E-Book, Deutsch, 368 Seiten
MacNeal Planet der Insekten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8412-1990-9
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zu Besuch bei den wahren Herrschern der Erde
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1990-9
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
'So bezaubernd war Insektenkunde noch nie.' Nature Die Insekten verschwinden. Dabei hängt der Fortbestand des Planeten von ihnen ab. Sie bestäuben nicht nur unsere Pflanzen und sorgen für fruchtbare Böden - mit ihrer Hilfe wird auch Krebs und Welthunger der Kampf angesagt. Mit seinem fulminanten Ritt durch den Kosmos der Insekten hat David MacNeal den Sechsbeinern ein Denkmal gesetzt.
David MacNeal ist Wissenschaftsjournalist. Seine Artikel erscheinen u.a. in Wired, Arts Technica und VICE. Er lebt in Denver.
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1
Kuriositätenkabinett
Zwischen Sohos feinen Boutiquen versteckt sich vor aller Augen eine Tür mit leichenblassem Anstrich. Zuerst laufe ich daran vorbei und verpasse das Hausnummernschild »107 Spring« aus angelaufenem Messing. Ich studiere die Klingelbeschriftung, um die Mieter zu identifizieren, und entdecke schließlich den Namen Stevens. Darunter in Großbuchstaben, in der Schrifttype Baskerville: ENTOMOLOGE. Durch dickes Sicherheitsglas sehe ich eine dunkle, schlaksige Person die steile Treppe herunterkommen. Während sie sich nähert, erkenne ich, dass sie Cargoshorts mit Camouflagemuster trägt, dazu ein T-Shirt mit Tintenfisch-Aufdruck und Riemchensandalen. Es handelt sich um Lawrence Forcella oder kurz Lorenzo, der mich in diesen abgelegenen Teil von Lower Manhattan eingeladen hat. Der stylische Glatzkopf, der Bart, die Silberohrringe und sein Charisma erwecken den Eindruck eines modernen Genies – eine durchaus angemessene Assoziation, bedenkt man, was er täglich leistet. Ich erwähne dies, weil wir nach der Begrüßung hinaufgehen und einen etwa vierzig Quadratmeter großen Raum betreten, wo Lorenzo zusammen mit einer Handvoll Kunsthandwerkern toten Käfern Leben einhaucht.
»Wir behandeln jährlich Tausende von Insekten«, sagt er, während wir in der ehemaligen Wohnung an riesigen Setzkästen vorbeilaufen, die mit lebendig wirkenden Exemplaren gefüllt sind. Dieser Schrein der Biodiversität hat einen eingebauten Ekelfaktor. Umsichtige Tierpräparatoren – Insektenbestatter, die die Flügel der Insekten entfalten und ihre Fühler richten, als ob sie einen besseren Funkempfang ermöglichen wollten – bereiten Schmetterlinge, Tausendfüßer und Laubheuschrecken auf. An einem einzigen Tag haben sie mehr Kontakt mit Außenskelettkörpern als Sie und ich in unserem ganzen Leben.
Diese Abteilung gehört zum Evolution Store gleich gegenüber, einem Paradies für viktorianisch orientierte Naturkundler. Sie wollen den ganzen Lebenszyklus einer Fliege in Harz erwerben? Kein Problem. Sie suchen ein afrikanisches Penisfutteral? Welche Größe bitte? Die Klientel reicht von Zeitschriftenfotografen über Achtjährige, die hier ihr Geburtstagsgeld für einen menschlichen Schädel ausgeben, bis hin zu japanischen Geschäftsleuten, die brüsk auf Insekten deuten und gleich die ganze Charge kaufen. Und wenn Lorenzo gut auf sein Team aufpasst, dann blättern Naturenthusiasten wie der Regisseur James Cameron bis zu 10000 Dollar für einen Schaukasten voller Käfer auf den Tisch.
