E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Magén Zuversicht
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-423-43395-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-423-43395-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mira Magén, Anfang der fünfziger Jahre in Kfar Saba (Israel) geboren, blieb der orthodoxen, ostjüdisch geprägten Welt ihrer Kindheit bis heute verbunden, die Stationen ihrer Biographie verraten jedoch eine Revolte: Studium der Psychologie und Soziologie, Ehe und Kinder, alle fünf Jahre ein anderer Beruf - Lehrerin, Sekretärin, Krankenschwester und schließlich Schriftstellerin. Magén zählt neben Zeruya Shalev zu den bedeutendsten Autorinnen ihres Landes. Ihr Werk, das Romane und Erzählungen umfasst, wurde u.a. mit dem Preis des Premierministers 2005 ausgezeichnet. Mira Magén lebt in Jerusalem und hält viel beachtete Poetik-Vorlesungen, derzeit an der Hebräischen Universität Jerusalem.
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ERSTES KAPITEL
Der Himmel über Joninas Terrasse war leer, nur eine dünne Wolke, flach wie ein Taschentuch, glitt darüber, ich sagte zu ihr, schau sie an, allein im großen Blau, aber Jonina schaute nicht hoch. Sie hob die Augen nicht zum Himmel. Nicht, bevor sie mit dem fertig war, was sie auf der Erde zu erledigen hatte, denn was bringt es, wenn du nach oben schaust – kannst du dort wirklich die Zeichen des Sturms entdecken, der alles unten zerstören wird? Sie zupfte das Unkraut aus den Geranientöpfen, warf grünes Hundszahngras in den Hof, entfernte schweigend und voller Zorn trockene Blätter, lockerte die Erde um die Geranien mit ihren kräftigen Fingern und sagte, du bist noch keine neununddreißig, willst du wirklich dort hinziehen? Im Ernst? Sie hob einen erdverschmierten Finger zum Himmel und sagte, er hat dich verrückt gemacht.
Lass Gott in Ruhe, Jonina, er hat nichts damit zu tun, sagte ich.
Er hat dich fertiggemacht und soll nichts damit zu tun haben? Ich verstehe dich nicht.
Was gibt es da zu verstehen, nicht Gott, sondern ein willkürliches Aufeinanderkrachen von Metall hat mein Leben zerstört und mir drei Optionen hinterlassen, Friedhof, Irrenanstalt oder betreutes Wohnen, und ich habe die dritte Option gewählt.
Nicht Gott, wirklich nicht … Und dieses Wort , wo hast du das her? Das sind jedenfalls nicht die einzigen Optionen, Nava, mach dich nicht zum Narren.
Ich hörte nicht auf ihren Rat und ging hin, um mir zumindest einmal alles anzuschauen. Zwischen zwei hohen Palmen sah ich ein großes, verschlossenes Eisentor, darüber ein Schild ›Neve Techelet, Betreutes Wohnen‹, hoch über dem Tor wehten die Wipfel der Palmen, sie schlugen im Wind gegeneinander, und darüber spannte sich der unendliche blaue Himmel. Ich sagte, Hauptsache, man sieht den Himmel.
Dann rief ich an.
Sie fragten mich, geht es um Ihre Mutter, Ihren Vater? Um beide?
Um eine Frau, die es dringend braucht.
Ist sie klar im Kopf? Wir nehmen keine dementen Menschen auf.
Sie ist klar im Kopf.
