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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Matter Sudelhefte Rumpelbuch


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7296-2080-3
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-7296-2080-3
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sudelhefte: Tagebuch I (1958-1961) / Tagebuch II (1962) / Tagebuch III (1963-1965) / Tagebuch IV (1969-1971) Rumpelbuch: Albumblätter / Die Geschichten vom weisen Joachim / Interlakner Tagebuch (1959) / Geschichten mit Titel / Geschichten ohne Titel / Gedichte (1966/67) / Stücke und Sprechtexte (1971) (Erstausgabe Sudelhefte 1974, Rumpelbuch 1976, in einem Buch vereint 1978)

Mani Matter Eigentlich Hans Peter, geb. 4. August 1936. Jusstudium, Oberassistent an der Universität, dann Rechtskonsulent der Stadt Bern. Mit 17 erste berndeutsche Lieder, später Auftritte im Radio, Konzertemit den Berner Troubadours und Soloprogramme in Kleintheatern. Starb am 24. November 1972 bei einem Autounfall.Tonträger bei Zytglogge: Berner Troubadours Live ZYT 4016 / Ir Ysebahn ZYT 4021 / I han es Zündhölzli azündt ZYT 4024 / Dr Kolumbus ZYT 4035 / Kriminalgschicht ZYT 4057Bücher bei Zytglogge: Us emene lääre Gygechaschte (1969) / Warum syt dir so truurig? (1973) / Sudelhefte/Rumpelbuch (1974/76) / Einisch nach emene grosse Gwitter (1992) / Das Cambridge Notizheft (2011)
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1960


22 Der Schriftsteller: Er ist am Handeln nicht interessiert, nur am Feststellen. Die Therapie kümmert ihn wenig, es geht ihm um die Diagnose. Er sieht das Elend der Krankheit: Statt aber tätig zu werden, um sie zu bekämpfen, schaut er sie bloß an. Mit großen, neugierigen Augen. Und dann beschreibt er sie.

Insofern unterscheidet er sich von den Ärzten der Menschheit. Er unterscheidet sich aber auch von ihren Lehrern und Richtern. Denn er ist zu kindlich erstaunt über den Reichtum der Erscheinungen und auch zu mitfühlend, um erziehen zu wollen oder auch bloß zu beurteilen. Er schaut und staunt und beschreibt.

Von den Freuden dieser Welt erwartet er wenig für sich. Die irdischen Genüsse saugt er aus dem Mundstück seiner Pfeife und überläßt die Leidenschaften den andern. Still sitzend und betrachtend, lächelt er oft: spöttisch, mitfühlend und erstaunt. Und er ist ein großer Schweiger.

Beim Schreiben aber besteigt er die Bühne, tritt ins Rampenlicht. Er ist wie verwandelt. Er haßt, er spottet, reizt, verführt, fordert heraus und greift an. Er baut seine Sätze, wählt kühl und geduldig die Wörter, als bedeute ein falsches »Aber« den Schritt ins Verderben.

