Magnan Tod in Bronze
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-10-560488-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 1, 256 Seiten
Reihe: Laviolette ermittelt in der Provence
ISBN: 978-3-10-560488-5
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pierre Magnan (1922-2012) war ein französischer Schriftsteller, der vor allem durch die Figur des Commissaire Laviolette bekannt wurde. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, von denen mehrere in Frankreich und anderen Ländern preisgekrönt sind, in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt wurden.
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~ 1 ~
PATERNE LAFAURIE spritzte seine Apfelbäume mit der für die Winterzeit reservierten Pestizidmischung. Der feine, zart irisierende Regen verteilte sich auf den beschnittenen Ästen und auf dem spärlichen, vom Unkrautvertilger verschonten Gras. Er rann auch über den plastikbeschichteten Kapuzenanzug, der den Fahrer vor dem gefährlichen Nass schützen sollte.
Diese Verkleidung trug er seiner alten Mutter zuliebe, aber so weit, dass er auch eine Gesichtsmaske getragen hätte, ging er nicht. Denn er war Kettenraucher, und wie sollte man rauchen, wenn man schon einen Filter vor dem Mund hatte? Im Übrigen glaubte er nicht an die Legende von den Pestiziden. Seine Nachbarn waren vorsichtig und wagten es selten, die vorgeschriebenen Mengen zu überschreiten. Er selbst erhöhte sie grundsätzlich um zwanzig Prozent.
Paterne Lafaurie war von Natur aus aufbrausend. Aber an jenem Tag war sein Gesicht dauerhaft verzerrt vor Wut. Und es gab auch Anlass dazu … Zunächst einmal hatte sich der Wind, der bislang Ruhe gegeben hatte, mitten in der etwa zweihundertfünfzig Meter langen Baumreihe eingemischt. Er blies voll aus Süden. Die Sprühwolke vor dem Traktor umhüllte auf einmal den Fahrer, legte sich wie Nieselregen auf sein Gesicht. Bei jedem Zug aus seiner Zigarette nahm er auch einen kräftigen Schluck des wohl dosierten Cocktails zu sich, mit dem er den Spritzbehälter gefüllt hatte.
Als ob das noch nicht genug wäre: Kaum war er am oberen Ende der Baumreihe angelangt, hatte er Jean-Lucs Auto erspäht, das schlecht geparkt an der Böschung stand. Dieser Faulpelz, Sohn eines angeblichen Biobauern, scharwenzelte um Léone, seine Tochter herum.
Und damit war es noch immer nicht getan: Er hatte alles stehen und liegen lassen und seine nordafrikanischen Tagelöhner anbrüllen müssen, die das Beschneiden unterbrochen hatten, um sich an einem Feuerchen aufzuwärmen. Bei dem Stundenlohn! Nein, das Bauerndasein war nicht beneidenswert, gewiss nicht! Zumal er, nachdem er Gift und Galle gespuckt und wütend den Weg zurück zum Traktor angetreten hatte, ganz deutlich zu sehen glaubte, dass hinter dem Gewirr der Äste eine Gestalt mit rotem Motorradhelm davoneilte. Doch das musste Einbildung gewesen sein. Dass man ihn so aus der Nähe, zu Hause gewissermaßen, provozierte, das konnte einfach nicht sein … Zum Glück würde das alles bald ganz anders, alle Schwierigkeiten würden wie weggefegt sein, freundlichere Aussichten würden ihm winken, das Leben würde ihm Revanche bieten.
Aber der Gedanke stimmte ihn nicht fröhlicher. Verbissen grübelte er weiter über all die Widrigkeiten, die wie geschaffen waren, um seine Wut und seine zweihundertzwanzig Blutdruck aufrechtzuerhalten.