Und so brachte ich an meinem neununddreißigsten Geburtstag zwei Koffer und einen Rucksack in die Wohnung Nr. 17, und seit einem Monat bin ich hier. Aus meinem Küchenfenster sieht man einen gepflegten Garten, genau wie aus den Fenstern der anderen Wohnungen, und in der Mitte einen Teich mit Goldfischen. So weit das Auge reicht, sieht man pedantisch angelegte Rosenbeete, hohe Kiefern, Trauerweiden und blau gestrichene Holzbänke und mit rosafarbenen Platten gepflasterte Wege. Die Gebäude umgeben den Garten wie im Quadrat. Einundfünfzig Wohnungen auf drei Gebäude verteilt, der vierte Bau beherbergt das vornehme Entree, den Speisesaal, Büros, eine Arztpraxis, den Fitnessraum und eine Synagoge. Meine Wohnung ist winzig klein, aber sie hat einen Balkon zum hinteren Hof, und Gott sei Dank kam niemand auf die Idee, den Hof mit rosafarbenen Platten zu pflastern, man lässt die Erde atmen, große Pappeln spenden Schatten, das Unkraut wächst je nach Jahreszeit, und alles keimt und welkt, wie die Natur es vorgibt. Mussa, der Gärtner, macht dort seine Mittagspause, er breitet einen kleinen Teppich aus, betet zu seinem Gott und tunkt sein Fladenbrot in Tahinisoße. Eine graue Steinmauer umschließt die Anlage und beschützt elf Witwer, einunddreißig Witwen, darunter mich, und vier Ehepaare, die das Schicksal noch nicht getrennt hat. Die Mauer ist übermannshoch, hält aber nicht die Geräusche des ungeschützten Lebens draußen ab – Hundegebell, Heulen, hemmungsloses Lachen, Sirenen von Krankenwagen, und ab und zu verzweifelte menschliche Schreie.
Man kann nicht sagen, dass sie sich hier über mich freuten, zwei Tage lang wunderten sie sich, weshalb ich hier bin, fragten sich, was ich mit ihnen zu tun habe, einige beäugten mich verstohlen, andere offen, und dann kümmerten sie sich wieder um sich selbst. Und wer in der Abenddämmerung auf den Bänken über mich tratschte, war, wenn es dunkel wurde, mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt und vergaß mich. Nur Tanja sagte zu mir, ich verstehe, dass du nicht zu deinem Vergnügen hierhergekommen bist, wenn du magst, an unserem Tisch gibt es noch einen freien Platz. Sie teilte sich den Tisch mit zwei anderen Frauen, der vierte Stuhl war noch frei. Ich setzte mich zu ihr, und als sie sich Karottensaft holte, brachte sie mir auch ein Glas.
Auch die Verwaltung reagierte skeptisch auf mich. Als ich mich anmeldete, musterte mich Tuvja, der Leiter der Anlage, von Kopf bis Fuß und drückte seine Verwunderung aus, ich werde ein Dorn im Auge der alten Bewohner sein, die Menschen fühlten sich wohl unter ihresgleichen, Sie werden auffallen, sagte er, er verstehe nicht, was ich an diesem Ort zu suchen hätte, aber das sei meine Sache, ihm sei nur daran gelegen, dass es den Bewohnern gut gehe, und seiner Meinung nach werde eine derart eindeutige Erinnerung an die verlorene Jugend ihnen nicht guttun. Man solle sie nicht zu Vergleichen zwingen und Neid wecken. Hören Sie, sagte ich, haben sie denn keine Töchter? Enkelinnen? Schwiegertöchter? Gehen sie nicht manchmal auf die Straße? Sehen sie keine jungen Frauen? Doch, sie gehen hinaus, sagte er, aber ihre Bezugspersonen sind die Bewohner des Heims, und hier leben eben ältere Menschen, und man vermischt sich nicht. Ich sagte, er solle nicht auf das Äußere achten, in vieler Hinsicht sei ich schon alt, das Leben habe mir ein Bein gestellt, und wie … Also wirklich, in diesem Monat sind drei Leute gestorben, Sie haben drei freie Wohneinheiten, das weiß ich … Nach vielem Hin und Her unterschrieben wir den Vertrag, in dem stand, dass er jederzeit das Recht habe, meine Mitgliedschaft binnen Monatsfrist zu kündigen, sollten sich wegen des Altersunterschieds zwischen mir und den anderen Bewohnern Schwierigkeiten ergeben.
