zu sein und in der dünnen Luft ums Überleben zu kämpfen.

Das genügte – ich hatte mich dem Abenteuer verschrieben. In einem Anfall von Lesewut, wie er wegen der dafür erforderlichen Zeit nur in der Kindheit möglich ist, plünderte ich die Bibliothek meines Großvaters und hatte gegen Ende des Sommers etwa ein Dutzend der berühmtesten Expeditionsberichte von den Bergen der Welt und den beiden Polen gelesen, einschließlich der Leidensgeschichte von Apsley Cherry-Garrard in der Antarktis , John Hunts und Edward Whympers dramatischem Bericht von seinen .

Die kindliche Vorstellungskraft vertraut mehr als die von Erwachsenen darauf, dass eine Geschichte stimmt und alles tatsächlich so geschehen ist, wie es erzählt wird. Ein Kind kann sich auch besser einfühlen, und als ich diese Bücher las, erlebte ich das Geschehen intensiv mit, und als einer der Entdecker. Ich verbrachte mit ihnen die Abende in ihren Zelten und taute gefrorenen Pemmikan über einem Kocher auf, der mit Seehundfett betrieben wurde, während draußen der Wind pfiff. Ich zog meinen Schlitten durch hüfthohen Polarschnee. Ich stolperte über Schneeverwehungen, stürzte Rinnen hinab, kletterte über Grate und schritt auf Bergrücken aus. Von den Gipfeln der Berge blickte ich auf die Welt herab, als handele es sich dabei um eine Landkarte. Mindestens zehn Mal kam ich fast ums Leben.

Ich war fasziniert von den Entbehrungen, die diese Männer – denn es waren fast immer nur Männer – auf sich nahmen und aushielten. An den Polen war es so kalt, dass Weinbrand zu festem Eis gefror und die Zungen der Hunde an ihrem Fell kleben blieben, wenn sie versuchten, sich zu lecken. Auch die Bärte der Männer froren an ihren Jacken fest, wenn sie nach unten schauten. Bekleidung aus Wolle wurde durch die Kälte so steif wie Metall und musste mit einem Hammer weichgeklopft werden. In der Nacht mussten die Forschungsreisenden ihre beinhart gefrorenen Schlafsäcke aus Rentierfell zuerst mühsam Zentimeter für Zentimeter auftauen, bis sie hineinkriechen konnten. In den Bergen gab es Wechten, die wie waagrechte Wellen über die Gratkanten hinausragten, es gab die unsichtbaren Gefahren der Höhe sowie Lawinen und Schneestürme, welche die Welt in einem einzigen Augenblick in ein weißes Nichts verwandeln konnten.

Vorläufige Karte der Mount-Everest-Expedition von 1921

Abgesehen von Hillarys und Tenzings erfolgreicher Besteigung des Everest im Jahr 1953 und der Rettung der gesamten Crew von Ernest Shackleton im Jahr 1916 – nachdem Frank Worsley, der Kapitän der »Endurance«, seine unglaubliche Navigationskunst bewiesen hatte und die »James Caird«, das kleine Rettungsboot, 800 Meilen (1288 Kilometer) durch die stürmische See des südlichen Ozeans gesteuert hatte, um zusammen mit Shackleton einen Rettungstrupp für die zurückgebliebene Mannschaft der »Endurance« zu organisieren, woran Shackleton unerschütterlich festhielt, während das alte Europa wie Packeis auseinanderbrach – führten fast alle diese Geschichten zum Tod oder zu irgendeiner Form von Verstümmelung. Ich mochte diese grässlichen Details. In einigen der Pol-Abenteuer gab es kaum eine Seite, auf der nicht der Verlust eines Crewmitglieds oder eines Körperteils zu beklagen war. Zuweilen bedeutete Körperteil zwangsläufig Teammitglied. Auch Skorbut wütete unter den Entdeckern und führte dazu, dass das Fleisch sich auflöste und wie feuchter Biskuit von den Knochen fiel. Ein Mann litt so sehr daran, dass ihm am ganzen Körper das Blut aus den Poren quoll.

Da war aber noch etwas anderes an diesen Geschichten, was mich tief bewegte: die Schauplätze, an denen sie spielten. Die Kargheit der Landschaft, in der die Männer...


Robert Macfarlane, 1976 in Nottinghamshire geboren, lehrt Literaturwissenschaft in Cambridge, ist Essayist und Kritiker und gilt als wichtigster britischer Autor des Nature Writing. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bislang Karte der Wildnis, Alte Wege und Die verlorenen Wörter erschienen. Letzteres wurde mit dem BAMB Beautiful Book Award 2017 sowie als Hay Festival Book of the Year und als The Sunday Times Top Ten Bestseller ausgezeichnet.

Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum "Schönsten deutschen Buch" gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.



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