E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Marschall Panta rhei - Alles fließt
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-347-95718-3
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die antike Lebensphilosophie des Heraklit im Hier und Jetzt
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
ISBN: 978-3-347-95718-3
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Dr. Manfred Marschall, geboren 1960 in München, ist Naturwissenschaftler, Universitätsprofessor für Virologie, reisebegeisterter Wissenschaftskooperator in mehreren Kontinenten und ein kontinuierlich Suchender in Fragen der Kultur, Religion und Lebensphilosophie. Die eigenen, wissenschaftlichen Publikationen umfassen einige Hundert Journalartikel, Kongressbeiträge, Seminarvorträge und Buchveröffentlichungen. Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt er sich im persönlichen Rahmen auch mit der Verknüpfung zwischen der Natur des Menschen und den Gegebenheiten des Lebens. Im vorliegenden Buch wird das Experiment unternommen, eine Verbindung zu knüpfen zwischen Thesen der antiken griechischen Kultur, die reale Umsetzung in der späteren bis heutigen Zeit, anhand von Beispielen großer Persönlichkeiten, bis hin zu den individuellen, eigenen Erfahrungen. Insbesondere mit der praxisnahen Betrachtung der antiken Panta rhei-Lehre soll der Leser und die Leserin zum Nachdenken angeregt werden, um idealerweise auch Parallelen zum eigenen Erfahrungsschatz zu ziehen.
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Kapitel 3
Eine heutige Lebensbotschaft inmitten
des Mysteriums Panta rhei
? Über das Fließen und die Formbarkeit des Lebens. Diese eine Lebenswahrheit, dass sich alle Vorgänge in einer stetigen Veränderung und Bewegung befinden, kennen wir prinzipiell sehr gut. Haben wir uns doch in vielen Situationen seit früher Kindheit daran gewöhnt, und wir hinterfragen diese Tatsache in unserem täglichen Leben in der Regel nicht. Das Vergängliche, auch die Kurzlebigkeit der schönen Momente, gehört in unserer Normalität genauso dazu wie das Kommen von solchen Momenten, die wir nicht wirklich willkommen heißen. An sich sind wir in unserer Wahrnehmung und unserem Handeln also sehr vertraut mit dieser Erfahrung. Und dennoch steckt auch ein großes Mysterium darin, welches uns vor Fragen stellt. Wo nimmt eine neue Entwicklung in unserem Leben ihren Ursprung, wo kommt sie eigentlich her? Wir gehen manchmal davon aus, dass Neuerungen in dem Moment entstehen, in denen wir sie erstmals wahrnehmen. Oftmals ist es aber so, dass sich neue Lebensgegebenheiten lediglich momentan zu erkennen geben, obwohl sie bereits eine längere Vorschichte in sich tragen. Genauso stellt sich die schwierige Frage für uns, wohin die Lebenswege führen, inklusive unserer eigenen, persönlichen Entwicklung. Wohin geht die Reise? Auch hier sind wir versucht, zu sagen, dass dies in dem betreffenden Augenblick noch in den Sternen steht. Wir gehen meist rational begründet davon aus, dass sich Künftiges in der Zukunft regeln wird. Dabei vergessen wir nur allzu leicht, dass jede einzelne Handlung, die wir heute an den Tag legen, bereits Weichen stellt, die ihre Auswirkungen in der Zukunft haben werden. Das kann eine sehr kleine Auswirkung sein oder aber auch eine fundamental wichtige: "Die Zukunft hängt davon ab, was wir heute tun." (Mahatma Gandhi [5]) Die Schlussfolgerung daraus legt zwei Punkte fest, nämlich zum einen, dass sich nicht nur die Welt um uns herum in einem ständigen Vergehen und Neuentstehen befindet. Vielmehr gilt dies genauso für unsere eigene Person und all unsere Geschicke. Zum anderen ist es auch notwendig, zu erkennen, dass bereits kleine, vielleicht als minderbedeutend betrachtete Geschehnisse und Handlungen zu möglicherweise einschneidenden, künftigen Entwicklungen beitragen können.
"Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen."
Franz Kafka
Wichtig ist auch das Verstehen der Zusammenhänge, warum uns so vieles im Leben einfach davonzufließen scheint. Natürlich erkennen wir die Tatsache ständig von Neuem, dass uns die Zeit durch die Finger rieselt und dass wir generell im Dasein auf unserer Erde von dieser Begrenztheit ausgehen müssen. Dies sind keine Gedanken, die uns leichtfallen und dennoch liegt auch ein Trost darin, ja sogar eine riesige Chance. Das Positive an dieser Grundlage des Fließens ist ja die Formbarkeit. Die motivierende Erkenntnis daraus sollte sein, dass man den Fluss, der für die eigenen Geschicke maßgeblich ist, verändern und beeinflussen kann. Sobald man diese Gesetzmäßigkeit erkannt hat, ergeben sich auch besondere Möglichkeiten, vielleicht sogar manchmal die Flussrichtung in eine bestimmte Richtung zu lenken. Auch wenn das vollständige Einlenken in eine gewünschte Richtung nicht immer unmittelbar möglich ist, so haben wir doch häufig zumindest einen Einfluss darauf. Es geht um eine gewisse Sichtbarkeit und Intensität von Strömungen in unserem Leben. Ich behaupte, dass das Erspüren der Panta rhei- Flussrichtungen für uns alle möglich ist. Eine bewusst erhöhte Wachsamkeit, auf sich selbst gerichtet und auf die Umgebung, kann uns helfen, dafür Fühler zu entwickeln: Was wird am wahrscheinlichsten als nächstes passieren, wie werde ich damit umgehen, wie wird meine Umgebung auf mein Handeln reagieren und was wäre mir am liebsten im übernächsten Schritt? Sobald es uns gelingt, solche Verkettungen besser zu verstehen, haben wir gute Chancen, einen für uns positiven Einfluss auszuüben. Selbst wenn dies nicht in erster Instanz gelingen sollte, bedingt das Panta rhei doch, dass der Fluss des Lebens unter Umständen bald ein zweites Mal aus ähnlicher Richtung auf uns zukommt. Und eine feste Standhaftigkeit in unserer Haltung gegenüber solchen wiederkehrend ähnlichen Situationen wird dazu führen, dass sich die Umgebung um unsere Einflussnahme herum formt. Ganz ähnlich eines Felsens, der aus dem fließenden Wasser ragt, und der bewirkt, dass das Wasser um ihn herumfließt, sodass dieses Umlenken zum Beispiel ein Geräusch der Wellenbrechung erzeugt. Auch wird der Felsen einen treibenden Ast zum Stocken bringen, die umherschwimmenden Fischen zu einem Richtungswechsel veranlassen und hinter sich eine schäumende Welle flussabwärts entlassen. All diese Konsequenzen ergeben sich aus dem festen Einnehmen einer Position. Würden wir den Felsen von dort bewusst herausheben, wäre die Situation an dieser Wasserstelle eine ganz andere. Im Wesentlichen geht es immer darum, dass wir nicht nur in Kauf nehmen, Lebensveränderungen anzunehmen, sondern, dass wir erkennen, ein Teil dieser Veränderungen selbst zu sein.