Mittags klopfte es leise an meine Wohnungstür. Ich öffnete sie einen Spaltbreit, Jecheskel aus der Wohnung Nr. 19 lehnte am Türstock und fragte, bitte, darf ich eintreten? Ich machte die Tür weit auf, er schob sein mageres Gerippe herein, stocherte mit seinem Stock in dem dicken Teppich und fragte, ob er sich setzen dürfe, und bevor ich ja oder nein sagen konnte, ließ er sich schon in den Sessel fallen, klemmte seinen Stock zwischen die Knie und hielt ihn mit beiden Händen, er atmete schwer, schwitzte, sank unter dem Buckel zusammen, der ihm zwischen den Schultern wuchs, schob das schlaffe Doppelkinn vor und schaute mich an. Ich stand vor ihm, die Arme ausgestreckt hielt ich mich an der schmalen Marmorplatte fest, die die Küche vom Wohnbereich trennt. Ich war barfuß, die Schuhe hatte ich abgestreift, ich hatte noch das lilafarbene Kleid an, das ich während der Arbeit trug. Das Gesicht des alten Mannes sah aus, als hätte man ein Grillgitter daraufgelegt, um die Falten einzuritzen, der Schweiß rann ihm durch die senkrechten Kerben, das Neonlicht oberhalb des Spülbeckens fiel ihm in die Augen und ließ sie blasser aussehen. Die schwarze Kipa, die er trug, rutschte ihm übers Ohr, er löste die rechte Hand vom Stock, rückte die Kipa in die Mitte und legte die Hand wieder auf den Knauf, als wäre er ein rettender Anker.
Möchten Sie etwas trinken? Mit der Frage, weshalb er zu mir gekommen war, hielt ich mich zurück. Ich hoffte nur, er würde bald wieder normal atmen und zu sich kommen, dann um eine Zitrone oder Zucker bitten, aufstehen und gehen.
Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich, Frau Nava? Er atmete noch immer schwer, und seine Unterlippe zitterte, aber er wartete nicht ab, bis seine Atmung sich beruhigt hatte, und sagte, ich bin schon seit dreißig Jahren Witwer, und ich spüre, wie soll ich es sagen, dass das Ende naht. Das ist in Ordnung, ich mache Gott keine Vorwürfe, er will es so. Er hat für mich auch die dreißig Jahre ohne meine Frau gewollt, aber wie gesagt, ich beschwere mich nicht, der Herr gibt und der Herr nimmt, nicht nur von mir, von allen. Nachdem sie gestorben war, gab es einige Versuche da und dort, man hat mich mal mit dieser, mal mit jener Frau bekannt gemacht, aber das hat nicht geklappt, das war nicht das Richtige. Letztlich bin ich schon dreißig Jahre lang allein.
Auch meine Mutter war dreißig Jahre lang allein, hätten Sie sie kennengelernt, wäre es vielleicht anders gekommen … Nichts wäre anders gekommen. Meine Mutter hätte keinen anderen Mann in die Schuhe meines Vaters gelassen, auch wenn man ihr ein Messer an den Hals gehalten hätte. In ihrem ganzen Witwendasein zehrte sie von der zerbrochenen Leere, die er hinterlassen hatte, sie kratzte in den Scherben, und ihr Hauptinteresse am Leben war der Tod. Sie kaufte Blumen, um zu sehen, wie sie welkten, abonnierte eine Tageszeitung, um regelmäßig die Todesanzeigen zu studieren, und wenn sie im Garten eine Rosenknospe sah, sagte sie, was hat sie von ihrer Schönheit, in zwei Tagen ist sie welk.
Und, hat sie jemanden gefunden? Ist sie verheiratet? Seine Stimme war flach, desinteressiert und ungeduldig.
Sie ist gestorben. Sie hat niemanden gefunden.
Nun, was soll man schon über Vergangenes reden, was war, das war. Ich, Frau Nava, bin wegen aktueller Dinge gekommen, und ich will nicht lange drum herumreden und Ihnen direkt sagen, weshalb ich hier bin. In meinem ganzen Leben hatte ich keine andere Frau als meine eigene, ich bin ein gottesfürchtiger Jude, ich bin nie zu einer fremden Frau gegangen, nie habe ich für den Trieb Geld bezahlt … Na ja, Sie verstehen schon. Seit dem Tod meiner Frau, seligen Angedenkens, seit dreißig Jahren habe ich keinen Frauenkörper gesehen, meiner Meinung nach das Schönste, das Gott, gelobt sei er, erschaffen hat, und jetzt, da meine Tage gezählt sind, sagte ich mir, ich möchte...