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E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Mamet Chicago
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-95967-792-9
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-95967-792-9
Verlag: HarperCollins
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Chicago in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts: Gangs kontrollieren die gesamte Stadt und liefern sich erbitterte Kämpfe um ihr Territorium. Mittendrin Mike Hodge, Lokalreporter der Chicago Tribune. Wobei Mike vortrefflich darüber streiten könnte, ob die größeren Ganoven nicht doch im Rathaus oder bei der Polizei sitzen. Er weiß viel und hat sich mit allen Mächtigen bereits angelegt. Als seine Geliebte Annie vor seinen Augen ermordet wird, ist ihm klar, dass ihm dadurch eine Lektion erteilt werden soll. Aber von wem? Mike schwört, Annies Tod zu rächen. Und so begibt er sich auf Spurensuche in der Chicagoer Unterwelt ...
'Die in sich gebrochenen, sich selbst rasant dynamisierenden Dialoge sind einfach großartig. (...) Mamet kann so wie ein James Lee Burke 'mit dem Ohr' schreiben: äußert präzis, extrem naturalistisch.' Buchkultur
David Mamet ist Dramatiker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur. Seine Drehbücher für The Verdict - Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sowie Wag the Dog - Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt wurden für den Oscar nominiert. Für sein Theaterstück Glengarry Glen Ross erhielt er den Pulitzerpreis.
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Ihr Name lautete Annie Walsh.
Zu Beginn ihrer Romanze hatte Mike recht lange mit ihr geflirtet.
Wie üblich war er die Sache mit Bedacht angegangen, wobei dies von seinem Standpunkt in einer genauen Einschätzung jenes Punkts bestand, an dem seine lodernde Begierde nach ihr das übertraf, was er als angemessenen Respekt für ihre Jugend und Unschuld ansah.
»Es ist, als würde man ein Flugzeug fliegen«, erklärte er Parlow. »Das Flugzeug ist schon vom Design her unausgeglichen. Man kann es nur im Gleichgewicht halten, indem man damit irgendwohin fliegt. Vorher und hinterher befindet es sich in einer Stase, oder wenn es nicht mehr weiterfliegen kann …«
»Sie ist zu jung«, gab Parlow zu bedenken.
»… beispielsweise, wenn der Hunne deinem Leitwerk einen Stich versetzt hat und dir nur noch bleibt, dir einen guten Platz zum Sterben zu suchen.«
»Heb dir das für dein Buch auf«, sagte Parlow.
»Oh, das kommt alles ins Buch«, versicherte Mike ihm. »Auf die eine oder die andere Weise. Denn es ist in mir und muss daher rauskommen.«
»Das war bestimmt ein traumatisches Erlebnis«, meinte Parlow. »Schließlich hat es auch großen Spaß gemacht.«
»Ja, es hat Spaß gemacht«, gab Mike zu. »Das ist das finstere, schäbige Geheimnis, das wir Soldaten mit uns herumtragen wie ein Geschwür im Herzen.«
»Du hast doch gesagt, du willst kein Buch schreiben.«
»Das Herz ist eine unbeständige Geliebte«, sagte Mike.
»Die Kleine ist zu jung«, wiederholte Parlow. »Und noch dazu Irin. Ihr Vater wird dich umbringen, und das ist keine Metapher.«
»Und was ist, wenn ich sie heirate?«, erwiderte Mike.
»Großer Gott.«
»Andere haben schon für weniger geheiratet.«
»Mag sie dich denn überhaupt?«
»Jeder mag mich«, behauptete Mike. »Ich bin ein liebenswürdiger Mann … habe einen Job …«
»Hast du eben gesagt, dass du vielleicht doch einen Roman schreiben wirst?«
»Ich kann doch beides machen.«
»›Niemand kann zwei Herren dienen‹«, zitierte Parlow. »Wer hat das gesagt?«
»Terhune in Mein Hund Lad«, antwortete Mike.