Er warf seine Zigarettenkippe weg und schaltete auf Selbststeuerung, womit er die Hände frei hatte, während der Traktor weiter geradeaus fuhr. Er wühlte in seinen Innentaschen, schob sich endlich eine neue Zigarette zwischen die giftfeuchten Lippen. Die Flüssigkeit hatte heute einen merkwürdigen Geschmack. Am Ende der Apfelbaumreihe, weit vor ihm, begrenzte die Mauer der Strohscheune seinen Blick. Auf einmal kam ihm diese Mauer näher vor als sonst. Die Luft schien ihm plötzlich stickig. Er riss den Mund auf wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Zigarette fiel ihm auf den triefenden Schutzanzug.
Der Traktor fuhr brav geradeaus weiter. Unbeirrt seine Giftwolke ausspuckend, ließ er die Baumreihe hinter sich, überquerte den Dreschplatz vor den Wirtschaftsgebäuden. Er rammte einen Riesenstapel Apfelkisten, die am Abend zuvor aus dem Kühlraum herausgenommen worden waren. Sie warteten darauf, zur Mülldeponie gebracht zu werden; dort würde man sie mit Dieselöl übergießen und verbrennen. Die Pumpe des Traktors war noch immer in Betrieb und setzte die gesamten Apfelkisten unter Giftflüssigkeit. Ein Pfau, der gerade sein Rad schlug, wurde in einen aschgrauen Totenvogel verwandelt und begann herzzerreißend zu schreien.
In seiner Irrfahrt rammte der Traktor nun auch einen Berg leerer, grün angestrichener Giftfässer, die mit Weltuntergangsgetöse auseinander kullerten. Schließlich landete er in den Strohballen, die vor der Scheune aus Wellblech aufgebaut waren.
An dieser Stelle, beziehungsweise dahinter, waren Léone und Jean-Luc gerade dabei, sich miteinander zu vergnügen. Der Wall aus Stohballen öffnete sich vor ihnen und brach auseinander. Sie sahen direkt auf die Schnauze des Traktors, dessen Motor nun abgewürgt wurde. Sie sahen Paterne Lafaurie in einem Heiligenschein aus Kupfervitriol, den die von hinten scheinende Sonne in einen Strahlenkranz verwandelte. Das für ihre momentane Tätigkeit günstige Schatteneckchen war nun in Licht getaucht. Hilflos knieten sie da, halb nackt, den Hintern an der Luft, die Augen weit aufgerissen.
«Scheiße! Mein Vater!», rief Léone.
«Wenn ich dich je mit Jean-Luc oder einem andern im Stroh erwische, dann kriegst du Dresche!», hatte er ihr angekündigt. Kaum fielen ihr die drohenden Worte des Vaters ein, da war Léone wieder bei klarem Verstand. Jean-Luc machte sich so klein wie möglich in seiner Ecke; er versuchte, seine Kleider in Ordnung zu bringen und den Anschein zu wahren.
Starr beäugten sie Paternes giftüberströmtes Gesicht unter der Kapuze; ein böses Grinsen verzog ihm die Wangen bis hinauf zu der Stirn mit den unerbittlichen Falten. Dann erst entdeckten sie, dass er ganz langsam zur Seite glitt, dass seine Augen glasig waren.
«Scheiße! Er ist tot!», rief Léone ungläubig.
«Der Aprikosenbaum blüht!», schrie Jean-Luc.
«Halt die Klappe, Idiot! Und hau ab! Schnell, hau ab!»
Sekundenschnell wurde ihr ihre neue Situation klar.
Ein Vater, auch wenn er kein guter Vater war, bedeutete ein Dach über dem Kopf. Und das war soeben davongeflogen. Wer würde von nun an den Boden um die Apfelbäume pflügen? Wer würde die harten Verhandlungen mit den Großeinkäufern führen? Wer würde sich gegen die anzugtragenden Herren vom Crédit Agricole durchsetzen? Léone ging das Bild ihrer Mutter durch den Kopf: eine blonde, elegante Frau, die ihr Leben damit verbrachte, Autotüren zuzuschlagen. Sie kam, sie ging. Die übrige Zeit verbrachte sie mit allerlei Kursen, Körpersprache oder Ausdruckstanz, wenn es nicht gerade transzendentale Meditation war. «Zu nichts zu gebrauchen», fasste Léone ihre Meinung zusammen. Und der Onkel! Der Onkel! Léone lief es kalt den Rücken hinunter. Der Onkel würde antanzen: ein Abklatsch seines Bruders, unersättlich, ein Mann, der dreihundert Hektar besaß und der gierig genug gewesen wäre, noch mal so viel zu schlucken.
