E-Book, Deutsch, 264 Seiten
Malhus / Wolf Mitternachtsgeschichten
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7578-7025-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
zwischen Gestern und Morgen
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-7578-7025-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wenn Dunkelheit die Welt zudeckt, wenn die Schatten tiefer und die Lichter heller werden, wenn die Uhren einen kleinen Moment lang den Atem anhalten: dann ist Mitternacht. Ein Augenblick zwischen Gestern und Morgen, der zu kurz ist, um ein Heute zu sein. Ein Übergang, an dem alles passieren kann. Ob Geistererscheinungen, Wandlungen, Verbrechen oder heroische Taten. In 23 Beiträgen erzählen die Autor*innen von diesem Moment, in dem sich die Welt ändern kann. Oder die Uhren einfach weiterticken.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Dani Aquitaine
Mitternachts-Gin
»Mist.« Ich starrte in den Kühlschrank. Hatte ich den Rotwein gestern wirklich geleert? Zwei Tatsachen sprachen dafür: Zum einen, dass die Flasche verschwunden war, zum anderen, dass ich mich nicht daran erinnerte. Auf dem Tisch hinter mir bimmelte das Handy. Genervt warf ich die Kühlschranktür zu. Heute Abend würde ich es ausnahmsweise ohne alkoholische Unterstützung schaffen müssen, das öde Gutachten meines Chefs in ein ansprechendes Exposé zu verwandeln. Ich hatte Ingenieurwissenschaften studiert und der einzige Grund, warum ich mir diese fade Arbeit freiwillig antat, war, dass Chef Brickmann in anderthalb Jahren in den Ruhestand abtauchen würde. Ich rechnete mir gute Chancen aus, seinen Posten zu übernehmen. Seufzend ließ ich mich auf den Küchenstuhl fallen. Ich ignorierte das Verlangen nach Wein und sortierte die Unterlagen. Die Messenger pfiffen beharrlich. Simone: Müssen Mamas Hecke schneiden, die Gemeinde will so einen Fuzzi schicken, der einer Beschwerde von ein paar Kampfradlern nachgeht. Die bleiben angeblich an den Ästen hängen. Etwas Wein würde jetzt echt helfen. Mit zusammengebissenen Zähnen tippte ich an der Projektbeschreibung herum. Susi: Ich muss schon am Freitag aus der Wohnung raus. Du bist meine letzte Hoffnung. Mai: Nicht vergessen – morgen Teamevent. Denk an die Salate! Die Sucht zerrte penetrant an meinen Armmuskeln, floss in meine Finger hinein, die Brickmanns Text verkrampft in die Tastatur paraphrasierten. Ich stellte das Handy lautlos. Vibrationen erschütterten die Tischplatte, bis ich nachgab. Tom: Kann ich dir meine Masterarbeit schicken? Wegen Kommas und so? Brauchte die Arbeit morgen zurück. Simone: Und der Versicherungstyp sagt, Mamas Rente wird hinten und vorne nicht reichen. Müssen was tun, aber kenne mich null aus. Meld dich mal. Ich vergrub das Gesicht in den Händen, atmete tief durch. Es half nichts. Nicht heute. Ruckartig erhob ich mich und stieg in den Keller hinab. Mein Vermieter war ein netter, älterer Herr, deswegen hatte ich ein schlechtes Gewissen, bei ihm einzubrechen. Wobei »einbrechen« das falsche Wort war. Er wohnte im Vorderhaus, ich im betagten Rückgebäude, und die Keller waren miteinander verbunden. Ich verschob nur den Schuhschrank, schon konnte ich die Tür zu Herrn Webers Untergeschoss öffnen – und stand direkt vor seinem Weinregal. Stachelbeersirup, Spinnweben, Staub und Schlieren vertrockneten Sherrys. »Mist.« Doch halt! Ganz unten lag eine bauchige Flasche mit einer goldenen Schleife. »Honig-Gin« las ich auf dem vergilbten Etikett. Vielleicht ein vergessenes Geschenk? Womöglich noch genießbar? Wenn er den Gin hätte trinken wollen, hätte er es schon längst getan, beschwatzte die Sucht mein schlechtes Gewissen. Ich ersetze ihn durch etwas Besseres. Wie utopisch mein Vorhaben war, begriff ich erst, als ich die Flasche auf dem Küchentisch öffnete. Mit einem saftigen Schmatzen löste sich der Korken. Regenbogenbunter Rauch und Glitzer schossen aus dem Flaschenhals wie ein Tischfeuerwerk. Hustend sprang ich zurück, raffte Laptop und Unterlagen an mich und riss das Fenster auf. Was zur Hölle war das für ein Partygeschenk! Gut, dass ich den Gin an mich genommen hatte, der alte Weber hätte bei dem Spektakel einen Herzinfarkt bekommen! Als sich der Rauch verzogen hatte, saß am Küchentisch eine Gestalt, die ... interessant aussah. Eine Mischung aus Biene und Dragqueen. Viele Streifen und funkelndes Make-up. Lange honiggelbe Fingernägel klackerten am Glas, als mein Gast eine goldene Flüssigkeit aus der Ginflasche in zwei Schnapsgläser schenkte, die ich definitiv nicht hingestellt hatte. Er zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber. »Setz dich.