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Martin | Freiheitsaufgaben | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Martin Freiheitsaufgaben

Ovid Preis und Reiner-Kunze-Preis 2025
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12483-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ovid Preis und Reiner-Kunze-Preis 2025

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-608-12483-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Eine Sternstunde der Demokratie« Die ZEIT über Marko Martins Rede vor dem Bundespräsidenten Ovid Preis 2025 Reiner-Kunze-Preis 2025 Rechtsruck im Osten, Verzagtheit im Westen. 35 Jahre nach der Einheit steht die deutsche Demokratie am Scheideweg: Stellen wir uns den Freiheitsaufgaben oder geben wir unsere Freiheit auf? Marko Martin blickt über den Tellerrand der innerdeutschen Debatten zu den großen europäischen Stimmen wie Manès Sperber und André Glucksmann. Ein mitreißender Appell gegen die Lockrufe nach autokratischer Entmündigung und für eine kategorische Ablehnung der Mutlosigkeit. Das Buch nach der großen Debatte um Marko Martins Rede vor Bundespräsident Frank Walter Steinmeier - ein Must-Read für Krisenzeiten. Klug, welthaltig und nicht ohne Heiterkeit.  Als gebürtiger Sachse, als Kriegsdienstverweigerer noch vor Mauerfall ausgereist, ist Marko Martin in Ost und West sozialisiert. Aus dieser besonderen Position hat er, als einer der wenigen, einen Blick für die Ausreden und Scheinheiligkeiten auf beiden Seiten. Seine Rede im November 2024 in Schloß Bellevue zum Jahrestag des Mauerfalls ging viral. Zugewandt und weltläufig ermutigt uns Marko Martin, unser Verständnis von Freiheit zu überprüfen. Zu stark ist das Missverständnis vieler, diese bedeute automatisch Glück. Doch Freiheit heißt Verantwortung und ist nach Manés Sperber »die kategorische Ablehnung der Mutlosigkeit «. Könnte nicht gerade daraus so etwas wie Glück entstehen? »Marko Martin ist ein wahrer Humanist.« Anne Applebaum

Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Neben einem Essayband zur israelischen Literatur und einer Tel Aviv-Hommage erschienen in der Anderen Bibliothek seine Bücher Schlafende Hunde und Die Nacht von San Salvador sowie 2019 der Essayband Dissidentisches Denken. Mit Das Haus in Habana. Ein Rapport stand er auf der Shortlist des Essayistikpreises der Leipziger Buchmesse. Bei Tropen erschienen: Die verdrängte Zeit (2020) Die letzten Tage von Hongkong (2021) und Es geschieht jetzt (2024).
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Go West – doch auf welche Weise?


Barcelona, Sommer 2022. Auf der nächtlichen roof terrace des Gay-Hotels Axel wehte der Village-People-Song über das hellblau schimmernde Wasser des dezent beleuchteten Pools. Wehte über die Rattan-Liegen, auf denen sich junge Leute beiderlei Geschlechts entspannt ausstreckten, vermischte sich mit dem Duft der Joints, dem sanft klirrenden Geräusch der – Salud/Cheers/Skal/Prost/Santé! – aneinanderstoßenden Wein- und Cocktailgläser, stieg auf ins Stahlblau des Himmels, zuckte hinüber zu den erleuchteten Mansardenfenstern der streng verspielten Bürgerhäuser am Carrer Aribau, zu den Dächern der Prachtbauten nahe dem Passeig de Gracia.

(Und nicht weit davon entfernt, ein knapper Kilometer Richtung Südosten, der Ort, an dem sich einst das Hotel Colón befunden hatte. Hotel Colón, in dem sich zu Zeiten des Spanischen Bürgerkriegs die moskautreuen Kommunisten versammelten, darunter auch spätere SED-Genossen. Das Hotel, in dem auf Kreml-Befehl unabhängige, freiheitliche Linke gefangen gehalten wurden und »verschwanden« – so auch der junge Antinazi Mark Rein, ein Freund Willy Brandts, der vor seiner Flucht aus Hitler-Deutschland der Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« angehört hatte, in der auch Robert Havemann Mitglied war. Havemann, unter den Nazis eingekerkert und 1964 als Physikprofessor wegen seiner zu kritischen Haltung von der SED aus der Humboldt-Universität entfernt. Als väterlicher Freund Wolf Biermanns von der Stasi observiert – und danach, dies nun schon unter Honecker, in seinem Gartenhaus in Grünheide bei Berlin bis zu seinem Tod 1982 unter Hausarrest gehalten. Deutsche, nein: ostwest-europäische Brüche und Kontinuitäten. Bigger than GDR und Bundesrepublik und diverse Milieu-Gestimmtheiten. Viel später, in den sogenannten Nullerjahren, mit Havemanns jüngster Tochter Franziska, geboren 1974, an Berliner Sommerabenden in Open-Air-Bars an der Spree: Inmitten unserer versonnen miteinander geteilten Reise-Abenteuer mitunter auch dies – ein Vergegenwärtigen all dieses Zickzacks aus Orten, Menschen und Geschehnissen. Hatten wir da womöglich geglaubt, all das sei inzwischen lediglich Historie, ein abgeschlossenes Kapitel, gar nur eine Fußnote?)

