E-Book, Deutsch, 448 Seiten
Masterton Bleiche Knochen
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86552-559-8
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Thriller
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-86552-559-8
Verlag: Festa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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1
John hatte noch nie so viele Nebelkrähen über der Farm kreisen sehen wie an diesem nassen Novembermorgen. Sein Vater hatte immer gesagt, wenn sich mehr als sieben Nebelkrähen versammelten, dann waren sie gekommen, um sich an einer menschlichen Tragödie zu ergötzen.
Tragödienwetter herrschte definitiv. Regenvorhänge zogen schon seit weit vor der Morgendämmerung über die Nagle Mountains und die Erde auf dem Feld im Nordwesten der Farm war so schwer, dass er drei Stunden gebraucht hatte, um es zu pflügen. Er machte mit dem Traktor gerade in der oberen Ecke kehrt, in unmittelbarer Nähe des kleinen Wäldchens, das den Namen Iollan’s Wood trug, als er sah, dass Gabriel ihm wie wild vom Tor aus zuwinkte.
John winkte zurück. Mein Gott, was wollte dieser Idiot denn jetzt schon wieder? Wenn man Gabriel eine Aufgabe übertrug, konnte man sie ebenso gut gleich selbst erledigen, weil er ständig nachfragte, was er als Nächstes tun sollte, ob man lieber Schrauben oder Nägel wollte und aus welchem Holz man es gern hätte. John pflügte in aller Ruhe weiter, wobei dicke Erdklumpen und klebriger Matsch gegen die Räder klatschten, aber Gabriel kämpfte sich bereits über den Acker auf ihn zu, noch immer energisch mit den Händen fuchtelnd, während die Krähen gereizt um ihn herumflatterten. Offensichtlich rief er ihm etwas zu, aber John konnte ihn nicht verstehen.
Während Gabriel in den alten, abgewetzten braunen Tweedklamotten und Gummistiefeln in seine Richtung schnaufte, schaltete John den Motor des Traktors aus und nahm die Ohrenschützer ab.
»Was ist denn los, Gabe? Hast du vergessen, mit welchem Ende der Schaufel du graben sollst?«
»Da sind Knochen, John! Knochen! So viele verfluchte Knochen, dass man sie gar nich’ zählen kann!«
John wischte sich mit dem Handrücken den Regen aus dem Gesicht. »Knochen? Wo? Was denn für Knochen?«
»Im Boden, John. Menschliche Knochen! Komm mit und schau’s dir selbst an! Der Schuppen sieht aus wie ’n verfluchter Friedhof!«
John stieg vom Traktor und landete knöcheltief im Matsch. Aus der Nähe roch Gabriel stark nach schalem Bier, aber John wusste sowieso, dass er während der Arbeit trank. Allerdings gab er sich unglaubliche Mühe, die Murphy’s-Dosen unter einem Haufen Sackleinen in der hinteren Ecke der Scheune zu verstecken.
»Wir ham in der Nähe vom Haus das Fundament gebuddelt, als der Kleine meinte, da wär was im Boden. Er hat dann mit den Fingern weitergegraben und plötzlich diesen menschlichen Schädel rausgeholt, der hatte die Augen voll Erde. Dann ham wir noch ’n bisschen weitergewühlt und noch mal vier Schädel und jede Menge Knochen gefunden, so was hast du noch nich’ gesehen. Beinknochen, Armknochen, Fingerknochen und Rippenknochen.«
John stakste mit langen Beinen in Richtung Tor. Er war groß, ein südländisch anmutender Typ mit dichtem schwarzem Haar. Durch sein attraktives Äußeres hätte man ihn durchaus für einen Spanier halten können. Er war erst seit einem Jahr wieder in Irland und es fiel ihm schwer, den Betrieb der Farm zu bewältigen. An einem sonnigen Morgen im Mai hatte er gerade die Tür der Wohnung in der Jones Street in San Francisco hinter sich abschließen wollen, als das Telefon geklingelt hatte. Seine Mutter war dran gewesen, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater einen heftigen Schlaganfall erlitten hatte. Und dann, zwei Tage später, dass sein Vater tot war.
Er hatte nicht vorgehabt, nach Irland zurückzukehren, ganz zu schweigen davon, die Farm zu übernehmen. Aber seine Mutter hatte schlicht und ergreifend angenommen, dass er sich darum kümmerte, da er ihr ältester Sohn war. All seine Onkel und Tanten und Cousins und Cousinen hatten ihn begrüßt, als sei er nun das Oberhaupt der Familie Meagher. Er war noch einmal nach San Francisco zurückgeflogen, um sein Dotcom-Unternehmen für Alternativmedizin zu verkaufen und sich von seinen Freunden zu verabschieden – und hier war er nun und stapfte im steten Nieselregen durch das Tor von Meagher’s Farm, dem Biergeruch ausdünstenden Gabriel dicht auf den Fersen.
»Ich würd sagen, das war ’n Massenmord«, meinte Gabriel keuchend.
»Na, wir werden sehen.«
Das Farmhaus war ein breites, grün gestrichenes Gebäude mit grauem Schieferdach, an dessen Südostseite sechs oder sieben blattlose Ulmen standen wie eine peinlich berührte Gruppe nackter Badender. Eine steil abfallende Einfahrt führte zur Straße hinunter, die die Farm mit Ballyhooly im Norden und dem 18 Kilometer entfernten Cork City im Süden verband. John überquerte den verschlammten Asphalt im Hof und ging um das Haus herum. Gabriel und ein junger Kerl namens Finbar hatten dort einen verrotteten alten Futterschuppen abgerissen und hoben gerade das Fundament für ein moderneres Kesselhaus aus.