23 Schriftsteller – Menschen, vom eitlen Wahn besessen, ihre Selbstgespräche schriftlich führen zu müssen.

24 Ich glaube, man müßte soweit kommen, daß man, wenn es einem wo nicht gefällt, aufsteht und fortgeht. Das tönt nach nichts, doch ich kenne niemanden, der das kann. Zunächst wissen die wenigsten Leute, ob es ihnen gefällt oder nicht, sie bilden sich oft ein, es gefalle ihnen, wo sie sind, und erst später, in der Erinnerung, stellen sie fest, daß es ein scheußlicher Ort war, daß sie nie mehr dorthin zurückkehren möchten. Oft glauben sie auch, weil sie es so in Büchern gelesen haben, diese oder jene Situation schön finden zu müssen. Das ist traurig. Aber wenn sie schon merken: Hier gefällt es mir nicht, das ist nichts für mich, da bin ich nicht ich selbst, sondern ein hohler, aufgeblasener Snob oder ein schüchterner Tölpel (je nachdem) – wie mancher steht dann auf und geht fort? Man hat Angst, die Leute zu beleidigen, mit denen man zusammen ist. (Es ist ja immer bei Leuten, daß es einem nicht gefällt, allein kommt man immer zurecht, auch wenn man Kummer hat.) Man hat also Angst, sie zu beleidigen, oder sagt sich: Wenn ich jetzt aufstehe und mich verabschiede, ohne einen Grund angeben zu können, dann mache ich noch einen größeren Tölpel aus mir, als ich ohnehin schon bin. Aber das ist nicht wahr. Ein Mensch, der, wenn es ihm nicht gefällt, aufsteht und weggeht, ist er selbst, er hat den Mut, seinem eigenen Urteil zu folgen, er will sich so, wie er ist, er kann kein Tölpel sein. Er kann unhöflich sein, brüsk eventuell, eigenwillig. Aber bewundernswert bleibt er doch. Soweit müßte man kommen!

25 Eine »gebildete Sprache«, die, wie Schiller sagt, »für dich dichtet und denkt«, gibt es nicht mehr. Es hat sie wohl nie gegeben! Jeder, der schreibt, muß sich seinen Stil erst schaffen.

Es besteht daher die Gefahr, daß die Schriftsteller zu gewissen Manierismen greifen, nur noch Hauptsätze schreiben oder überhaupt keine Sätze mehr. Damit ist nichts gewonnen, sondern nur, wenn auch bewußt, etwas verloren. Eine erste Erneuerung der Sprache setzt den Willen zu höchster Einfachheit voraus. Die Einfachheit läßt sich aber nicht durch formale Selbstbeschränkung erzwingen. Sie muß daraus entstehen, daß ich, was ich aussprechen will, von Grund auf durchdacht habe.

26 Leute, die zu ihrem Arbeitsplatz täglich eine halbe Stunde Eisenbahn fahren müssen, pflegen sich darüber zu beklagen. Ich verstehe das, wenn sie im Zug Bekannte antreffen, die sie langweilen. Wenn sie aber unter fremden Leuten allein sein können, dann haben sie unrecht. Denn eine halbe Stunde »Nichtstun«, Beobachtung, Zeit, zu lesen oder sich Gedanken zu machen, ist ein Geschenk, für das man dankbar sein sollte.

27 Einer von Marseille, den ich kannte, erzählte mir einmal von einer Freundin, die ihn verlassen habe: »Parce que tu sais: elle, je l’aimais. Et quand on aime, on respecte. Et quand on respecte, on ne baise pas. Alors c’est pour ça qu’elle a foutu le camp ...«

28 Der Theaterdichter muß außer dem Drama auch noch die Welt erfinden, in der es sich abspielt. Seit Ibsen haben sich zu viele mit der allerbanalsten begnügt: bürgerlichem Wohnzimmer, bürgerlichem Familienkreis. Dies ist die Szenerie, die sämtliche Zuschauer auch zu Hause vor sich haben. Muß man sie ihnen wirklich auch abends im Theater noch unter die Nase reiben? (Nach Besuch von Osborne’s »Epitaph für George Dillon«.)

29 Verehrter Herr Kraus,

Sie haben am Schlusse eines Ihrer Aphorismen geschrieben: »Daß über allen Gipfeln Ruh’ ist, begreift jeder Deutsche und hat gleichwohl noch keiner erfaßt.« Ohne Sie verbessern zu wollen, möchte ich Sie nun, wenn Sie gestatten, fragen: Könnte es nicht auch heißen: »... versteht jeder Deutsche und hat gleichwohl noch keiner begriffen«? Ihre Meinung darüber zu hören wäre mir wertvoll.

30 Das gehört auch zum Schreiben, daß man, sozureden, nur jedes sechste Wort sagt – eine Lücke frei lassend für die Phantasie. Schreiben ist auswählen.

31 ... die kleinen Boote, die plätschernd übers nächtliche Wasser Gedanken bringen.