Go West, life is peaceful there  Plötzlich saß jemand neben mir auf einem der hohen Barstühle, ein Glas in der Hand, den linken Ellenbogen auf das schmale Metallic-Bord gedrückt, das in einer Art Oval die Terrasse umgrenzte – dahinter bruchsicheres Glas, um tödliche Stürze zu verhindern, und hinter der Verglasung das Panorama der nächtlichen Stadt.

War er angetrunken, hatte er sich irgendetwas eingeworfen, dieser Endzwanzigjährige mit dem gegelten semmelblonden Strubbelhaar und dem stripped T-Shirt, auf dem links über den sichtbar definierten Brustmuskeln ein Markenname zu sehen war, klein und dezent? (Ähnlich den einstigen Parteiabzeichen der Eltern, dachte ich später, nachdem das Gespräch ebenso abrupt geendet war, wie es begonnen hatte. Oder doch eher: der Großeltern?)

Er sei Russe, erklärte er ungefragt, lebe seit einigen Jahren in Barcelona, enjoying this amazing town. Seine Gegenwart störte mich nicht, im Gegenteil: Ein junger Russe, der gewalttätigen Homophobie entflohen, die in seinem Heimatland seit dem 2012 von der Putin-treuen Duma verabschiedeten »Gesetz gegen die Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen« sogar in Paragraphenform gegossen war – eine solche oder so ähnliche Geschichte hatte ich, vielleicht naiverweise, erwartet. Er aber erwähnte nichts davon, erstattete hingegen ausführlich Bericht über das Einrichten seiner neuen Wohnung hier im Eixample-Viertel, das ihn die ganze letzte Woche in Beschlag genommen habe – gar nicht so einfach, in Barcelona, over-crowded by mass tourism, noch einigermaßen preiswerte Antik-Möbel zu finden! Nicht zu viele, nicht zu wenige, Ziel sei ein stylish minimalism 

So ging das eine Weile, bis er die kleine blaugelbe Fahne auf meinem T-Shirt entdeckte. Kurzer Moment der Irritation, dann die Frage, was ich über den Krieg in der Ukraine dächte. Obwohl entschieden kein Freund politisierender Bar-Debatten nach Mitternacht, wollte ich doch das Mindeste deutlich machen: Das war – und zwar seit 2014 und noch vor der Vollinvasion vom 24. Februar 2022 – kein Krieg in der Ukraine, sondern ein Angriffskrieg gegen dieses Land. Zu denken/meinen/interpretieren gab es da angesichts des massenmörderisch Offensichtlichen und der vom Kreml keineswegs verhehlten Vernichtungsziele eigentlich nicht sonderlich viel. Darauf reagierte er prompt mit den üblichen Versatzstücken des Leugnens, Relativierens und Maßstäbe-Verwirrens. Trug das jedoch weder im schleppenden Suff- noch im überdrehten Koks-Duktus vor, sondern behauptete ganz nüchtern, die Ukraine sei ja doch lediglich Spielball zwischen Moskau und den USA. Tatsächlich, das ganze Programm: Die Einkreisungsängste Russlands angesichts einer vorrückenden NATO, die Russophobie westlicher Eliten, um vom sozialen Elend der eigenen Bevölkerung abzulenken, die Dämonisierung Russlands, das doch gar keine weiteren Länder angreifen könne und wolle – jedoch mit seinen Atomraketen, sollte das alles so weitergehen, durchaus auch auf westliche Großstädte zielen könne. Wimanije, Achtung.

»Also auch auf Barcelona und deine neue Wohnung mit den Antikmöbeln?« Achselzucken. Und diese Mitternachtsstunden hier, frei und friedvoll und explosiv nur im Rahmen von Flirts und anvisiertem Einander-Abschleppen?