Nun ist es mit dieser Art von Erkenntnis ganz sicherlich so, dass es auch andere Überzeugungsansätze gibt. Gerade in den verschiedenen Kulturen dieser Welt steht nicht überall die Überzeugung zu einer derartigen Selbstbestimmtheit an erster Stelle. Es gibt auch Lebensanschauungen, die stattdessen von einem vorbestimmten Schicksal ausgehen. Im Extremfall ganz ohne jegliche individuelle Chance der Einflussnahme auf den eigenen Lebensweg. Unter dieser Annahme wird dann die Veränderlichkeit der Geschicke in unserer Zukunft generell bezweifelt oder ganz verneint. Und hier kommt man an einen Punkt der Verunsicherung, den man schwerlich argumentativ lösen kann. Man kann in dieser Frage der Lebensveränderlichkeit sehr unterschiedlicher Ansicht sein, und die persönlichen Erfahrungen haben dahingehend wohl einen maßgeblichen Einfluss. In Heraklits These des Panta rhei ist dieser Punkt der selbstbestimmten Möglichkeiten zwar nicht unmittelbar formuliert, aber eine der Deutungen zeigt in plausibler Weise genau dorthin: Laut Heraklit stehen die Entwicklungen und das Zukünftige nicht bereits fest, und sie stellen auch nicht vorausbestimmte Gegebenheiten dar. Im Gegenteil, sie sind formbar und wir sind sowohl Teil der Verformung der Zukunft als auch ein Teil unserer eigenen Gestaltung.
Ungeachtet dieser Deutung lässt sich das Panta rhei dennoch nicht als einzig gültige Wahrheit festhalten, nicht als 'bare Münze' nehmen. Das Verständnis über das, was durch die Lehre ausgesagt wird, ist komplex und erlaubt unterschiedliche Interpretationen. Dennoch kann man zumindest einen Aspekt des Pantha rhei als besonders belastbar betrachten, weil er in den unterschiedlichen Betrachtungen als gleichbleibend wichtig in Erscheinung tritt, nämlich den Gestaltungsaspekt. Ute Seiderer zitiert in ihrer vielgestaltigen Zusammenstellung zu den Bildern des Flusses [4] den italienischen Schriftsteller Luciano de Crescenzo mit den Worten: "Selbst jene Dinge, die auf den ersten Blick bewegungslos erscheinen, erleben bei genauerer Betrachtung doch eine Veränderung: eine eiserne Glocke rostet, ein Fels korridiert, ein Baum wächst, ein Körper altert. (...) Mit anderen Worten: Alles verwandelt sich, vielleicht zunächst nur in einer einzigen Zelle, aber die Verwandlung ist unaufhaltsam. Symbol des Werdens ist das Feuer, Auslöser jeder Verwandlung. Heraklit wußte natürlich noch nichts von dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz (die Welt endet zwangsläufig im Hitzetod) und von der Atombombe, aber er hat bereits intuitiv erkannt, daß damit der ganze Erdball in die Luft gesprengt werden kann. Das Entropiekonzept, verstanden als Maß der Unordnung dank der Präsenz gegenseitiger Kräfte, hätte ihn begeistert. Gerade diese Vorliebe für das Werden adelt ihn in unseren Augen." [4]
? Über das Vorwärtsgerichtetsein und die Veränderung der eigenen Person. Wir selbst, die wir immerfort Entwicklungen durchlaufende Individuen darstellen, könnten keine feste, unverrückbare Größe einnehmen, selbst wenn wir es wollten. Wir sind stattdessen vielmehr das Produkt einer fortlaufenden Veränderung, man würde sagen, idealerweise, einer fortlaufenden Reifung. Wir wurden geprägt durch Lebenserfahrungen, durch eine Ausbildung, eine Anlehnung an vertraute Mitmenschen, eine erfahrungsreiche Kindheit und durch vieles mehr. Man könnte diesen Faden weiterspinnen und fragen, ob unser Leben auch bereits durch Faktoren bestimmt wurde, welche vor unserer Geburt lagen. Sicherlich ist uns nicht fremd, dass während der Entwicklungsphase eines Ungeborenen bereits Umwelteinflüsse prägend wirken können. Im Zuge der Schwangerschaft wird eine Vielzahl von Einflüssen der Mutter (sowie der ganzen Umgebung inklusive des Vaters und des ganzen Familienkreises) auf das ungeborene Kind übertragen. Diese Einflüsse haben sehr...