Dank Lorenzo hat der Evolution Store eine eigenständige Entomologieabteilung aufgebaut. Sechs Monate nach Geschäftseröffnung, im Jahr 1997, schlug er vor, selbst Insekten zu präparieren, statt die Arbeit nach außen zu vergeben. Lorenzo und sein Präparatorenteam arbeiteten nun hausintern. 2005 begann Damien Hirst, Tausende aufgespießter Schmetterlinge zu kaufen, um kaleidoskopische Mandalas in jeweils einem einzigen Farbton zu komponieren. Im selben Jahr bestellte Hirst rund 24000 Exemplare für seine Kompositionen im Stil von Buntglasfenstern. Hierfür wurden mindestens sechzehn Schmetterlingspräparatoren benötigt, die zusammen rund um die Uhr arbeiteten. Anweisungen, Kosten, Desinfektion und fällige Termine wurden in einem »Bug Log«, einem Insektenprotokoll, festgehalten.
Nach und nach verlagerten die Präparatoren ihre Arbeit in das Apartment des Eigentümers – wo ich mich gerade mit Lorenzo befinde. Irgendwann bestellte Hirst seine Schmetterlinge anderswo, um Kosten zu sparen, aber Evolution hat noch immer seine eigene Entomologieabteilung, mittlerweile seit zehn Jahren. Doch als Lorenzo mir für unsere geplante Lektion eine E-Mail mit Material zum Thema Insektenanatomie schickte, bedeutete er mir, dass die Abteilung aus Kostengründen bald geschlossen würde. Also buchte ich einen Flug. Ich wollte wissen, was genau ein Insekt1 ist.
***
Eine Präparatorin greift nach ihrer Stechkarte und stempelt sich aus, während Lorenzo das heutige Exemplar zum Nadeln vorbereitet. Die Dielen quietschen leise, als ich den schwach beleuchteten Raum durchquere. Neben der Tür stehen Metallkästen, die mit Plastikschubfächern in Schuhkartongröße bestückt sind. Sie enthalten unbearbeitetes Rohmaterial, sämtlich beschriftet mit taxonomischen Bezeichnungen wie ORTHOPTERA, PHASMATIDAE oder HOMOPTERA. Die Klassifikation wird in der Folge immer detaillierter, und ich möchte Sie wirklich nicht mit einer Terminologie langweilen, die sich wie Hogwarts Zaubersprüche anhört.2
In einer Dusche, die zu einer Art Abstellkammer umfunktioniert wurde, liegt eine zusammengerollte Yogamatte. Das Eis im Kühlschrank in der Küche wird gewöhnlich aus einem Getränkeladen besorgt, damit es nicht das Aroma der Kühlschrankbewohner annimmt, den Geschmack von toten Insekten. Lorenzo beugt sich über einen Arbeitsplatz, dessen Umgebung im Laufe der Jahre von den Vorlieben sehr unterschiedlicher Mitarbeiter geprägt wurde: der gekrümmte Fötus eines Außerirdischen in einem Glas, eine Insect-Warrior-Actionfigur von Funtastic, Langstroth-Wabenrähmchen mit verwaisten Honigwaben und eine Pestizidwerbung aus dem späten 19. Jahrhundert mit der Aufschrift »Quick Death«.
Unter einer kegelförmigen Lampe nimmt Lorenzo eine riesige Wasserwanze aus der Plastikschale, die ursprünglich eine Fertigmahlzeit enthielt, in der sie über Nacht eingeweicht wurde. Nicht größer als ein Kazoo, ist dieses braune, eiförmige Ding ursprünglich in einem Dorf in Thailand getrocknet, verpackt und versandt worden. Nun ist es biegsam und bereit, für den Verkauf aufbereitet zu werden. Zwanzig Jahre Arbeit für den Evolution Store haben Lorenzo mit dem Riecher eines Möbelfachverkäufers ausgestattet.
Er weiß, was einer kaufen will, bevor dieser es selbst weiß. Sammler schätzen die Attraktivität eines Insekts auf ganz unterschiedliche, meist ziemlich verschrobene Weise, weiß er, aber der Durchschnittskunde von Evolution geht nach Ästhetik. Liebst du Eiche oder stehst du auf Walnuss oder Mahagoni? Wie sieht deine Wohnung aus?