»Glaub bloß nicht, in Moskau hätten wir keine vergleichbaren locations. Aber mit richtigem Eintritt, damit’s die Leute auch schätzen und nur die richtigen hineinkommen.«

»Und die Sanktionen?«

»Jucken uns nicht wirklich, panemajesch?«

Nun gut, verstanden. Vom-Ich-zum-Wir – das war also offenbar keineswegs nur ein anachronistischer DDR-Aufforderungsslogan aus tiefster Vergangenheit, war nicht einmal ein rein russischer Binnendiskurs zwischen den Machthabern und »ihrem« Volk. Sogar in südwestlichen Sommernächten wie diesen konnte er zu hören sein – wenngleich nicht für ewig, denn unter dem Vorwand, sich einen neuen Drink zu besorgen, stand der junge Mann nun unvermittelt auf und ging, erstaunlich trittsicher, hinüber zur Bar. Tauchte ein in die Menge der von ihm verachteten westlichen Massentouristen und verschwand. Ein Oligarchen-Sprössling in Barcelona und Lautsprecher eines Regimes auch dann, wenn es – wie hier auf der roof terrace und unter dem Sound entspannter Songs – doch gar nicht nötig schien, Ergebenheitsadressen zu verschicken? Oder ging es, wie bewusst oder unbewusst auch immer, um etwas ganz anderes: Territorien auch verbal zu markieren, zu besetzen? (Macht es die Neue Rechte strategisch nicht ebenso, die Grenzen des Sagbaren Stück für Stück erweiternd, die Konturen der Realität schleifend, in einer Mischung aus Aggressivität und Larmoyanz?)

Mitte der Achtzigerjahre, ein knappes Jahrzehnt nach seiner erzwungenen Übersiedlung in die Bundesrepublik, hatte der 1933 im sächsischen Oelsnitz geborene Reiner Kunze das Kurzgedicht »Auf dem Vormarsch« geschrieben: Erst fassen sie fuss, dann / nach den köpfen // (Hindert sie die schwelle, kehren sie, / die reihenfolge um). Hatte das in seinem Haus oberhalb der Donau bei Passau geschrieben, sich von der idyllischen Adresse seiner neuen Wohnstatt nicht einlullen lassen: Am Sonnenhang 19. (Und war damals auch für solche Zeilen, welch Irrsinn, von einem juste milieu selbsterklärter »Verfechter der Entspannungspolitik« zum Konservativen, ja gar zum Rechten gestempelt worden.)

Weshalb sind mir diese paar Minuten aus einem längst vergangenen Sommer im Gedächtnis geblieben? Weil die Szene und die Demonstration der selbstherrlichen Ignoranz nicht ohne Ohrenzeugen vonstattengegangen war, weil auch deren (Nicht-)Reaktion unvergesslich war.

Neben uns, ebenfalls auf das nächtliche Barcelona blickend, saß ein Grüppchen junger englischsprachiger Leute, die intensiv über ihre queere Selbstbezeichnung diskutierten. Beziehungsweise – jeder für sich und von den anderen zustimmend kommentiert – Beschwerde darüber führten, dass sie häufig ja gar nicht als queer wahrgenommen würden, sondern lediglich als schwul/lesbisch/bisexuell, was indessen ein Angriff auf ihre fluide Identität sei, eine Art Mikroaggression. Selbst auf der Dating-App Grindr fänden sich, um im eigenen Profil die einem selbst entsprechenden Pronomen anzugeben, auf der Liste lediglich Vorschläge für Ze/Hir/Hirs sowie Ze/Zir/Zirs. Da das Gespräch – vielleicht genauer: das Ereifern über Verfehlungen – überaus deutlich vernehmbar geführt wurde und die Songs aus den verdeckt angebrachten Lautsprechern mühelos übertönte, fiel mir ihr plötzliches Schweigen umso deutlicher auf. Dreimal. Zuerst beim Auftauchen des imposanten jungen Russen, alsdann bei dessen kulturkritischem Beanstanden des mass tourism in Barcelona und zuletzt bei seiner Erwähnung der in Moskau trotz Sanktionen fortdauernd angesagten...


Martin, Marko
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Neben einem Essayband zur israelischen Literatur und einer Tel Aviv-Hommage erschienen in der Anderen Bibliothek seine Bücher Schlafende Hunde und Die Nacht von San Salvador sowie 2019 der Essayband Dissidentisches Denken. Mit Das Haus in Habana. Ein Rapport stand er auf der Shortlist des Essayistikpreises der Leipziger Buchmesse. Bei Tropen erschienen: Die verdrängte Zeit (2020) Die letzten Tage von Hongkong (2021) und Es geschieht jetzt (2024).

Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Neben einem Essayband zur israelischen Literatur und einer Tel Aviv-Hommage erschienen in der Anderen Bibliothek seine Bücher Schlafende Hunde und Die Nacht von San Salvador sowie 2019 der Essayband Dissidentisches Denken. Mit Das Haus in Habana. Ein Rapport stand er auf der Shortlist des Essayistikpreises der Leipziger Buchmesse. Bei Tropen erschienen: Die verdrängte Zeit (2020) Die letzten Tage von Hongkong (2021) und Es geschieht jetzt (2024).



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