»Worüber redest du überhaupt mit der Kleinen? Sie kann doch reden, oder …«
»Sie muss nicht reden.«
»Weißt du was?«, meinte Parlow. »Du verliebst dich nicht mal wie ein Nigger, nein, du verliebst dich gleich wie ein Hillbilly: Du siehst die Kleine, wirfst sie, ihre beiden Kinder und ihr Banjo in deinen Wagen und fährst einfach los.«
»Ganz genau.«
* * *
Mike hatte Annie Walsh das erste Mal hinter dem Tresen des The Beautiful gesehen, das er aufgrund eines Verdachts aufgesucht hatte. Dieser Verdacht war ihm gekommen, nachdem er sich an eine Mob-Beerdigung erinnert hatte.
Es schien ihm, nachdem er erst einmal darauf gekommen war, eine jener so klaren und einfachen Ideen zu sein, bei der derjenige staunte, warum ihm das nicht schon früher eingefallen war. Warum, fragte sich Mike, wie es ein wahrhaft Inspirierter tat, würde Gott ihn, einen Narren und Sünder, auswählen, um seine Gnade zu empfangen? Aber so war es geschehen.
Dort bei der Beerdigung eines Mannes von der South Side, eines Alfonse Mucci, hatten sich die einander bekriegenden Gruppen eingefunden und wie immer den »Frieden am Wasserloch« einberufen. Ebenso anwesend war Mike, genau wie seine Kollegen, Vertreter der Lokalredaktionen anderer Chicagoer Zeitungen, die alle nach etwas Bemerkenswertem Ausschau hielten, das ihnen auffiel, den gleichermaßen aufmerksamen Konkurrenten jedoch entging.
Mike ließ den Blick über die ruhigen, respektvollen Gesichter von Muccis Kollegen und Auftragsmördern und über die Blumen schweifen. Dort sah er die üblichen Kränze, Kreuze und Gestecke mit den üblichen Trauersprüchen sowie eine kleine Karte, die mit Draht an jedem der Holzständer befestigt war.
Die Trauergäste hatten den Friedhof verlassen, und die Totengräber traten näher, aber Mike verharrte dort. Er ging um das Grab herum und auf die Blumen zu. Dort bückte er sich und sah sich die kleinen weißen Karten an, woraufhin er feststellte, dass es sich bei jeder um eine Anweisung an den Lieferanten handelte: A. Mucci/Lakeside, vierzehn Uhr. Außerdem prangte auf jeder Karte das Logo des Blumenhändlers. Die teureren Gebinde waren größtenteils von zwei Unternehmen geliefert worden: Flessa’s, 2331 Michigan Avenue, somit der Lieferant der South Side, und The Beautiful: Florists of Distinction, 1225 North Clark Street.
Also hatte Mike damit angefangen, die beiden Blumengeschäfte regelmäßig zu besuchen, da er dort möglicherweise Gangstertratsch aufschnappen konnte. Er wurde nicht enttäuscht.
Im Flessa’s war man geschwätziger und nur zu gern bereit, einen Kunden, für den sich Mike ausgab, mit Geschichten über die Großen zu unterhalten, indem man die potenziell trockene Geschäftsabwicklung mit Klatsch und Tratsch aufpeppte, den der Besitzer gehört oder den man ihm anvertraut hatte und der sich um die schillernden Launen des Capone-Mobs drehte. Diese Geschichten, Scherze, Anekdoten oder beiläufigen Kommentare durchforstete Mike nach Fakten, und einige erwiesen sich als derart zutreffend, dass sie ihm bei zwei Gelegenheiten eine höfliche Warnung von Leuten einbrachten, die sich als »Freunde des Bosses« bezeichneten. Der »Boss«, auch als Mr. Brown bekannt, war Al Capone, und besagte Freunde hatten mit Flessa gesprochen, der Mike den Erlass trotz seiner neuerlichen Verschwiegenheit weiterleitete, woraufhin dieser seine Ermittlungen im Flessa’s stark zurückfuhr.
* * *
Mikes Reaktion auf diesen Dämpfer glich der vieler anderer Helden, deren Abenteuerlust gewaltig nachließ. Doch sie bekam an einem trägen Vormittag im Mai neuen Auftrieb. Er hatte sich mit Parlow zum Mittagessen verabredet und traf ihn tippend an. Mike setzte sich neben den Schreibtisch und beobachtete seinen Freund. »The rich the rich the rich make me sad«, hatte Parlow den Text eines Liedes zitiert. »Die Reichen machen mich krank. In diesem größten Land, das Gott je vernünftigerweise gesegnet hat. In dem jeder …«
»›Fahrstuhlführer‹?«, schlug Mike vor.