Jemand mit einem »ausgeprägten Sinn für Design« gefallen die wie mit indischer Tinte gezogenen Linien auf den champagnerfarbenen Flügeln eines Reispapierschmetterlings, wohingegen ein Kunde mit Tattoos und Nasenring eher an einer blutsaugenden Wasserwanze interessiert ist.
Für den Fall, dass die Glieder des heutigen Exemplars sich versteifen, hält Lorenzos Werkzeugkasten eine Spritze bereit, die er mit warmem Wasser füllt, um die jeweiligen Körperteile aufzuweichen. Er hat auch eine Rasierklinge zur Entfernung der Innereien parat und ein Schnupftabaklöffelchen, das er sehr praktisch findet, um allerlei klebriges Zeugs aus Vogelspinnenhintern zu kratzen. Aus den Lautsprechern seines Computers dröhnt die Riot Grrrl Band L7, ein Vorläufer des 80er-Grunge, berühmt dafür, benutzte Tampons ins Publikum zu pfeffern. »Ich bewundere ihren Schneid«, sagt Lorenzo nebenher, als er den Rücken der Wasserwanze mit Alkohol einreibt und mit einem Papiertuch Fettreste entfernt. »Sonst würde das Insekt aussehen, als hätte jemand es in Speiseöl getaucht.«
Für diejenigen, die noch nicht das Vergnügen hatten, eine zu treffen: Eine solche Wasserwanze ähnelt einer Kakerlake mit angespanntem Bizeps. Ihre Vorderbeine können zum Zupacken verwendet werden. Sie krallt sich an Fröschen oder anderen Wassertieren in Teichen und Bächen fest, manchmal auch an Füßen von Menschen – daher ihr Spitzname »Zehenbeißer». Weil New Yorker ihre Kakerlaken gerne als Wanzen bezeichnen, präpariert Lorenzo nun eine davon für unsere heutige Lektion, denn sie könnte sich während des Sommers gut verkaufen. »Besonders in New York City nennt man sie Wasserwanzen«, stellt er ein wenig aufgekratzt klar. »Ich glaube, die Leute möchten nicht daran erinnert werden, dass in ihren Apartments fette Kakerlaken leben. Wasserwanzen klingt hübscher, nehme ich an. Und die Leute in Florida nennen sie Palmettowanzen. A rose by any other name, wie es bei Shakespeare heißt …«
Mein Gastgeber ist wie viele Entomologen etwas versponnen. Menschen, die diesen Beruf ausüben, sind genauso absonderlich und vielfältig wie die Insekten, die sie studieren. Lorenzo gilt als besonders ausgefallenes Exemplar, weil er zu gleichen Teilen frech und charmant und im Gegensatz zu vielen anderen auf diesem Fachgebiet ein kompletter Autodidakt ist.
»Ich mache das nicht aus wissenschaftlichen Gründen«, sagt er. Die meisten Fachleute spezialisieren sich auf einen bestimmten Zweig der Entomologie. Ein medizinischer Entomologe findet vielleicht Möglichkeiten, Überträger von Krankheiten wie Malariamoskitos zu bekämpfen. Ein Agrarentomologe entdeckt natürliche Pestizide, die etwas gegen den Bergkiefernkäfer ausrichten können, der den Wald schädigt. »Meine Spezialität ist es«, sagt Lorenzo, »dass ich mich nicht spezialisiere.« Seine Leidenschaft geht über die Ökologie hinaus. Ihm hat es die Schönheit der Insekten angetan.
Seine Faszination begann, als er im Alter von vier Jahren in der Auffahrt seines Freundes in der Bronx einen toten Hirschkäfer fand, der so lang war wie seine Handfläche. »Eines der Erlebnisse, die sich für immer einbrennen.« Als er ihn später seiner Mutter brachte, zeigte sie ihm eine Schachtel, die einen Riesenkäfer enthielt, den sein Vater gesammelt hatte, als er auf einer Militärbasis in Virginia stationiert war. »Mir wurde klar, dass diese Dinger überall sind … von da an wollte ich jeden Käfer der Welt haben. Jedes Mal, wenn ich Käfer sah, bin ich einfach ausgeflippt.«
Über die Jahre blühte und gedieh seine...