Sie hatten eine Fläche von knapp vier mal sechs Metern abgetragen. Die Erde war schwarz und grob und verströmte den sauren, markanten Geruch von Torf. Finbar stand auf der anderen Seite der Grube und hielt traurig eine Schaufel in der Hand. Ein dünner, bleichgesichtiger Junge mit kurz geschorenen Haaren, abstehenden Ohren und einem durchnässten grauen Pullover.
Auf dem Boden vor ihm, wie in einer Szene aus Pol Pots Kambodscha, lagen vier menschliche Schädel. Näher an der feuchten, mit Zement verputzten Wand des Farmhauses befand sich ein mit schlammbedeckten Menschenknochen gefülltes Loch.
John ging in die Hocke und starrte auf die Schädel, als rechne er damit, dass sie ihm eine Erklärung lieferten.
»Gott, Allmächtiger. Die müssen schon ziemlich lange hier liegen. An denen ist kein einziger Fetzen Fleisch mehr dran.«
»’n unmarkiertes Grab, würd ich sagen«, mutmaßte Gabriel. »’n paar Typen, die der IRA in die Quere gekommen sind.«
»Haben mir ’ne Scheißangst eingejagt«, sagte Finbar und wischte sich die Nase am Ärmel ab. »Ich hab hier gegraben und plötzlich hat dieser Schädel zu mir hochgegrinst wie mein alter Onkel Billy.«
John hob einen langen Eisennagel auf und stocherte damit in den Knochen herum. Er erkannte einen Kieferknochen, den Teil eines Brustkorbs und einen weiteren Schädel. Das bedeutete mindestens fünf Leichen. Es blieb ihnen nur eins übrig: Sie mussten die Garda verständigen.
»Du denkst nicht, dass dein Dad was davon gewusst hat?«, fragte Gabriel, als John zum Haus zurückging.
»Was meinst du damit? Natürlich hat er nichts davon gewusst.«
»Na ja, er war ’n treuer Republikaner, dein Dad.«
John blieb stehen und starrte ihn an. »Was willst du damit sagen?«
»Ich will gar nichts sagen, aber wenn gewisse Leute ’nen Ort gebraucht hätten, an dem sie gewisse Überreste verstecken können, die niemand je wiederfinden soll, hätte dein Dad ihnen möglicherweise diesen Gefallen getan, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Oh, jetzt komm schon, Gabriel. Mein Dad hätte nie zugelassen, dass jemand Leichen auf seinem Grundstück verscharrt.«
»Da wär ich mir nich’ so sicher, John. Hier war’n auch mal gewisse andere Dinge versteckt, unter dem Kuhstall, für ’ne Weile.«
»Meinst du die Waffen?«
»Ich will ja nur sagen, dass es vielleicht für alle Beteiligten das Beste wäre, wenn wir einfach vergessen, worauf wir hier gestoßen sind. Sie sind doch sowieso schon tot und begraben, diese Typen, warum also ihre letzte Ruhe stören? Und dein Dad ist auch tot und begraben. Du willst doch sicher nicht, dass die Leute mit alten Geschichten seinen Ruf ruinieren, oder?«
»Gabe, das sind menschliche Überreste, verdammt noch mal. Wenn wir die einfach wieder einbuddeln, dann werden fünf Familien niemals erfahren, wohin ihre Söhne und Ehemänner verschwunden sind. Kannst du dir was Schlimmeres vorstellen?«
»Na schön, ich schätze, du hast recht. Aber es kommt mir trotzdem so vor, als ob wir ’nen Haufen Ärger riskieren, obwohl es gar nich’ nötig ist.«
John ging ins Haus. Im Inneren war es düster, und zu dieser Jahreszeit roch es immer feucht. Er zog die Stiefel aus und wusch sich in der kleinen Nische neben dem Flur die Hände. Dann betrat er die große, mit Natursteinplatten geflieste Küche, in der seine Mutter mit Backen beschäftigt war. Sie kam ihm in diesen Tagen mit ihrem weißen Haar, ihrem gekrümmten Rücken und den milchblassen Augen extrem unscheinbar vor. Sie siebte gerade Mehl für Rosinenbrot.
»Bist du mit dem Pflügen fertig, John?«, fragte sie.
»Noch nicht ganz. Ich muss mal telefonieren.«
Er zögerte. Sie blickte auf und musterte ihn stirnrunzelnd. »Ist alles in Ordnung?«
»Natürlich, Mom. Ich muss nur jemanden anrufen, das ist alles.«
»Du wolltest mich was fragen.« Ja, scharfsinnig war sie immer noch, seine Mutter.
»Dich was fragen? Nein. Vergiss es einfach.« Falls sein Vater der IRA wirklich erlaubt hatte, Leichen auf seinem Grund und Boden zu begraben, bezweifelte John, dass er es seiner Mutter anvertraut hatte. Was du nicht weißt, kann dir auch nicht den Schlaf rauben.
Er ging ins Wohnzimmer zu den mit Gobelinstickereien verzierten Möbeln und dem großen Kamin aus roten Ziegeln, in dem drei riesige Holzscheite knisterten, während Lucifer, der schwarze Labrador, mit unanständig weit gespreizten Beinen ausgestreckt auf dem Teppich lungerte. John nahm den Hörer des altmodischen schwarzen Telefons ab und wählte den Notruf.
»Hallo? Ich möchte mit der Garda sprechen. Mit jemandem, der was zu sagen hat. Ja sicher, hier ist John Meagher von Meagher’s Farm oben in...