«Mistkerl!», zischte Léone.
«Der Aprikosenbaum blüht!», wiederholte Jean-Luc, der mit weit geblähten Nasenflügeln noch immer dakauerte und die Leiche nicht aus den Augen ließ.
Mit großer Entschlossenheit rückte Léone ihre Brüste in den Büstenhalter. Mit dem Ellbogen schob sie Jean-Luc beiseite, als hätte sie ihn nie gekannt.
«Pack dein Zeugs zusammen und zieh Leine», flüsterte sie. «Ich kann keinen Skandal gebrauchen.»
Sie beobachtete, wie er sich am Bewässerungskanal entlang davonmachte. Als er verschwunden war, durchwühlte sie sich das Haar, und erst dann begann sie, laut schreiend ihrer Verzweiflung Ausdruck zu geben, wie es eine Tochter tut, die gerade ihren Vater verloren hat.
Mit sechzig Stundenkilometern, wie es sich für diejenigen gehört, die mit gutem Beispiel vorangehen müssen, tuckerte Laviolettes Auto von Volx nach Manosque. Neben ihm saß Untersuchungsrichter Chabrand und starrte auf die Fahrbahn.
Sie waren noch ganz benommen vom sonderbaren Ausgang des Rätsels von Ganagobie, das sie gerade gelöst hatten.[1]
Hinter ihnen fanden sich fünfzig Fahrzeuge wohl oder übel mit diesem majestätischen Tempo ab.
«Äpfel!», sagte der Richter plötzlich. «Hier gibt es Äpfel zu kaufen. Schauen Sie doch mal!»
Am Straßenrand sah Laviolette ein Schild: «Äpfel zu verkaufen». Ein Sack Obst lehnte an einer alten Holzkiste, aber der Verkaufsstand, der aus zwei Holzböcken bestand, war unbesetzt.
«Sie sehen doch, dass da niemand ist!», antwortete er dem Richter.
«Egal», sagte Chabrand. «Ich brauche Apfel. Biegen Sie in diesen Weg da ein, rechts. Der führt bestimmt zum Bauernhof …»
«Moment! Erst mal langsamer fahren, den Blinker einstellen, und strecken Sie doch bitte sehr den Arm waagerecht nach außen. So, ja! Und bewegen Sie ihn auf und ab!»
Der Richter zuckte die Schultern.
«Glauben Sie nicht, dass der Blinker genügt?»
Nun holperte der Wagen über einen jener landwirtschaftlichen Zufahrtswege, auf denen die Traktoren tiefe Spurrillen hinterlassen haben.
«Was macht denn der da?», fragte Chabrand.
Ein langer, hagerer Bursche lief über ein brachliegendes Feld. Der Richter schaute ihm nach und sah, wie er sich in einen roten Wagen schwang und losfuhr.
«Warum, zum Teufel, diese plötzliche Lust auf Äpfel?», fragte Laviolette.
«Nicht plötzlich», antwortete der Richter, «vernünftig! Mein Vorrat ist aufgebraucht, und Sie wissen doch, nach meiner Hepatitis …»
«Ach ja, stimmt», brummelte Laviolette. «Ihre Hepatitis!»
Er sah ihn von der Seite an. Die Gesichtsfarbe des Richters erinnerte ihn in der Tat an jene Quitten, die im Dezember auf irgendeinem ländlichen Kaminsims allmählich von Grün nach Gelb wechseln.
«Vorsicht!», rief der Richter und packte Laviolette am Arm. «Sie fahren sie gleich um!»
Ein blondes, zerzaustes Mädchen von etwa achtzehn Jahren rannte auf sie zu, so schnell wie ihre robusten Beine sie trugen.
Sie sank dem Richter in die Arme, der wie auf Kommando gerade...