»Ja, das ist gut«, erwiderte Parlow. »In dem jeder Fahrstuhlführer im Nu zu Reichtum gelangen kann, indem er schlichtweg einen Tipp bekommt; in dem jene, denen der Verstand fehlt, den der Herr sogar Gänsen verliehen hat, mit Pfeilen auf eine Scheibe werfen und Aktien kaufen, deren Potenzial allein durch den Glauben und die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Volkes begrenzt ist.«
»Wen kennst du denn, der auf diese Weise zu Geld gekommen ist?«, wollte Mike wissen.
»Meine Schwester oder ihresgleichen hatte zweifellos eine Freundin im Schönheitssalon, deren Gatte, Freund, Schwarzhändler, Liebhaber oder Zufallsbekanntschaft … Und ich sage dir noch was.«
»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Mike.
»Ich bin es so unsagbar leid und kann beim besten Willen keine Enthüllungsberichte mehr sehen. Hier haben wir«, er wedelte mit einer Hand über den Bücherstapel auf seinem Schreibtisch, »Rezensionsexemplare von was? Enthüllungsberichten: Fleischverarbeitung, Eisenbahnen, Telefon, der Aktienmarkt – Grundgütiger –, Kindererziehung; jeder dahergelaufene Hinz und Kunz mit einer Schreibmaschine lässt sich zu einer Anklage der amerikanischen Lebensart hinreißen.«
»Viele davon sind Frauen«, gab Mike zu bedenken.
»Ich stehe zu meiner eben getätigten Aussage«, erwiderte Parlow. »Und es steckt auch noch Geld darin. ›Ein Enthüllungsbericht‹, rufen die Littacher-Konsumenten aus: ›Ach, wie scharfsinnig, das zu bemerken, und wie tapfer, der ganzen Welt zu berichten, dass wir alle korrupte Schweine sind, die in dem fäkaliengetränkten Lehm des Lebens Wurzeln geschlagen haben.‹«
»Du hast anscheinend wieder etwas auf Französisch gelesen«, warf Mike ihm vor.
»Und wenn schon?«, entgegnete Parlow. »Ist das nicht auch eine Sprache, die dir zweifellos bei deinem Aufenthalt dort zwischen den Altertümern, deren Mauern vom Lauf der Zeit abgeschliffen wurden, ebenso untergekommen ist wie die deutschen Dicken Berthas und der Vertrag von Versailles?«
»Warum bist du derart traurig wegen der Reichen?«, fragte Mike.
»Wegen dem, was alle traurig macht, die sich nicht zu ihnen zählen«, antwortete Parlow. »Dass es ihnen besser geht als uns; und wir trotzen unserer unverdienten Armut stoisch, während sie auf Jachten segeln und weiß Gott welche Sittenlosigkeiten in ihren Bootshäusern begehen.«
»Aber hasst du nicht auch die Armen?«, hakte Mike nach. »Weil sie kein Geld besitzen. Was können sie dann schon für mich tun, außer mich mit ihrem ohnmächtigen Zorn zu behelligen, wenn ich gelegentlich mal ein sauberes Hemd trage? Scheiß auf die Armen. Überdies haben sie, abgesehen von den Kriminellen, ihre Lage falsch verstanden. Denn wie wollen sie ihren Zustand verbessern? Indem sie endlich an die Regierung appellieren.«
»Scheiß auf die Armen«, sagte Parlow.
»Und was ist mit …«, setzte Mike an.
»Ich bin noch nicht fertig«, fiel ihm Parlow ins Wort.
»Und was ist mit Streiks?«
»Ich bin noch nicht fertig«, wiederholte Parlow. »Was ist die Regierung denn schon, als ein nom de guerre für Gauner und Huren, der Gier, die zur Verstümmelung jedes anderen führen würde, der kein Amt innehat? Streiks unterstütze ich als Mittel zum sinnlosen Appell an die...