« Perplex folgte ich der Anweisung, ohne einen Ton herauszubringen. Mein Smartphone vibrierte hartnäckig in dem Stapel Bürokram, den ich an die Brust gedrückt hielt. »Ich bin not amused. Ich hatte mich auf ein paar entspannte Jahrzehnte in Webers Keller eingestellt, und jetzt kommst du und stiehlst den Gin.« Ich öffnete den Mund. »Woher ...« »Aus der Flasche«, leierte er, so als hätte er das schon zu oft erklären müssen. »Ich bin ein Dschinn. Ein Gin-Dschinn.« Fingerlange Wimpern flatterten. »Kannst mich Jim nennen.« Mit zitternden Händen legte ich die Unterlagen zurück auf die Tischplatte. Ich musste mich an dem Qualm vergiftet haben. Ich war tot. Oder war es eine Art Drogendampf gewesen? Dann war ich vielleicht nur high. Oder der Typ war ein schizophrener Nerd, der bei mir eingestiegen war, während ich den Keller nach Alkohol durchforstet hatte. Ja. Ja, das schien mir am plausibelsten. »Trink nur«, nickte Jim. Ich hatte mal gelesen, dass man bei Psychosen am besten mitspielen sollte, also griff ich zumindest nach dem Glas. Meine Lust auf Alkohol hatte sich jedoch schlagartig verflüchtigt. »Und jetzt habe ich drei Wünsche frei?«, schauspielerte ich. »Einen!«, verbesserte der Gin-Dschinn eilig. »Und wünsch dir bitte keinen Scheiß.« Er schüttelte den Kopf, dass die handtellergroßen Creolen nur so klingelten. »Die Leute wünschen sich immer Scheiß. Du machst dir keine Begriffe, was ich schon durchmachen musste.« Er kippte den Schnaps und fasste den Papierstapel ins Auge. »Hast du da eine Blaue Holzbiene drunter eingeklemmt oder terrorisiert dich dein Kommunikator?« Ich hob das vibrierende Smartphone hoch. »Nur mein Chef, meine Schwester und ein paar Freunde.« Mein Gast wedelte mit den Händen. »Nur zu, geh ran, Herzchen.« »Auf keinen Fall!« »Warum?« Energisch drückte ich den Anruf weg. »Ich hab keine Zeit. Ich muss etwas fertigarbeiten, es geht auf Mitternacht zu und ich hab einen anstrengenden Tag vor mir. Ich wünschte echt –« »Vorsicht!«, flötete Jim dazwischen. Ich atmete aus. »Ich muss jetzt weitermachen. Du kennst den Weg zur Tür?« Mein Gast verschränkte die Arme. »Ich will nicht zur Tür.« Sein süßlicher Tonfall war verschwunden. »Bestenfalls will ich in die Flasche zurück. Dazu ist es aber nötig, dass du einen vernünftigen Wunsch äußerst, der nicht die gesamte Menschheit in Schieflage bringt«, raunzte er. »Das ist dein Ernst, oder?« Mit hängenden Armen starrte ich mein schillerndes Gegenüber an. »Na gut. Wenn du dann verschwindest.« Mein Handy hatte wieder zu summen begonnen. Ich wusste genau, was ich mir von Herzen wünschte, obgleich ich dem psychotischen Möchtegern-Dschinn natürlich kein Wort glaubte. Erschöpft stieß ich aus: »Ich wünsche mir einfach meine Ruhe.« Jim kratzte sich ausgiebig am Adamsapfel und schürzte die goldglänzenden Lippen. »Hm, ja. Ja, das könnte gehen«, murmelte er und zog eine Taschenuhr aus dem Dekolleté. »Punkt Mitternacht. Perfekt.« Er grinste mich mit schimmernden Zähnen an. »Dein Wunsch sei mir Befehl. Ruhe für dich. Ab ... jetzt! Buona notte, Herzchen.« Er klatschte zweimal in die Hände – und verschwand mit dem gleichen Glitzerspektakel, mit dem er aufgetaucht war. Nur die Flasche schwankte leicht. Ich weiß nicht, ob es an den Spezialeffekten lag, dass mir plötzlich ein mulmiges Gefühl auf den Magen drückte. Immerhin lag das Smartphone nun ganz ruhig auf meiner Handfläche. Es zeigte 0:00 Uhr. Gefühlt eine Stunde später zeigten alle Uhren unverändert Mitternacht und ich gab es auf, mich mit Brickmanns Exposé herumzuplagen. Die Lampen, der Toaster und das Internet funktionierten, doch niemand schrieb über die seltsamen Vorkommnisse. Es war sogar so, dass keiner irgendwas schrieb. Ich schwang mich aufs Fahrrad und fuhr die stille Allee bis zur Hauptstraße hinunter. Dort wurde mir klar, dass in dem Dampf aus der Honig-Gin-Flasche wirklich üble Halluzinogene schwimmen mussten. Ein paar Autos warteten lautlos vor der grünen Ampel. Ein Taxifahrgast war in der Bewegung des Einsteigens eingefroren. Und der Dackel neben mir im Grünstreifen hörte nicht auf, sich an den Stamm einer Linde zu erleichtern. Das dachte ich zumindest, bis ich begriff: Die Zeit stand still. Die Welt stand still. Das Hundepipi stand still. Benommen radelte ich durch die geräuschlose Stadt, sah ein in der Luft erstarrtes Rotkehlchen und eine Inline-Skaterin, die, Arme und ein Bein weit von sich gestreckt, im Begriff war zu stürzen. Doch sie fiel nicht. Die Gedanken in meinem erschöpften Gehirn rotierten, suchten verzweifelt eine Erklärung, die ich längst hatte. Mit zitternden Gliedern stieg ich ab, warf das Fahrrad von mir. Ich drehte mich um die eigene Achse, schrie in die ohrenbetäubende Stille der endlosen Nacht. Niemand antwortete. Ich war allein. Halb euphorisch, halb...