32 Ist es nicht ein wesentliches Merkmal des großen Mannes, daß er groß ist im Erkennen seiner Grenzen? Daß er häufig sagt: »Ich weiß nicht; laßt uns überlegen (oder: nachschlagen)!«, wo andere längst eine Antwort gegeben hätten!

33 Anders: Unser Schulsystem fördert die Oberflächlichkeit; denn man lobt immer den, der zuerst die Antwort gibt; und sind es nicht gerade die großen Männer, die noch sagen: »Ich weiß nicht; laßt mich überlegen!«, wo andere längst eine Antwort bereit haben?

34 Wie wenn man Wasser im Ohr hatte, das nun getrocknet ist, und der Gehörgang auf einmal, ganz plötzlich, frei wird, so daß man viel klarer hört: so brechen die Tatbestände meines Innern in mein Bewußtsein, wenn ich sie bei einem Schriftsteller zum erstenmal dargestellt finde. Und meist empfinde ich gleichzeitig ein Erstaunen darüber, daß er sie kennt; wie wenn ich geglaubt hätte, sie kämen nur bei mir selber vor.

35 Ist es wirklich so, wie es öfters scheint, daß, wenn es einem Schriftsteller sehr ernst ist mit dem, was er sagen will, sein Werk darunter leidet? Ist nicht im Gegenteil erst der ein großer Schriftsteller, dem es so ernst ist, daß er jedes einzelne Wörtchen auf die Goldwaage legt? Oder ist einfach die Ausdruckskraft der Leute verschieden groß? In dem Fall müßte es aber doch der, dem es wirklich ernst war, merken, wenn er sich nicht hat ausdrücken können; und dann wenigstens die Veröffentlichung des inkongruent Ausgedrückten unterlassen; denn selbstredend schadet er damit seiner Sache.

36 Vielleicht wäre es für den schlechten Leser gut, wenn man das Geschriebene immer so darstellte, wie es Lessing in seiner »Erziehung des Menschengeschlechts« tut: Jeden Satz numeriert, als gesonderten Abschnitt; damit er merkt, daß in jedem etwas gesagt ist und daß da kein Füllwerk ist, das er einfach überspringen kann. (Es würde auch den Schreibenden zwingen, so zu schreiben, daß das wirklich der Fall wäre!)

37 Wie mancher Gedanke entsteht erst, wenn der vorhergehende, der ihn gezeugt hat, in Worte gefaßt ist! (Was die »Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« erklärt und auch: beim Schreiben und Lesen.) Woraus man folgern könnte, ein Gedanke sei erst zu Ende gedacht, wenn er formuliert ist! – Wer dieses Satzes absolut gewiß wäre, könnte damit vielen Scheintiefsinn aufs häßlichste entlarven.

38 Wenn ich sehe, welch ein Roman in jedem Straf- und manchem Zivilgerichtsdossier steckt, und zudem erwäge, wie viele solcher Akten es auf der Welt gibt, bin ich wirklich versucht, mit Ludwig Hohl die Romanform als überholt zu bezeichnen. Äußere Ereignisse, Lebensläufe, Liebesgeschichten können angesichts solcher niedergeschlagener Wirklichkeit einen Schriftsteller kaum noch interessieren. Es zeigt sich aber – auch darin hat Hohl recht –, daß das innere Geschehen unbegrenzt ist, unbegrenzt auch in seiner Faszinationskraft.

39 »Erwachsene«, wie wir sie uns als Kinder vorstellen, gibt es nicht. Es gibt nur Erstarrte – im schlechteren Fall – und Kinder.

40 Wie wichtig es beim Lesen ist, der Eitelkeit zum Trotz uns einzugestehen, daß wir etwas nicht verstanden haben, und es wieder zu lesen – bevor wir sagen: »Es ist unklar!« Vielleicht können wir nämlich dann sagen: Es ist falsch!

41 Wir können nicht unsicher genug sein. Das heißt: Das urteilende Ich muß das handelnde, sprechende, schreibende Ich unaufhörlich kontrollieren, wenn...



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